"Du dreckiger H****sohn": Die Wahrheit hinter dem größten WM-Skandal

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Die unzähligen Skandale rund um Frankreichs WM 2010 in Südafrika sind bereits zwölf Jahre her. Durch Nicolas Anelkas Netflix-Doku kam zuletzt Licht ins Dunkle. Bevor die Equipe Tricolore wieder in eine WM startet, beleuchten wir alle Details des Fiaskos.
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Nach dem Triumph 1998 und dem Vize-Titel 2006 macht sich Frankreich als vermeintlicher WM-Experte auf den Weg, sich für die Endrunde in Südafrika zu qualifizieren. Doch in der Gruppe landen les Bleus hinter Serbien und müssen in die Playoffs.
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Dort wartet Irland, das Frankreich im Hinspiel in Dublin dank eines Treffers von Stürmer Nicolas Anelka mit 1:0 bezwingt.
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Im Rückspiel im Stade de France schockt Robbie Keane dann jedoch die Franzosen in der ersten Hälfte - eine Entscheidung soll die Verlängerung bringen.
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Anelka verriet im Nachhinein in einer Netflix-Doku über ihn: "Ich hatte den Plan, nach der WM aufzuhören. Wenn wir uns nicht qualifiziert hätten, wäre das mein und Thierrys [Henry] letztes Spiel [für Frankreich] gewesen. (…) Wir wollten nach Südafrika."
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In der Nachspielzeit sorgt Henry für den Eklat: Nach einem Freistoß legt er sich den Ball völlig offensichtlich mit seiner linken Hand zurecht, um dann zu William Gallas zu passen - der versenkt den Ball und schickt Frankreich nach Südafrika.
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"Die Hand Gottes", titelt die L‘Équipe. Le Parisien ("Das Unwohlsein") und Le Figaro ("Das ist kein Fuß“) zeigen etwas mehr Scham. Henry gesteht: "Es war ein Handspiel. Aber ich bin nicht der Schiedsrichter. Der hat das Tor gegeben."
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Anelka kommentiert später: "Bei Maradona war es die Hand Gottes, bei Henry war es quasi ein Verbrechen." Die gesamte irische Nation wütet daraufhin wochenlang und fordert vehement ein Wiederholungsspiel, das es nicht geben wird."
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In einer Online-Umfrage der Zeitung Le Monde sagen 89 Prozent von 38.000 Lesern, dass Frankreich die WM-Qualifikation nicht verdient habe.
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Nationaltrainer Raymond Domenech möchte sich nicht mit dem Eklat auseinandersetzten und fordert die Journalisten auf, ihn "die Qualifikation genießen" zu lassen. Es sollte nicht sein letzter Fehltritt als französischer Nationaltrainer gewesen sein.
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Schon die Testspiele in Tunesien unter seiner Leitung verlaufen kläglich: Er vercoacht sich bitterböse bei einem 1:1 gegen Tunesien und einer 0:1-Niederlage gegen China. Anelka: "Wir versuchten mit ihm zu reden, aber er wollte bei seinem System bleiben."
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Schon nach diesen Resultaten rumort es innerhalb der Gruppe. Evra berichtet später über Anelka: "Er sagte, er wolle die Nationalmannschaft verlassen. Ich sagte zu ihm: 'Hör auf mit dem Quatsch!' Er meinte nur: 'Das wird völlig schiefgehen!'"
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Nach Südafrika mit nimmt Domenech ein Team voller zahlreicher Altstars und klangvollen Namen: Lloris, Sagna, Abidal, Gallas, Evra, Ribery, Gourcuff, Toulalan, Diaby, Gouvou, Anelka und eben Henry sind unter anderem dabei.
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Im südafrikanischen Camp in Knysna verstehen sich die Franzosen unterschiedlicher Herkunft prächtig, lachen viel zusammen. Anelka: "Wir wussten, dass wir großartige Spieler in unseren Reihen haben und etwas Großes erreichen können."
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Das Turnier beginnt für Frankreich am 11. Juni 2010 in Kapstadt – und einem 0:0 gegen Uruguay, das noch bis ins Halbfinale kommen sollte. Bei diesem Spiel missachtet Stürmer Anelka jedoch Anweisungen von Domenech, lässt sich oft weit zurückfallen.
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Weiter geht es am 17. Juni in Polokwane, gegen Mexiko muss ein Sieg hier. Zur Halbzeit steht es jedoch erneut nur 0:0.
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Anelka erzählt: "Ich ging in der Halbzeit frustriert in die Umkleide. Ich dachte mir: 'Ich bekomme keine Bälle zugespielt.' Dann kam der Trainer herein und rief meinen Namen. Als er meinen Namen sagte, kam einfach all meine Frustration aus mir heraus."
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Weiter: "Ich habe nicht eingesehen, dass ich der Sündenbock sein sollte. Als wäre ich Staatsfeind Nummer 1, als wäre alles meine Schuld. Ich fühlte mich angegriffen." Weitere Worte folgen – doch welche? Anelka wird von Domenech ausgewechselt.
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Frankreich verliert ohne Anelka mit 0:2 gegen Mexiko und braucht nun gegen Gastgeber Südafrika im letzten Gruppenspiel einen Sieg mit vier Toren Abstand, um sich doch noch für das AF zu qualifizieren - doch darüber spricht am nächsten Tag niemand.
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In der Anelka-Doku erzählt 2020 ein Journalist, dass er dem Stürmer am Abend eine Nachricht zu seinem Verhältnis zum Trainer gesendet habe – und die Titelseite der französischen Sport-Tageszeitung L‘Équipe.
