Manipulationsskandal: Das böse Erwachen

Von Fatih Demireli
Fenerbahce-Präsident Aziz Yildirim steht im Zentrum des Manipulationsskandals
© Imago

Der Manipulationsskandal im türkischen Fußball ist von gigantischer Tragweite: Jeden Tag tauchen neue Details auf und schon jetzt spricht man von einer neuer Zeitrechnung. Die Aushängeschilder der Süper Lig werden verdächtigt, im großen Stile manipuliert zu haben. Meister Fenerbahce und vielen anderen Klubs drohen historische Konsequenzen.

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Für Professorin Zerrin Yigit war das ganze Durcheinander kein Neuland. So ziemlich jeder halbwegs prominente Patient mit Herzbeschwerden gastiert regelmäßig bei der Spezialistin und Chefärztin der renommierten Uni-Klinik für Kardiologie in Istanbul.

Die Justizbehörden vertrauen Dr. Yigit, wenn (besonders wichtige) Verdächtige in Vernehmungen Herzprobleme angeben und untersucht werden müssen. So wie zuletzt Autor und Universitätsdirektor Mehmet Haberal, einer der Hauptverdächtigen im "Ergenekon"-Prozess, der die Türkei seit geraumer Zeit in Atem hält.

"Die Türkei wird ein richtiger Rechtsstaat"

Am Dienstag schickten die Ermittler nun Aziz Yildirim zur Dr. Yigit. Der Präsident von Fenerbahce, der am Sonntagmorgen um 7 Uhr aus seiner Villa abgeholt wurde, leidet an hohem Blutdruck, Zucker, aber vor allem an Herzproblemen und musste am Dienstag in die Angiographie. "Wir haben eine 30-prozentige Verengung der Gefäße festgestellt, aber es gibt keinen Grund einzugreifen", so Dr. Yigit.

Für sie war der Fall Aziz Yildirim eigentlich damit abgeschlossen, doch die besonderen Umstände verleiteten auch die Promi-Medizinerin zur Kundgebung ihrer persönlichen Meinung: "Die Türkei wird ein richtiger Rechtsstaat."

Diese These hat seit Sonntag Hochkonjuktur am Bosporus. Der wohl größte Manipulationsskandal der türkischen Sport-Geschichte hat noch im Verdachtsstatus eine neue Zeitrechnung eingeleitet. Jahrelang wurde gemunkelt, gemutmaßt, aber passiert ist nie etwas.

Verdacht: Manipulation im großen Stil

Damit ist jetzt Schluss: Ein Großteil der Medien ist sich sicher, dass es sich um den größten Kriminalfall der Geschichte handelt.

Der Verdacht: Der Spitzenklub Fenerbahce soll im großen Stile Spiele der Süper Lig manipuliert haben, um die 18. Meisterschaft unter Dach und Fach zu bringen. Als mutmaßliche Drahtzieher wurden Präsident Aziz Yildirim, Vizepräsident Sekip Mosturoglu und Vorstandsmitglied Ilhan Eksioglu festgenommen.

Auch viele weitere Namen wie die Fenerbahce-Neuzugänge Emmanuel Emenike, Sezer Öztürk, Eskisehirspor-Trainer Bülent Uygun und Sportdirektor Ümit Karan, Sivasspor-Präsident Mecnun Odyakmaz und Sivasspor-Torhüter Korcan Celikay wurden festgenommen.

Neues Sportgesetz

Insgesamt beläuft sich die Zahl der Festnahmen bisher auf 50. Die aktuellen Entwicklungen geben jedoch klare Hinweise darauf, dass die Festnahmen in den nächsten Tagen und Wochen wohl um ein Vielfaches steigen werden. "Eines ist klar: Es wird nichts mehr so, wie es einmal war im türkischen Fußball", sagt Journalist Bagis Erten.

Dass die Justizbehörden und die Polizei in diesem Maße ermitteln, ist vor allem dem neuen Sportgesetz zu verdanken, das am 14. April 2011 in Kraft getreten ist. Erst seitdem gelten Manipulationen im Sport offiziell als Verbrechen - mit weitreichenden Sanktionen.

Die breitangelegte Berichterstattung, aber auch der immense - und teilweise für Verwirrung sorgende - Informationsfluss lassen viel Raum für Spekulationen. Zwar gibt die türkische Polizei offiziell keine Informationen an die Öffentlichkeit, aber die ersten Bruchstücke der Beweise, die zu den Medien durchgedrungen sind, lassen die gigantische Tragweite des Manipulationsskandals nur erahnen.

Unterwegs mit dem Koffer

Fußballer, Funktionäre und Co. beim Austausch von horrenden Geldbeträgen in schwarzen Koffern: Extrem klischeehaft, aber wohl auch bitterer Ernst. Dass es im türkischen Fußball nicht mit rechten Dingen zugehen soll, wurde immer wieder gemunkelt und ist - wie in vielen anderen Ländern - ein Dauerthema bei den Fans.

Dass es jetzt dafür offenbar Beweise gibt, dass die Aushängeschilder des türkischen Fußballs in Verdacht stehen, im großen Stile manipuliert zu haben, ist dennoch ein Schockerlebnis.

Viele Ereignisse haben nach den Festnahmen am Sonntagmorgen eine neue Dimension gewonnen. Der fatale Fehler von Korcan Celikay, der beim 3:4 von Sivasspor am letzten Spieltag gegen Fenerbahce zum zwischenzeitlichen 2:1 des späteren Meisters führte, wurde damals noch als tragischer Fehler eines jungen Torhüters abgetan.

