Der Träumer und sein Erbe

Von Arne Behr
Cesar Luis Menotti führte die Albiceleste 1978 mit kreativem Offensivfußball zum Weltmeistertitel
© imago

Seine Theorie des linken und rechten Fußballs hat ihn als "Fußballphilosophen" mit politischem Impetus berühmt gemacht. Doch seine Visionen eines besseren und gerechteren Spiels muten im modernen, durchkommerzialisierten Fußballgeschäft utopisch und unzeitgemäß an. Dabei feiern die Ideen Cesar Luis Menottis in Europa gerade in den letzten Jahren eine wahre Renaissance.

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"Die weiten Pässe von Günter Netzer atmeten den Geist der Utopie", kleidete der Kulturkorrespondent Helmut Böttiger seine Faszination und Bewunderung für einen Spieler und seine Spielidee einst in recht metaphorische Gewänder. Eine Formulierung, die auch "El Flaco" sicherlich gefallen würde, falls er sie noch nicht kennt.

Der Dürre, das ist der Spitzname Cesar Luis Menottis, des schlaksigen, großgewachsenen Fußballfanatikers, dessen größter sportlicher Erfolg auch der seines Landes ist: 1978 führte er die Albiceleste im eigenen Land als Trainer zum ersten Weltmeistertitel.

Damals gründete sich auch der Mythos des "Fußballphilosophen" Menotti, der über den Sport eine gesellschaftlich-politische Botschaft vermitteln wollte. "Meine talentierten und klugen Spieler haben die Diktatur der Taktik und den Terror der Systeme besiegt", kommentierte er den Titel mit unverkennbarer Anspielung auf die Militärjunta, die das Land zur der Zeit fest im Griff hatte. Kurz zuvor hatte er Diktator Jorge Rafael Videla, der ihm nach dem gewonnenen Finale medienwirksam gratulieren wollte, den Handschlag verweigert.

Ordnung und Abenteuer

Menotti propagiert einen kreativen und phantasievollen Fußball, der dabei jedoch nie eine festgelegte Ordnung aus dem Auge lässt. Bezeichnenderweise bedient sich der Liebhaber der schönen Künste dabei einer Denkfigur des Schriftstellers Jorge Luis Borges: Dieser beschrieb die Literatur einst als Zusammenwirken von Ordnung und Abenteuer.

Auf den Fußball übertragen kann es nach Menotti Individualität und Kreativität des einzelnen Spielers nur aus einem festgelegten, ordnenden Gesamtschema heraus geben. Auf dem Rasen ist kein Platz für Selbstdarsteller, die das Wohl der Mannschaft und den übergeordneten Plan dauerhaft aus dem Auge verlieren. Artisten gehören für Menotti nicht aufs Fußballfeld, sondern "in den Zoo".

"Schön" ist "gut"

Die wesentliche Botschaft des Verhältnisses von Ordnung und Abenteuer, für die Menotti eintritt, wird deutlicher sichtbar, betrachtet man seine Definition aus dem angedeuteten ästhetischen Blickwinkel heraus. Die Tricks und Finten eines technisch begabten Spielers sind zweifelsohne hübsch anzusehen, unter Umständen können sie ein Spiel oder sogar ein Turnier entscheiden. Doch sie sind für Menotti nur in dem Maße "schön", in dem sie sinnvoll und zweckgebunden zum Einsatz kommen.

Gerne und oft führt er diesbezüglich auch den Vergleich mit der Musik an. Eine gute Fußballmannschaft gleicht demnach einem eingespielten Orchester. Neben den Violinen, das sind die spektakulären Künstler in der Offensive, muss es auch andere Elemente wie das Cello oder die Pauke geben, also Spieler, die vor allem dafür da sind, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Aber nur in Zusammenarbeit können sie das Gesamtkunstwerk bilden, auf das es wirklich ankommt.

System und Individuum

Das Bild der Mannschaft als Ensemble ist allerdings eines, das im modernen Fußball durchaus gängig, oder zumindest nicht ungewöhnlich und neu erscheint. Denn stehen nicht etwa Arrigo Sacchis AC Milan der Achtziger und frühen Neunziger oder die Mannschaften des knorrigen "Generals" Louis van Gaal exemplarisch für organisierten, aber dennoch spektakulären und erfolgreichen Offensivfußball?

