Der gebildete Schauspieler

Von Jochen Tittmar
Henrikh Mkhitaryan löst Marcio Amoroso als teuersten Transfer der BVB-Vereinsgeschichte ab
© imago

Henrikh Mkhitaryan ist der teuerste Neuzugang, den Borussia Dortmund je präsentierte - aufgrund der verworrenen Transferrechte des 24-Jährigen war es wohl auch der schwierigste Transfer in der Geschichte des BVB. Die Vita des mehrsprachigen und studierten Armeniers positioniert ihn als Gegenentwurf zum üblichen Fußballprofi.

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Wäre Sokratis nicht, könnte Massimo Mariotti seinem eigentlichen Job wieder nachgehen. Der gebürtige Schweizer ist Trainer der Dortmunder U 12, hat aber seit der Ankunft der drei BVB-Neuzugänge Pierre-Emerick Aubameyang, Henrikh Mkhitaryan und eben Sokratis vom Verein eine neue Aufgabe übertragen bekommen: Mariotti fungiert nun als Dolmetscher bei den Profis und soll dank seiner Kenntnisse des Französischen und Italienischen bei der Integration der drei neuen Jungs mithelfen.

Vater stirbt, als Mkhitaryan sieben Jahre alt war

Mit Mkhitaryan steht beim BVB allerdings ab sofort ein ungeheures Sprachtalent auf der Matte. Der Armenier spricht neben seiner Muttersprache auch Englisch, Französisch, Portugiesisch und Russisch.

Das Phänomen Mkhitaryan: "Es birgt ein gewisses Risiko"

Aubameyang könnte sich also an ihn wenden, um verstanden zu werden. Mkhitaryan selbst dürfte mit der englischen Sprache überall Gehör finden. Somit müsste Mariotti lediglich dem Griechen helfen, sein Italienisch ins Deutsche zu übersetzen.

Um zu verstehen, wieso ein 24-jähriger Profifußballer fünf Sprachen beherrscht, muss man sich genauer mit der Vita Mkhitaryans auseinandersetzen. Nur kurz nachdem sein Vater Hamlet, der ebenfalls Fußballspieler war, beim französischen Klub ASOA Valence anheuerte, folgte ihm seine Familie in den Südosten Frankreichs. Hier verbrachte Dortmunds Neuer über fünf Jahre seiner Kindheit, die 1996 einen schweren Schicksalsschlag zu verdauen hatte: Henrikhs Vater starb mit 33 an den Folgen eines Hirntumors.

Die Wirkung, die der Tod des Vorbilds auf den damals 7-Jährigen ausübte, hält bis heute an: "Ich glaube, er sieht mich und ist stolz auf mich", sagt Henrikh zwar, fügt aber an: "Würde er noch leben, wäre alles anders." Mkhitaryan begründet seitdem seinen eingeschlagenen Lebensweg mit dem Glauben ans Schicksal: "Das Leben ist ein Drehbuch und wir sind Schauspieler, die dem folgen, was darin geschrieben steht."

"Heno" lebte am Trainingsgelände

In Mkhitaryans persönlichem Buch findet man bislang einiges über den Fußball, aber auch noch so viel mehr, dass ihn als Gegenentwurf zum handelsüblichen Profikicker positioniert. So ging vom Tod des Vaters nicht nur der Ehrgeiz aus, sein Geld ebenfalls als Fußballspieler zu verdienen. Wie ernst es Mkhitaryan ist, zeigt sich daran, dass er sich in Donezk direkt am Trainingsgelände einquartierte und man ihn nur selten ausgehen sah.

Doch Mkhitaryan legt vor allem einen enormen Wert auf die Aus- und Weiterbildung seiner Persönlichkeit. Der 24-Jährige graduierte bereits am armenischen Institute of Physical Culture und ist derzeit am St. Petersburg Institute für ein Wirtschaftsstudium eingeschrieben (Begründung: "Weil es in fast sechzig Ländern gültig ist."). Wie er verriet, soll sich daran ein Studium der Rechtswissenschaften anschließen, nebenbei möchte er sein Englisch perfektionieren.

Sowieso die Sprachen: Russisch spricht er, weil seine Oma aus Moskau stammt und er früher zuhause in Jerewan mit ihr übte. Portugiesisch kam hinzu, als ihn sein Heimatverein Pjunik Jerewan im Rahmen einer Kooperation für vier Monate nach Sao Paulo schickte. Seitdem bestehen Freundschaften mit Lucas vom PSG, Oscar von Chelsea und Lazios Hernanes.

Zeit für eine neue Sprache

In Dortmund dürfte also nicht nur der Fall eintreten, dass sich Mkhitaryan mit seinen neuen Teamkollegen ordentlich verständigen kann, sondern über kurz oder lang auch eine weitere Sprache ins Repertoire aufgenommen wird. "Ich fühle mich wohl bei Schachtjor", sagte er im Februar, "aber es kommt eine Zeit, in der man die Szenerie wechseln sollte. Nicht, weil es hier schlecht ist, sondern um seine Stärken in einer anderen Sprache auszuloten."

