WM

Island bei der WM 2018 in Russland: Die Leichtigkeit des Andersseins

Von Jonas Rütten
Island bejubelt das Ausgleich gegen Argentinien bei der WM 2018.
© getty

Wer geglaubt hatte, dass Island als Feel-Good-Story der EM 2016 ein fußballerisches One-Hit-Wonder bleiben würde, wurde beim WM-Auftakt gegen Argentinien eines Besseren belehrt. Aber warum eigentlich? Seit Jahren hält die Professionalisierung im isländischen Fußball Einzug und der aktuellen Spielergeneration ist sowieso alles zuzutrauen.

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"Pfeif ab, pfeif ab!" Fast atemlos brüllt Gudmundur Benediktsson vor fast genau zwei Jahren den Schlusspfiff herbei. Island führt sensationell mit 2:1 im EM-Achtelfinale gegen England. Der Fußballzwerg schmeißt das Mutterland des Fußballs aus dem Turnier. Kann das wirklich wahr sein?

"Es ist vorbei! Wir fahren nach Paris. Ihr Engländer könnt so viel buhen, wie ihr wollt. Ihr könnt nach Hause fahren, ihr könnt Europa verlassen, ihr könnt gehen, wohin zur Hölle ihr auch wollt! Aber Island fährt jetzt zum Stade de France", entfährt es dem siegestrunkenen isländischen TV-Kommentator, als es tatsächlich soweit ist.


Das Wunder von Nizza am 27. Juni 2016 hatte drei unmittelbare Folgen für Island. Neun Monate nach dem Einzug ins EM-Viertelfinale verzeichnete Petur Porvaldsson einen Rekord an Neugeburten: "Habe an diesem Wochenende eine Rekordanzahl an Anästesien auf der Entbindungsstation gesetzt", twitterte der Arzt. Außerdem wuchs der Tourismus auf der Insel noch im selben Jahr um knapp 30 Prozent.

Die dritte Konsequenz ist die vielleicht wichtigste, wenngleich auch die Steigerung der Geburtenrate für den bevölkerungsärmsten WM-Teilnehmer aller Zeiten (knapp 340.000 Einwohner) ein nicht gänzlich zu vernachlässigender Aspekt des nationalen Fußball-Hypes sein dürfte. "Wow! Diego Maradona denkt über Island nach", sagte Torhüter Hannes Thor Halldorsson, nachdem die "Hand Gottes" vor dem WM-Auftakt seiner Argentinier prognostizierte, dass Island die Albiceleste sogar schlagen könne.

Das Standing der Isländer im internationalen Fußball hat sich verändert. Galten die Nordmänner zuvor noch als Fußballzwerg und Punktelieferant in den Qualifikationsrunden vor großen Turnieren, ist Island seit der Endrunde 2016 der personifizierte Favoritenschreck. Ein Weiterkommen bei der WM halten viele aufgrund der schweren Gruppe mit Argentinien und Kroatien dennoch für unmöglich.

Islands Torhüter Halldorsson entzaubert Lionel Messi: Hollywoodreif

Selbst im eigenen Land glauben die euphorisierten Anhänger nicht ans Achtelfinale. 72 Prozent der isländischen Bevölkerung rechnen mit einem Aus nach der Vorrunde. Und dennoch schalteten 99,6 Prozent aller Isländer am Samstag den Fernseher ein, um Zeuge des historischen ersten WM-Spiels ihres Landes zu werden. "Die anderen 0,4 Prozent waren auf dem Feld", kommentierte Alfred Finnbogason die verrückte Statistik nach dem Spiel.

Zwar war es der Augsburger Stürmer, der gegen Argentinien zum Ausgleich traf, doch der Garant für den Punktgewinn und späterer "Man of the Match" war Torhüter Halldorsson. Beim Stand von 1:1 hielt der 34-Jährige einen Strafstoß von Lionel Messi. Halldorsson, der erst mit 29 Jahren seinen ersten Profivertrag erhielt und eigentlich schon eine Karriere als Filmemacher eingeschlagen hatte, im direkten Duell gegen einen der besten Fußballer aller Zeiten. Mehr Kontrast geht nicht.

"Hollywoodreif", schrieben die Sportgazzetten im Anschluss an das Remis über den gehaltenen Elfmeter, in Anlehnung an Halldorssons Laufbahn als Regisseur von Kurzfilmen, Dokumentationen und Werbespots. Für den Keeper wurde ein Traum wahr, wie er selbst hinterher bestätigte, doch er sei auch gut darauf vorbereitet gewesen.