Menotti selbst führt diese beiden Beispiele an, um vor diesem Hintergrund den entscheidenden Unterschied zu erläutern, auf den es ihm ankommt. Denn bei Trainern wie van Gaal oder Sacchi, so sein Vorwurf, gehe es bei aller Phantasie und Kreativität im Spiel letztlich darum, die Spieler einem bestimmten, von einzelnen Personen für gut befundenen Spielordnung unterzuordnen. Dies nennt er System.

Dieses System stellt sich jedoch über den Menschen und würdige diesen damit zu einem bloßen Erfüllungsgehilfen herab. So werde ihm die Möglichkeit zur persönlichen Entwicklung genommen. Der Fußball aber gehöre den Menschen und dürfe daher niemals zum Selbstzweck eines Systems werden.

Söldner des Punktgewinns

Spätestens hier weisen die Überlegungen des Fußballphilosophen Menotti freilich über die Grenzen des Sports hinaus. Er begreift den Fußball als ein "Fest", bei dem seine Protagonisten auf dem Feld ihren individuellen Ausdruck finden können. Fußball ist für ihn Kulturgut und identitätsstiftend: "Beim Fußball konnte ein Arbeiter seine eigene Sprache sprechen, schlau und listig konnte er eine Absicht vortäuschen und eine andere durchsetzen - und all dies mit Freude, Ungezwungenheit, Talent zur Schönheit und der Feinfühligkeit, um diese Schönheit zu genießen."

Nach Meinung Menottis verschwinden Werte wie Würde, Gerechtigkeit und Freude zunehmend aus dem Fußball, der immer mehr zu einem "utopiefreien" Nützlichkeitsbetrieb verkomme. Explizit politisch überhöht hat er seine Überlegungen denn auch in der Formel vom "linken und rechten Fußball" verpackt.

Rechter und linker Fußball

Rechten Fußball charakterisiert Menotti als ergebnisbezogen, uninspiriert und zweckendfremdet. Die Spieler werden in ein Systemkorsett gepresst, das in erster Linie dazu diene, die Phantasielosigkeit und mangelnde Inspiration seiner Vertreter zu verbergen. Der rechte Fußball sei hässlich, übertrieben körperbetont und denke einzig in ökonomischen Kategorien. Ihm sei jedes Mittel recht, um den Sieg zu erringen. So aber würden die Spieler zu reinen "Söldnern des Punktgewinns" degradiert.

Dementgegen steht der linke Fußball, bei dem der Mensch in den Mittelpunkt rückt. Er "feiert die Intelligenz, [...] schaut auf die Mittel, mit denen das Ziel erreicht wird, [...] fördert die Fantasie." Auf dem Grund einer betont einfach gehaltenen Ordnung kann der Trainer die Fähigkeiten und Potenziale seiner Spieler erkennen und seine Spielintelligenz stetig weiter entwickeln.

Fußball als Weltmetapher

Für Menotti gleicht der rechte Fußball einem Betrug am Spiel und an den Menschen, denen es gehört. Ohnehin könne man mit phantasielos errungenen Siegen die Herzen der Menschen nicht erreichen. Vielmehr gelte es, den Spielern durch Überzeugung, Klarheit und Charakter zu anzuleiten und ihn zu einem besseren Fußballer, aber auch zu einem besseren Menschen zu machen.

Nun mag man einwenden, dass doch Millionen Fans das Gegenteil beweisen, wenn sie über einen schmucklos ermauerten Sieg freuen? Nach Menotti-Lesart belegt dieses Phänomen vor allem die Macht einer "rechten" Fußball-Industrie, die das Spiel in seinem Wesen gewaltsam verändert und die Menschen zunehmend ihrer Instinkte beraubt.

Doch diese Mechanismen bleiben nicht auf den Sport beschränkt. Vielmehr lassen sich für Menotti so auch die großen gesellschaftlichen Zusammenhänge und Entwicklungen aufzeigen. Fußball ist hier nichts weniger als eine Metapher für die Welt.

Der linke Lebemann

Dass ein solcher Ansatz reichlich Angriffsfläche bietet, dürfte freilich auf der Hand liegen. Nicht zuletzt tendiert seine Theorie dazu, Kritiker automatisch in die Nähe eines Opfers oder sogar eines Komplizen der skizzierten "rechten" Vermarktungsmaschinerie zu rücken, was die Debatten zusätzlich verschärft haben dürfte.

