Anatoliens Aufstand

Von Fatih Demireli
Eine Tradition: Trabzonspors Spieler feiern jeden Sieg mit dem Kolbasti-Tanz
© Imago

Der Blick auf die Tabelle genügt: Trabzonspor und Bursaspor stehen erneut an der Spitze der Liga - Kayserispor ist auf Tuchfühlung. Der türkische Fußball steckt im Wandel. Eine absolute Vorherrschaft der Istanbuler Klubs Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray gibt es längst nicht mehr. Selbst die Nationalmannschaft ist davon betroffen. Die Istanbuler erkennen die Zeichen der Zeit und gehen neue Wege.

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Sadri Sener ist eine Frohnatur. Trabzonspors Präsident könnte von einer schmerzlichen Wurzelbehandlung beim Zahnarzt erzählen und hätte dennoch ein fröhliches Lächeln im rundlichen Gesicht. Derzeit lächelt Sener vermutlich sogar im Tiefschlaf. Sein Klub ist Tabellenführer der Süper Lig und Topfavorit auf die Herbstmeisterschaft.

Sener zügelt aber seine Freude: "Wissen Sie was", sagt er, "Adnan Polat ist ein guter Freund von mir und er tut mir sehr leid. Deswegen kann ich mich nicht so richtig freuen."

Polat ist Präsident vom 17-maligen Meister Galatasaray. Der wohlhabende Unternehmer ist ohnehin keine Frohnatur à la Sener, aber viel zu lachen hat er derzeit ohnehin nicht. Galatasaray ist Zehnter der Süper Lig und ist den Abstiegsrängen inzwischen alarmierend nahe gekommen.

"Die Liga rückt näher zusammen"

Die Meisterschaft, die vor jeder Saison traditionell als Mindestziel ausgerufen wird, ist längst kein Thema mehr. "Es wäre gut, wenn wir im Pokal weiterkommen und vielleicht die Europapokalplätze erreichen", sagt Polat heute. Ein Offenbarungseid? Durchaus. Ein Ausnahmezustand? Mitnichten.

Galatasarays letzter Titel liegt zwei Jahre zurück, Erzrivale Fenerbahce wartet sogar schon drei Jahre auf eine Trophäe. Auch wenn Feners aktueller Absturz nicht ganz so heftig ausgefallen ist wie der von Gala liegt man auch in diesem Jahr schon wieder sechs Zähler hinter dem Tabellenführer.

Statt Galatasaray, Fenerbahce und Besiktas, das sich immerhin mit Guti und Quaresma verstärkt hat, mischen die Liga neben Trabzonspor erneut Meister Bursaspor und Kayserispor auf - wie schon in den letzten zwei Jahren; Sivasspor schaffte 2008 fast das Wunder, scheiterte aber am letzten Spieltag.

"Mittlerweile ist es kein Zufall mehr, dass Klubs außerhalb von Istanbul so weit oben platziert sind. Die Liga rückt näher zusammen", sagt Kayserispors Selim Teber im Gespräch mit SPOX.

Meilenstein: Bursaspors Meisterschaft

Den entscheidenden Meilenstein beim Aufstand der Anatolien-Klubs legte im vergangenen Jahr Bursaspor mit dem ersten Titel eines Nicht-Istanbul-Klubs seit 1983 (Trabzonspor). "Jeder Klub, jeder Fußballer hat dank unseres Titels gemerkt, dass es keine Utopie ist, an die Spitze des türkischen Fußballs zu gelangen", sagt Bursaspors Trainer Ertugrul Saglam. Von einem "wichtigen Zeichen für die kleineren Vereine" spricht Teber.

Allen voran für Kayserispor, das schon im Meisterjahr Bursaspors lange oben mitspielte, ist der Titel des Kontrahenten ein wichtiger Fingerzeig. Mit der tollen Infrastruktur, den finanziellen Möglichkeiten, dem modernen Stadion und dem jungen Kader ist das langfristige Erfolgspotenzial Kayseris sogar höher anzusiedeln als das von Bursaspor.

Günes weckt den schlafenden Riesen

Der viel zitierte schlafende Riese ist Trabzonspor, das unter Klub-Legende Senol Günes zu einem ernstzunehmenden Titelkandidaten und nun eben auch zum Spitzenreiter gereift ist. Trabzonspor schlug in dieser Saison alle Istanbuler Klubs quasi im Vorbeigehen. "Wir haben uns diese Position hart erarbeitet. Wie viele Punkte Vorsprung wir auf die Istanbuler haben, interessiert mich nicht. Unser größter Titelrivale ist ohnehin Bursaspor", sagt der sonst so zurückhaltende Trainer Günes. Bursa als Titelrivale: Die Meisterschaft der Grün-Weißen im vergangenen Jahr war keine Eintagsfliege - dies beweist die aktuelle Saison.