Dass er dies nun bei den Schwarzgelben tut, dazu benötigte der BVB ein ausgeprägtes Verhandlungsgeschick und stach auf dem Weg dorthin damit die Konkurrenz aus Liverpool und Tottenham aus.

Für Sportdirektor Michael Zorc und Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke, die den laut eigenen Aussagen bislang schwierigsten Transfer federführend über die Bühne brachten, ging es in Gesprächen mit schwerreichen und nicht minder dubiosen Oligarchen in der Hauptsache darum, das Wirrwarr um die Transferrechte Mkhitaryans zu entflechten.

Mkhitaryan ist dem BVB eine Rekordsumme wert

Die lagen nach Informationen der "Süddeutschen Zeitung" zu 50 Prozent beim ukrainischen Serienmeister, die andere Hälfte teilten sich Mkhitaryans frühere Klubs Metalurg Donezk und Pjunik Jerewan. Allen drei Vereinen stehen Multi-Milliardäre vor, die ihren Spieler am liebsten zu Anschi Machatschkala verkauft hätten - dann wäre das Top-Talent nämlich innerhalb der "Familie" geblieben...

Um sich dem Wunschtransfer der Bosse zu entziehen, setzte sich Mkhitaryan in den vergangenen Wochen nach Wien ab, teilte Schachtjor mit, nicht mehr nach Donezk zurückzukehren und angelte sich in Mino Raiola einer der findigsten und deshalb auch berüchtigtsten Spieleragenten der Branche.

Raiola im Porträt: Vom Pizzabäcker zum Ibrahimovic-Berater

Der befreite Mkhitaryan von seiner vertraglichen Abhängigkeit und brachte ihn bei dem Klub unter, für den er sich selbst entschieden hat - und der dafür die vereinsinterne Rekordsumme von 27,5 Millionen Euro überweisen musste.

Dass auch die Borussia frühzeitig an Mkhitaryan interessiert war, stand weniger im direkten Zusammenhang mit dem Abgang von Mario Götze. "Wir haben ihn gar nicht so sehr unter dem Aspekt des Götze-Ersatzes beobachtet. Sondern wir haben ihn schon frühzeitig gesehen und gedacht: Das ist doch mal ein außergewöhnlich guter Kicker", sagt Jürgen Klopp.

29 Spiele, 25 Tore, zehn Vorlagen

Zumal Mkhitaryan ja bereits zu Jahresbeginn im Achtelfinale der Königsklasse gegen die Dortmunder ran musste und in diesen beiden Partien einen nachhaltigen Eindruck hinterließ. "Wir waren alle von ihm überzeugt, als er in der Champions League gegen uns gespielt hat. Wir freuen uns umso mehr, diesen Spieler auf unserer Seite begrüßen zu können", erklärt Marcel Schmelzer.

Beim BVB ist der dritte Neuzugang der Saison im zentral-offensiven Mittelfeld eingeplant, wobei der "Heno" gerufene Ehrenbürger Jerewans bereits schon auf den Flügeln, im Sturm und als Sechser aufgeboten wurde. In Donezk kam er aber zum Großteil hinter der Spitze zur Geltung, von wo aus er in der abgelaufenen Saison mit 25 Toren und zehn Vorlagen in 29 Liga-Spielen zum Torschützenkönig avancierte. "Ich fühle mich definitiv wohler, wenn ich mich in der Nähe des Angriffs aufhalte", sagt Mkhitaryan.

"Er muss seine Leistung bringen"

Schachtjor-Trainer Mircea Lucescu schickt ihn nur ungern, aber mit einem herausragenden Zeugnis weiter: "Die Spielintelligenz, seine Fähigkeit, ein Spiel zu lesen, ist vielleicht seine größte Qualität, neben seiner Schnelligkeit, Kraft und Technik. Er gehört zu jener Gruppe von Spielern, die Vorgaben eines Trainers richtig interpretieren können, die Arbeit mit ihm ist purer Spaß."

Diese Eigenschaften muss er jetzt in einem neuen Umfeld nachweisen. Klopp formulierte an Mkhitaryan bereits den Anspruch, ihn ohne Umschweife in die Startelf einbauen zu wollen. Langwierige Anlaufschwierigkeiten wären für dieses Vorhaben suboptimal, wobei der öffentliche Druck in Deutschland und wohl auch die kaum vermeidbaren Götze-Vergleiche eine Dimension annehmen dürften, die für Mkhitaryan noch Neuland bedeuten.

Schmelzer trat dem ersten Mkhitaryan-Götze-Quervergleich direkt vehement gegenüber: "Mario zu ersetzen, das kann keiner. Er muss ihn auch gar nicht ersetzen. Er muss seine Leistung bringen." Ein bisschen vielleicht auch als Dolmetscher.

Henrikh Mkhitaryan im Steckbrief