EM

England steht im EM-Halbfinale: Das Problemkinder-Bollwerk hält dicht

Englands Abwehrchef Harry Maguire (l.) bejubelt sein Tor zum 2:0 im Viertelfinale gegen die Ukraine.
© getty

England steht dank eines 4:0-Sieges gegen die Ukraine im Halbfinale der Europameisterschaft. Zu verdanken ist das vor allem einer äußerst stabilen Defensive, die Trainer Gareth Southgate aus einigen Problemkindern gebaut hat.

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England führte mit 4:0, das Spiel war längst entschieden und trudelte dem Abpfiff entgegen. Jetzt standen endlich die Verteidiger im Zentrum der Aufmerksamkeit. Pass Harry Maguire, Fans: "Heeey!" Pass John Stones, Fans: "Heeey!" Wieder und wieder und wieder. Die Ukrainer hatte sich zu diesem Zeitpunkt längst aufgegeben, die Engländer schonten sich mit einer Querpass-Orgie - und deren Fans machten sich einen Spaß daraus.

Eigentlich passte der Jubel für die Verteidiger aber sogar ganz gut. Es liegt nämlich vor allem an der herausragenden Defensive, dass den englischen Fans seit mittlerweile knapp drei Wochen zum Dauerspaßen ist.

England blieb beim 4:0 gegen die Ukraine in Rom auch im fünften Turnierspiel ohne Gegentor, trifft nun im Halbfinale im Wembley-Stadion auf Dänemark (Mittwoch, 21 Uhr) und darf weiter vom ersten Titel seit der Heim-WM 1966 träumen.

Gareth Southgate lässt abwartenden Fußball spielen

Auch 1966 war eine herausragende Defensive ein Hauptgrund für den Erfolgslauf, damals setzte es im fünften Turnierspiel das erste Gegentor. Nationaltrainer Alf Ramsey hatte auf dem Weg zum Titelgewinn die in England so beliebten Flügelstürmer geopfert und durch zusätzliche Mittelfeldspieler ersetzt, was durchaus für Empörung sorgte. Seine "Wingless Wonders" belehrten aber alle eines Besseren.

Mit ähnlicher Skepsis wurde dem aktuellen Nationaltrainer Gareth Southgate begegnet, als seine Devise für diese Europameisterschaft deutlich wurde: Safety first! Trotz einer im englischen Fußball womöglich noch nie dagewesenen Ansammlung an herausragenden Offensivspielern vertraut der ehemalige Innenverteidiger Southgate auf eine abwartende Spielweise, Ukraines Trainer Andriy Shevchenko nannte sie "sehr pragmatisch".

Mit Harry Kane und Raheem Sterling (je drei Turniertore) haben nur zwei Offensivspieler ihren Startplatz sicher. Bukayo Saka, Phil Foden, Jack Grealish, Marcus Rashford, Mason Mount und Jadon Sancho müssen sich dagegen mit vereinzelten Auftritten begnügen. Wurde dieser Ansatz vor allem anfangs des Turniers in England noch kritisiert, wird er mittlerweile mit einem Schulterzucken hingenommen. So what? Der Erfolg gibt Southgate recht.

England verfügt nicht über eine eingespielte Abwehrkette

Keeper Jordan Pickford (27) hat im Nationaltrikot seit einem Spiel im November gegen Belgien und exakt 662 Spielminuten kein Gegentor kassiert. Das sind mehr als elf Stunden Fußball! Diese Serie scheint Pickford durchaus wichtig zu sein. Zumindest bejubelte er gegen die Ukraine eine vereitelte Halbchance beim Stand von 4:0 in der Schlussphase durchaus emotional.

Wirklich auszeichnen konnte sich Pickford bis dahin aber nicht, weil seine Vorderleute kaum etwas zuließen. Herausragend präsentierte sich vor allem Abwehrchef Harry Maguire (28), der alle seine Zweikämpfe und Luftzweikämpfe gewann, knapp 97 Prozent seiner Pässe an den Mann brachte und außerdem per Kopf das zwischenzeitliche 2:0 erzielte. "Vier Tore sind schön", sagte Maguire nach dem Spiel, "aber am wichtigsten ist, dass wir gewonnen haben und wieder kein Gegentor kassiert haben."

Errungen wurden die fünf clean sheets des Turniers übrigens in unterschiedlichen Konstellationen, England verfügt bei dieser EM nicht über die eine eingespielte Abwehrkette. Maguire selbst verpasste die ersten beiden Spiele gegen Kroatien (1:0) und Schottland (0:0) beispielsweise wegen einer Sprunggelenksverletzung und wurde dabei von einem tadellosen Tyrone Mings (28) ersetzt. Beim 1:0 gegen Tschechien am dritten Spieltag lief dann die selbe Viererkette wie nun gegen die Ukraine auf. Dazwischen experimentierte Southgate beim 2:0-Sieg im Achtelfinale gegen Deutschland mit einem 3-4-3. Funktioniert hat alles.

Englands Verteidiger und ihre Geschichten

Die einzige Konstante in Englands Abwehrreihe ist John Stones (27), der bei allen fünf Turnierspielen in der Startelf stand. Für ihn ist die EM nach duchwachsenen Jahren die Krönung einer starken Saison. Als vermeintlich größtes Innenverteidiger-Talent des Landes war er 2016 für rund 56 Millionen Euro vom FC Everton zu Manchester City gewechselt, hatte die in ihn gesteckten Erwartungen aber (teilweise verletzungsbedingt) lange nicht erfüllt. Auch in der abgelaufenen Saison war Stones zunächst Reservist, ehe er gemeinsam mit Ruben Dias das wohl beste Innenverteidiger-Duo des Landes bildete.

Komplizierte Situationen erlebten in der Vergangenheit auch einige seiner aktuellen Abwehrkollegen, gewissermaßen handelt es sich um eine Ansammlung an Problemkindern in verschiedensten Hinsichten. Da wäre etwa Maguire, der 2020 nach einem vermeintlichen Übergriff auf einen Polizisten auf der griechischen Urlaubsinsel Mykonos verhaftet wurde und sich vor Gericht verantworten muss. Oder Kieran Trippier (30) von Atletico Madrid, der wegen illegaler Weitergabe von Informationen zu Wettzwecken im Winter wochenlang gesperrt fehlte.

Oder Linksverteidiger Luke Shaw (25), der für seine vergangenen Probleme aber eher weniger selbst verantwortlich war. 2015 drohte ihm nach einem doppelten Schienbeinbruch eine Amputation, woraufhin er mit Selbstzweifeln zu kämpfen hatte. Nach seiner Genesung fand er bei seinem Klub Manchester United nur schwer in Form und wurde dafür von Trainer Jose Mourinho wiederholt öffentlich attackiert.

Für die englische Nationalmannschaft stand Shaw zwischen 2015 und 2021 lediglich 60 Minuten auf dem Platz. "Jetzt fühlt er sich wohl und weiß, dass er dazugehört", sagt Southgate. Shaw bedankte sich mit einem Assist gegen Deutschland und zwei weiteren gegen die Ukraine, seine mustergültigen Flanken ermöglichten die Kopfballtore von Maguire und Kane Anfang der zweiten Halbzeit. Noch wichtiger war Southgate aber wohl, dass Shaw seine linke Abwehrseite dicht hielt.

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