Bursa ist aktuell Zweiter, hat sogar einen noch besseren Saisonstart hingelegt als in der Meistersaison. "Natürlich wollen wir unseren Titel verteidigen. Dieses Selbstverständnis ist bei jedem im Klub da", sagt Trainer Saglam. "In der Liga deutet sich an, dass sich etwas grundlegend an den Machtverhältnissen verändert", sagt Kayseris Teber.

Istanbuler üben Schulterschluss

Selbst die Nationalmannschaft hat diese Entwicklung erreicht. Nationaltrainer Guus Hiddink machte Schluss mit dem Nominierungsgrundsatz, wonach den Istanbuler Klubs der Vorzug zu geben ist und Spieler aus Anatolien lediglich dazu dienen, freie Plätze im Kader zu füllen. "Wir werden das Gesicht der Nationalmannschaft verändern", sagte Hiddink.

Beim letzten Testspiel im November gegen die Niederlande tummelten sich Spieler aus Kayseri, Bursa, Trabzon und Manisa in der Mannschaft und überzeugten. Viele Istanbuler Stars blieben zuhause und müssen sich ernsthafte Sorgen um ihre Zukunft bei der "Milli Takim" machen.

Unter dieser Entwicklung leidet die Vormachtsstellung der Istanbuler Klubs. Teilten sie sich früher den großen Kuchen untereinander auf, so begehrt Anatolien nun auf. Die Gefahr von allen Seiten ist allgegenwärtig und lässt die Istanbuler neue Wege gehen.

War es früher noch ein Ding der Unmöglichkeit, dass beispielsweise Präsidenten von Galatasaray und Fenerbahce Seite an Seite gesichtet werden, sind Galas Polat und Fenerbahces Boss Aziz Yildirim inzwischen beste Freunde. Das Duo zeigt sich bei jeder Gelegenheit demonstrativ im Schulterschluss.

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"Das ist keine Revolution"

Bei der Fan-Gefolgschaft kommt dies nicht immer an, aber Polat, Yildirim und Co. haben die Zeichen der Zeit erkannt und reklamieren ihren Anteil am Aufstieg der Underdogs: "Galatasaray und wir sind sehr opferbereit. Wir könnten außerhalb der zentralen Vermarktung das doppelte Geld verdienen, aber wir zeigen uns solidarisch mit Anatolien und die Erfolge dieser Klubs sprechen für sich. Dennoch darf keiner die wahren Lokomotiven unseres Fußballs vergessen", sagt etwa Fenerbahces Präsident Aziz Yildirim.

Ein neues Zeitalter im türkischen Fußball sieht Yildirim nicht: "Das ist längst keine Revolution, sondern eine Krise der Istanbuler", sagt er. Galatasaray-Präsident Polat geht noch viel weiter: "Wir müssen die Qualität des türkischen Fußballs anheben, sonst wird das für alle nichts. Schade, was mit Bursaspor in der Champions League passiert ist." Der Seitenhieb ist nicht zu überhören.

Der Weg zum Wandel im türkischen Fußball ist ein längerer Prozess, der sicherlich kein Produkt des Zufalls ist. Auch wenn die positiven Ergebnisse auf internationaler Bühne ausbleiben und beispielsweise Bursaspor aktuell eine blamable Champions-League-Saison hinlegt, entwickelt sich der türkische Fußball insgesamt in eine positive Richtung. Womöglich werden die Ergebnisse erst in den kommenden Jahren zu sehen sein, aber Leistungsdichte und Niveau entwickeln sich rasant. Mehrere Faktoren spielen dabei eine Rolle. Sie lauten...

...Geld:

Der seit Saisonbeginn geltende TV-Vertrag mit dem Pay-TV-Sender LigTV umfasst eine jährliche Summe von 321 Millionen Dollar. Damit rangiert die Süper Lig europaweit hinter England, Spanien, Italien und Deutschland auf Platz fünf. Weitere Millionen kommen hinzu vom Staatssender TRT, der exklusiv die Ausschnitte der Ligaspiele zeigt, und von der staatlichen Lotterie Spor Toto, die auch der Namensgeber der Liga ist.

Anstatt die hohen Einkünfte planlos auszugeben, investieren immer mehr Klubs in ihre Infrastruktur. In der Süper Lig sind zahlreiche neue Stadien im Bau oder in Planung. Auch die Bewerbung für die EURO 2016 (Zuschlag an Frankreich) spielte da eine wichtige Rolle. Für 2020 plant der türkische Verband zudem einen weiteren Versuch. Dann sollen in Bursa, Kayseri, Eskisehir, Antalya und Trabzon schon längst neue Arenen stehen. Doch das ist nicht alles. Kayseri hat eine der modernsten Trainingsanlagen der Türkei, Antalya zieht bald nach. Die Kluft zu den Istanbuler Klubs schließt sich im Kern von Jahr zu Jahr.