Anruf beim Hodscha

Heute sitzt Korcan in U-Haft. Die Zeitung "Radikal" berichtet, dass der Torhüter für seine "Leistung" ein neues Auto bekommen hat. Tragikomische Züge hat der Fall Ibrahim Akin. Laut "Hürriyet" sollen dem Stürmer von Istanbul Büyüksehir Belediye Spor 100.000 Dollar versprochen worden sein, wenn er beim Gastspiel gegen Fenerbahce (1:3) nicht trifft.

Der gläubige Akin soll daraufhin einen Hodscha kontaktiert haben, um abzustecken, ob der Islam die Annahme eines solchen Angebots erlaubt. Der offenbar windige Glaubensvertreter soll dies bejaht haben. Unter der Bedingung, den Geldbetrag in Euro zu bekommen, soll Akin infolgedessen zugesagt haben.

Der Name des Stürmers, der in diesem Sommer bei den großen Klubs auf der Transferliste stand, fiel inzwischen auch in einem anderen Zusammenhang. Wie "Hürriyet" berichtet, soll auch Besiktas-Vorstandsmitglied Serdal Adali Akin kontaktiert haben. In diesem Gespräch soll Adali Akin versprochen haben, ihn zu Besiktas zurückzuholen, wenn er im Pokalfinale nicht trifft.

Auch Trabzonspor im Visier

Akin traf in diesem Spiel, das später Besiktas nach Elfmeterschießen gewann, und Adali hat sämtliche Vorwürfe zurückgewiesen: "Ich habe mit ihm gesprochen, aber das war ein ganz normales Transferangebot. Ich habe auch mit Büyüksehir-Präsident Göksel Gümüsdag gesprochen."

Gegen Besiktas und Adali wurden bisher keine Ermittlungen aufgenommen. Die Polizei konzentriert sich derzeit vornehmlich auf das mutmaßliche Netzwerk von Fenerbahce und den anderen Klubs. Auch Vizemeister Trabzonspor soll im Visier der Ermittler stehen. Der Schwarzmeerklub soll erwogen haben, eine Manipulation von Gegnern vorzunehmen, jedoch ohne Erfolg.

Pikant ist, dass sich die Ermittlungen nicht nur auf Manipulation sportlicher Veranstaltungen beschränken. Der Fall ist längst in den Händen der Sonderermittler für "organisiertes Verbrechen": Der sportliche Aspekt ist nur noch ein Teil von vielen Vorwürfen.

Zwangsabstieg und Titelaberkennung?

Fenerbahces Präsident Yildirim soll, so heißt es in den türkischen Medien, mit 15 verschiedenen Anklagepunkten zu rechnen haben. Während Yildirim somit mehr ein Fall für die Justiz als für den türkischen Fußballverband ist, konzentriert sich das Interesse der breiten Öffentlichkeit auf das, was möglicherweise bevorsteht.

Die Spekulationen reichen von Punktabzug bis hin zu Zwangsabstieg mehrerer Klubs. Unendlich Zeit kann insbesondere der Fußballverband nicht in Anspruch nehmen. Am 15. Juli muss der Verband bei der UEFA die Vertreter der Süper Lig für die Champions League melden.

"Wir werden rasch handeln!"

"Wir haben einen zeitlichen Engpass und das wissen wir. Wir haben gegenüber der UEFA eine Verantwortung, der wir entsprechen müssen", sagt der neue Verbandspräsident Mehmet Ali Aydinlar. "Wir müssen uns auf die Beweise stützen und werden entsprechend rasch handeln."

Der Informationsaustausch mit den Behörden läuft auf Hochtouren. Sollten sich die Vorwürfe der Manipulation bestätigen, wird Fenerbahce aller Voraussicht nach der Titel aberkannt. Die Gesetze sehen auch einen Zwangsabstieg vor. Doch auch andere Klubs, die in den Fokus der Ermittler geraten sind, müssen mit schweren Konsequenzen rechnen.

Fenerbahces Trainer Aykut Kocaman will die Vorwürfe nicht wahrhaben: "Man kann den Sumpf nicht nur mit einem Klub sauber machen. Die Ermittlungen sollen bis 1958 zurückgehen. Wir haben unsere Spiele alle rechtens gewonnen."

Transfers gestoppt

Aus sportlicher Sicht ist die derzeitige Situation für Fenerbahce dennoch fatal: Die Profi-Mannschaft steht seit einer Woche im Training, doch der Klub hat inzwischen alle Transferaktivitäten gestoppt. Nach Informationen von "Milliyet" sollen sich Spieler wie Alex über ihre Zukunft Gedanken machen.

Auch finanziell gestaltet sich der Schaden jetzt schon immens: Die Fenerbahce-Aktie schmolz an der Istanbuler Börse von umgerechnet 30,32 Euro auf 24 Euro - Tendenz weiter stark fallend. Der Gesamtwert der Aktien sank damit an nur zwei Tagen um 146 Millionen Euro.

Unabhängig vom Ausgang der Ermittlungen gilt es als sicher, dass die Ära Aziz Yildirim zu Ende ist. Der mächtigste Vereinsboss des Landes wird auch im Falle eines Freispruchs kaum im Amt bleiben können.

Mit einer großen Portion Sorge verfolgt Premier Minister Recep Tayyip Erdogan die Geschehnisse. Der bekennende Fenerbahce-Fan sprach den Ermittlern seine vollste Unterstützung zu, hofft aber auf ein glimpfliches Ende: "Hoffentlich gibt es kein böses Erwachen." Schwer zu glauben, dass es nicht so kommen wird...

Die Abschlusstabelle der Süper Lig

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