Aber mit der politischen Äußerung vermischt sich unvermeidlich auch die schillernde wie umstrittene Persönlichkeit Cesar Luis Menottis. Vor allem im eigenen Land werfen Kritiker dem charismatischen Kettenraucher vor, nicht klar genug Stellung bezogen, sich nicht genug von der Militärjunta abgegrenzt zu haben. Die Beziehung zu Präsident Videla wird überdies als durchaus zweischneidig und bei weitem nicht so oppositionell gesehen, wie die von den in Europa begeistert aufgegriffenen Statements nach dem WM-Sieg vermuten lassen.

Menotti ist ein Intellektueller, ein Philosoph, Journalist, Buchautor und passionierter Klavierspieler, aber sein Lebenswandel trägt auch playboyhafte, dekadente Züge. Der aus Rosario stammende Arztsohn ist ein Kind der argentinischen Oberschicht, verheiratet ist er mit der Tochter eines schwerreichen Bankiers. Die Rolle des Linken Kämpfers für Freiheit und Menschenwürde nimmt ihm nicht jeder ab und seine Beschreibungen des natürlichen und unverfälschten Wesens der Arbeiterklasse betrachten einige schlicht als bourgeoise Sozialromantik mit mangelndem Wirklichkeitsbezug.

Die Erben Menottis

Trotzdem sind seine Visionen eines besseren Fußballs keineswegs eine Randnotiz der Fußballhistorie, die auf die Kreise fußballbegeisterter Intellektueller beschränkt geblieben wäre - im Gegenteil. Seit einigen Jahren scheint sich im europäischen Fußball eine echte Renaissance der Ideen Menottis zu vollziehen.

Das liegt sicherlich zum großen Teil daran, dass seine Brüder im Geiste Erfolge vorzuweisen haben wie vielleicht noch nie zuvor in der Geschichte des Sports. Johan Cruyff ist so einer, wie Menotti beim FC Barcelona gewesen, nur ungleich länger und erfolgreicher, und ein gewisser Josep Guardiola war sein Ziehsohn.

Viele weitere wären noch zu nennen. Aber, und dies scheint die größte Überraschung zu sein, diese Renaissance hat ihr Zentrum zurzeit ausgerechnet in Deutschland, dem Land der humorlosen Arbeiter und Abräumer.

Eine unangemessene Reduktion, wie auch Menotti findet. Es sei ihm schon immer auf die Nerven gegangen, dass alle immer nur von der Kraft und Disziplin der Deutschen sprächen. Die Deutschen hätten schon immer technisch versierte, phantasievolle Fußballer gehabt, aber manchmal eben die falschen Trainer, stellt er jüngst in einem "SZ"-Interview klar.

Ob Favre, Klopp, Streich oder Tuchel, von den "richtigen" Trainern scheint es in Deutschland gerade einige zu geben. Eine Entwicklung, die für Menotti im übrigen wesentlich das Verdienst von Jogi Löw und Jürgen Klinsmann ist, die mit ihrer Art, spielen zu lassen, plötzlich eine ganz andere Botschaft transportierten. Fußball sollte wieder begeistern, eine emotionale Beziehung zum Publikum sollte aufgebaut werden.

Wehe den Besiegten?

Doch die enscheidende Frage dabei bleibt stets dieselbe: Was passiert, wenn der Erfolg ausbleibt? Für Bundesligateams wie Freiburg ist die Teilnahme an der Europa League einfach ein Geschenk, kaum jemand verlangt eine erneute ähnliche Platzierung.

In Mönchengladbach schimpft man interessanterweise mehr über den unattraktiveren Fußball als die verpasste EL-Qualifikation. In Dortmund schließlich begegnet man den gestiegenen Erwartungshaltungen nach wie vor mit dem Verweis auf die Beinahe-Insolvenz vor einigen Jahren.

Einzig beim FC Bayern sind die Wertigkeiten grundsätzlich anders gelagert, hier wird der Erfolg eines Trainers seit jeher in Titeln gemessen. Mit Josep Guardiola aber wurde ein Trainer verpflichtet, der neben einer bemerkenswerten Trophäensammlung mit dem FC Barcelona vor allem für kreativen und phantasievollen, die Zuschauer begeisternden Offensivfußball steht - und seinem Stil auch in der Stunde der bittersten Niederlage treu bleibt.

Freilich rechnet wohl kaum jemand ernsthaft damit, dass die neue Saison nicht zu einem weiteren Triumphzug der Bayern wird. Die Debatten über ein "Fest" ohne die gewünschten Resultate allerdings wären vor diesem Hintergrund nirgendwo so spannend wie in München.

Cesar Luis Menotti im Steckbrief