"Ich wusste, dass die Situation kommen könnte und hatte mir viele von Messi verwandelte Elfmeter angeschaut. Er ist schwer zu durchschauen, aber ich hatte das sichere Gefühl, dass er diese Seite wählen würde", sagte Halldorsson. Halldorssons Karriere, die bis dato in dem großen Moment gegen Messi gipfelte, steht sinnbildlich für das, was sich im isländischen Fußball seit der Jahrtausendwende geändert hat.

Islands Weg zur WM 2018: Hu(c)h?! Sie sind wieder da

Es war der schleichende Prozess der Professionalisierung, der dem isländischen Fußball aus der Bedeutungslosigkeit verhalf. "In den vergangenen Jahren gab es große Veränderungen im Verband, was den finanziellen Bereich, die Trainingsstätten und die Trainerausbildung betrifft", erklärte der ehemalige isländische Bundesligaprofi Larus Gudmundsson gegenüber dem kicker.

Mussten die heutigen Profis Halldarsson und Finnbogason früher noch in der Jugend während der langen isländischen Winterzeit in Pferdehallen trainieren, gibt es heute Kunstrasenplätze und überdachte Anlagen mit Flutlicht. Alles rund um die Nationalmannschaft sei zwar professioneller geworden "und auf der Ebene der weltbesten Teams", allerdings habe Island auch die richtige Spielergeneration.

Tatsächlich gilt das Team um Gilfy Sigurdsson von Everton und Kapitän Aaron Gunnarson von Cardiff City als goldene Generation des isländischen Fußballs. "Wenn Gilfy und Aaron dabei sind, kann Island jeden Gegner schlagen", sagt Gudmundsson über das Potenzial der Nationalelf.

Die erste WM-Teilnahme ist daher eigentlich mehr eine logische Konsequenz aus der guten Verbandsarbeit und der Qualität des Kaders, als die vielzitierte Sensation. Aber sich in der "schwersten aller Gruppen" - wie Kapitän Gunnarsson die Quali-Gruppe I mit der Türkei, Kroatien und der Ukraine bezeichnete - als Tabellenerster durchzusetzen? Das glich dann doch einer faustdicken Überraschung.

Abschlusstabelle der WM-Quali-Gruppe I

PlatzMannschaftSpieleSiegeUnentschiedenNiederlagenTordifferenzPunkte
1Island10712922
2Kroatien106221120
3Ukraine10523417
4Türkei10433115
5Finnland10235-49
6Kosovo10019-211

 

Islands Trainer Hallgrimsson: Taktikbesprechungen an der Theke

Doch die Gegner bissen sich in der Qualifikation reihenweise die Zähne am kompakten und engmaschigem 4-4-2 der Isländer unter Trainer Heimir Hallgrimsson aus. Dieser hatte das Spielsystem von Vorgänger und Trainerkollege Lars Lagerbäck übernommen. "Das ist zunächst einmal ein Vorteil, weil jeder genau seine Rolle kennt. Die Laufwege, die Passwege, die Abstände zueinander hat jeder von uns verinnerlicht" sagte Finnbogason in einem Interview mit 11Freunde.

Der Coach habe die Mannschaft weiterentwickelt: "Wir können nun auch im 4-5-1 agieren und sind etwas flexibler", so der Stürmer des FCA. Hallgrimssons Umgang mit der Mannschaft ist kollegial, ja fast schon kumpelhaft. Ein Charakterzug, der auch innerhalb der Mannschaft gelebt wird. Der Kern der Spieler kennt sich seit Jugendzeiten.

"Fünf Jungs aus der isländischen Nationalmannschaft gehören zu meinen engsten Freunden überhaupt", sagte Finnbogason, angesprochen auf das soziale Gefüge innerhalb der Nationalelf. Die Musketier-Mentalität ist neben der kompakten Defensive und dem schnellen und zielstrebigen Umschaltspiel die größte Stärke der Isländer.

Aber auch der Schulterschluss mit den eigenen Fans, die in Frankreich mit den legendären Huh-Sprechchören die Massen begeisterten, ist nicht zu unterschätzen. Das weiß auch Hallgrimsson, der sich vor jedem Heimspiel der Nationalmannschaft in der stadionnahen Kneipe mit den Fans trifft und dort offen über Aufstellung und sein taktisches Konzept spricht. Das mache er seit sieben Jahren so und Hallgrimsson denkt gar nicht daran, das zu ändern.

Es ist dieses Anderssein, das Island einerseits jede Menge Sympathien einbringt und andererseits in den letzten Jahren so erfolgreich gemacht hat. "Wenn wir im ersten Spiel gegen Argentinien einen Punkt holen, ist alles möglich", prognostizierte Ex-Bundesligaprofi Atli Edvaldsson dem kicker. Vor dem Spiel gegen Nigeria (17 Uhr im LIVETICKER) sollte TV-Kommentator Benediktsson also schon mal seine Stimme ölen.

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