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Auf der stand am 19. Juni 2010: "F**d dich, du dreckiger H****sohn" – Worte, die Anelka in der Halbzeit gegenüber Domenech geäußert haben soll, wie die Zeitung behauptet.
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Die Story wird zur Staatsaffäre und sogar Präsident Nicolas Sarkozy schaltet sich ein: "Wenn die Berichte stimmen, ist das völlig inakzeptabel!"
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Anelkas Mitspieler Patrice Evra und Eric Abidal bitten Domenech folglich zum Gespräch, doch der taucht nicht auf, ist für die Spieler nicht auffindbar. Dann die Hammer-Nachricht: Anelka wird vom Verband vom Turnier ausgeschlossen!
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Domenech bestätigt gegenüber der Öffentlichkeit, dass L’Équipe Recht habe und Anelka diese Worte getätigt haben soll – doch der Stürmer dementiert das komplett - wer hat nun Recht?
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Praktisch keine Menschenseele zweifelt zu dieser Zeit an der Richtigkeit der Zitate, die L’Équipe auf seine Titelseite geschmissen hat. Niemand hinterfragte, ob diese Aussagen je getätigt wurden: Wer war nun wirklich der Täter und wer das Opfer?
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Doch später berichtet Mitspieler William Gallas: "Zu keinem Zeitpunkt sind derartige Wort gefallen!" Auch Evra stellt sich quer: "Sie können uns gerne beschimpfen, schreiben, dass wir schlecht spielen – aber so etwas zu schreiben, das geht zu weit!"
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Anelka selbst schildert zudem zum Bild auf der Titelseite: "Die Fotos wurden so zusammengesetzt, dass es aussah, als wollte ich ihn schlagen – dabei saß ich und er stand, als wir sprachen."
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Karim Nedjari, Direktor Sport Canal+, versuchte eine Erklärung zu finden: "Knysna war ein Mediendesaster! Die Journalisten waren zusammengepfercht, tranken alle abends zusammen in der selben Bar. Man brauchte eine brandheiße Story."
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Am Abend des Tages der L’Équipe-Story besprechen sich alle Spieler. Anelka: "Die Jungs meinten dann, wie unfair das sei und dass sie etwas tun wollten." Sie planten den wohl größten Eklat in der Geschichte des französischen Fußballs.
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Die französischen Spieler boykottierten das Training. Sie wollten ursprünglich gar nicht erst aus dem Mannschaftsbus steigen, um auch den wartenden Journalisten aus dem Weg zu gehen. Doch sie entscheiden sich spontan, immerhin Autogramme zu geben.
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Domenech stellt sich daraufhin vor den Mannschaftsbus und liest den Journalisten eine Nachricht der Spieler auf einem Zettel vor: "Die französische Nationalmannschaft stellt sich hiermit gegen die Entscheidung des französischen Fußballverbands, …
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… Nicolas Anelka von der Teilnahme der WM auszuschließen." Der Versuch eines Klärungsversuchs sei vonseiten des Trainers ignoriert worden. So wollen alle Spieler heute nicht trainieren - Domenech schmeißt den Zettel auf den Boden, dreht sich um und geht.
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Der Fitnesscoach versucht danach auf dem Trainingsplatz, Evra anzugreifen, wird daran aber gehindert. Anschließend wird er seine Pfeife in die Ferne. Teammanager Jean Louis Valentin erklärt folglich seinen Rücktritt.
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Anelka kommentiert später: "All das wurde von Kameras aufgenommen. Was für ein Zirkus!" Nichts war es mehr mit dem Leitmotto des Teams: "Alle gemeinsam für einen neuen Traum in blau". Le Parisien titelt: "Die Meuterei".
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Erneut schaltet sich die höchste Politik des Landes ein, Gesundheits- und Sportministerin Roselyne Bachelot flucht: "Die Spieler verhalten sich wie unreife Bengel!"
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Vor dem alles entscheidenden Spiel gegen Südafrika am 22. Juni 2010 trainiert die Equipe Tricolore also nicht. Fitness-Coach Robert Duverne fragt, wie "man gegen Südafrika vier, fünf Tore schießen will, wenn man nicht vorher einstudiert, wie das geht."
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Und Duverne behält recht, die Spieler gehen bei einer peinlichen 1:2-Niederlage gegen Südafrika unter, Führungsspieler Yoann Gourcuff muss früh mit einer roten Karte vom Platz.
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Die Folgen: Anelka verklagt die L‘Equipe am 19. Juli 2010 wegen übler Nachrede.
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1. Juli 2011, Urteil: "Die Wahl der Titelseite (…) fällt in den Raum journalistischer Redefreiheit. Dies darf durchaus mit Übertreibungen und sogar Provokationen einhergehen."
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Das bedeutete praktisch, dass Medien nach einer Auseinandersetzung dritter, diesen irgendwelche Worte in den Mund legen können. Ohne dafür eine Strafe fürchten zu müssen.
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Domenech gesteht 2018: "Er hat definitiv nicht das gesagt, was in der Zeitung stand. Ich sagte zu ihm in der Halbzeit: 'Nico, bleib auf deiner Position!' Er hatte einen Schuh in der Hand, warf ihn auf den Boden und sagte: ...
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... Kümmere dich selbst um dein scheiß Team.'" Das Spiel gegen Mexiko sollte nach 69 Länderspielen Anelkas letzter Einsatz sein – er hatte die Katastrophe schon vor der WM kommen sehen. Er dachte allerdings, sie würde sportlicher Natur sein.
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