...Selbstvertrauen:

Früher war es Selbstverständlichkeit: Ein Anatolien-Klub kommt nach Istanbul, holt sich seine Packung oder, im Idealfall, eine knappe Niederlage ab, und fahrt nach Hause. Das war einmal. "Den vermeintlich kleineren Klubs schlottern die Knie nicht mehr", erzählt Teber. "Sie trauen es sich zu, gegen die Istanbul-Klubs zu gewinnen. Sie fahren nicht mehr hin und denken sich nur: 'Hoffentlich kriegen wir keine Klatsche.'"

Dem Ex-Bundesliga-Profi fällt die Entwicklung besonders deutlich auf, weil er schon 2001 für Denizlispor in der Süper Lig spielte und eben seit Beginn dieser Saison wieder. Auch Milan Stepanow, der 2006 bei Trabzonspor unter Vertrag stand und nach verschiedenen Stationen in Europa seit Anfang der Saison bei Bursaspor spielt, fiel ähnliches auf: "Der Unterschied zu den Istanbulern ist nicht mehr so krass wie damals. Die Liga hat sich gewaltig verändert. Früher waren die Istanbuler in allen Belangen überlegen, jetzt spielen auch andere mit den gleichen Waffen."

Agierten die Gastmannschaften früher in Istanbul noch mit einer extremen Mauertaktik, setzt die neue Trainergeneration auf Offensive. Das Selbstvertrauen kommt nicht von ungefähr: Viele Trainer wie Ertugrul Saglam, Mehmet Özdilek, Abdullah Avci oder Bülent Uygun gehören zur Spielergeneration in den 90er Jahren, die die ersten - auch internationalen - Erfolge im türkischen Fußball feierte. Sie übertragen dieses Selbstvertrauen heute auf ihre Mannschaften. Als Ertugrul Saglam Bursaspor 2008 als Abstiegskandidat übernahm, sprach er bei seiner ersten Pressekonferenz von der Meisterschaft und wurde dafür ausgelacht - das Ende der Geschichte ist bekannt.

...Transfers:

Die Befürchtung vieler Experten, dass die türkischen Klubs mit den neuen hohen Einnahmen nicht zurecht kommen würden, hat sich nicht bewahrheitet. Gerade die kleineren Klubs haben nach europäischem Vorbild Scoutingabteilungen eingerichtet, die bei Spielerkäufen wichtigen Input liefern. "Ich hole keinen Spieler, der vielleicht in einem Jahr wieder weg ist", sagt Kayseris Trainer Shota Arveladze bei SPOX. Stattdessen tummeln sich bei Kayserispor einige Spieler, die gerade mal Anfang 20 sind. Unterstützt werden sie von erfahrenen Kräften wie dem ehemaligen Wolfsburger Jonathan Santana, Ex-Serie-A-Spieler Marcelo Zalayeta oder eben Selim Teber.

Letzterer gehört aktuell zu den besten Spielern der Liga. Kein Istanbuler Klub hat daran gedacht, Teber zu holen, obwohl bei fast allen im offensiven Mittelfeld Bedarf besteht, weil ein 29-Jähriger, der zuletzt in Frankfurt und Hoffenheim kickte, den verwöhnten Fans schwer zu vermitteln ist. Viel lieber kaufen die Klubs große Namen ein.

Dass das Konzept nicht aufgeht, beweist vor allem Galatasaray: Keita, Elano, Jo, Giovani Dos Santos, Leo Franco und Co. wurden gefeiert wie Helden, sind aber längst wieder weg. Fenerbahce schleppt seit zwei Jahren Dani Güiza mit, obwohl man den Spanier längst loswerden will. Doch Güiza denkt nicht daran, auf sein üppiges Gehalt zu verzichten. Ähnliche Probleme hat seit Jahren auch Besiktas.

Da die vermeintlich großen Namen selten große Leistungen bringen, gibt es fast im Halbjahres-Takt einen neuen und vor allem kostspieligen Umbruch. Galatasaray-Präsident Adnan Polat kündigte erst am Mittwoch an, in der Winterpause vier neue Stars zu holen. Auch Fenerbahce und Besiktas haben ihre Fühler bereits ausgestreckt. Trabzonspor dagegen verzichtet: "Vielleicht holen wir einen Backup für den Angriff. Alles andere würde das Konzept durcheinander bringen", sagt Trainer Günes.

Konzept ist das Zauberwort des Aufschwungs Anatoliens. Professionelle Strukturen, Selbstvertrauen und die nötigen Mittel haben die bisher kleinen Klubs genutzt, um die Kluft zu den Großen zu verkleinern. Doch Bursaspor und Co. sehen sich noch nicht am Ziel ihrer Entwicklung: "Es reicht nicht ein einziger Meistertitel, um ein großer Klub zu sein. Wir müssen kontinuierlich um Titel spielen und diese auch holen. Dann sind wir auch groß", sagt Bursa-Kapitän Ömer Erdogan. Aber: "Momentan sind wir die Größten. Wir sind der amtierende Meister."

ALLES SÜPER: Gala-Krise bei WikiLeaks

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