Vor der Saison galt Mirko Slomka als sicherster Kandidat für die erste Trainerentlassung des Jahres. Fünf Monate später steht Hannover 96 vorübergehend auf Platz zwei in der Tabelle. Der 43-Jährige hat den Verein zum besten Saisonstart seiner Geschichte geführt, mit 31 Punkten schon am 16. Spieltag den Hinrunden-Rekord geknackt - und kann mittlerweile sehr gelassen in die Verhandlungen um seine Vertragsverlängerung gehen.
Denn Hannovers Erfolg der laufenden Saison trägt sehr deutlich die Handschrift des Trainers. Als Beleg dienen allerdings ausgerechnet bemerkenswert schlechte Zahlen aus den klassischen Statistiken.
Zusammen mit Mirko Slomka analysiert SPOXsechs Gründe für die historische Hinrunde der Niedersachen.
1. Die Strategie:
Hannover hat im Durchschnitt nur 46 Prozent Ballbesitz, lediglich die Schlusslichter Mönchengladbach und Köln haben weniger. Die Zweikampfbilanz ist die zweitschlechteste der Liga. Keine Mannschaft spielt mehr Fehlpässe, in der gegnerischen Hälfte landen sogar über 40 Prozent der Zuspiele beim Gegner. Zum Vergleich: Die Bayern bringen mehr als 85 Prozent der Pässe an den Mann. Und kein Team der Bundesliga erspielt sich auch weniger Torchancen als Hannover. Gemessen an den Zahlen der klassischen Analyse, müsste die Mannschaft von Mirko Slomka gnadenlos auf einem Abstiegsplatz stehen. In Wahrheit aber liegt sie auf Rang vier mit Tuchfühlung zu den Champions-League Plätzen. Warum?
Die schlechten Zweikampfwerte sind vielleicht noch ein Indiz für die fehlende individuelle Qualität im Kader, die übrigen Zahlen aber belegen eher einen sehr bewussten und konsequenten Plan - die Handschrift eines Trainers.
"Unser klar definiertes Konzept ist die Grundlage für die Erfolge", sagt Slomka im Gespräch mit SPOX: "Wir haben uns im Trainerteam sehr gezielt auf eine taktische Grundausrichtung verständigt und darauf hintrainiert. Schnelles Umschalten, Balleroberung möglichst schon im Mittelfeld, schnelle Pässe in die Spitze. Daran müssen alle Spieler mitarbeiten." Es klingt auf den ersten Blick nach einem einfachen Rezept. Allerdings: Keine deutsche Mannschaft kann es im Augenblick besser umsetzen als Hannover.
Völlig gegen den jüngsten Trend zu Ballbesitz und Pass-Sicherheit hat Slomka seine Mannschaft in eine regelrechte Kontermaschine verwandelt. Die vielen Fehlpässe und die damit verbundenen niedrigen Ballbesitz-Zeiten sind also vielmehr das Ergebnis einer extrem schnellen und risikoreichen Spieleröffnung unmittelbar nach der Balleroberung.
Hannover bringt ein äußerst humorloses und zielstrebiges Überfall-Kommando auf den Platz, das nur eines im Sinn hat: den kürzesten Weg zum Tor. Immer und immer wieder. Bis der Ball im Netz zappelt. 15 von 17 Treffern aus dem Spiel heraus folgen daher fast schablonenhaft demselben Muster: Ballgewinn schon in der gegnerischen Hälfte, schnelle und direkte Pässe über maximal drei Stationen, Tor. Dass bei diesem technisch anspruchsvollen Tempo-Fußball weniger als 60 Prozent der Zuspiele auch ankommen, liegt in der Natur der Sache. Hannover ist nun mal nicht Barcelona.
Zu 31 Punkten hat es bislang immerhin trotzdem gereicht. Slomka: "Ich habe mit Beginn meiner Tätigkeit versucht, dieses System zu vermitteln. In der vergangenen Saison mussten wir uns zunächst mit allen Mitteln gegen den Abstieg stemmen. Da konnten wir nicht alle Schritte wie gewünscht gehen. Vor der laufenden Saison aber hatten wir mehr Zeit für eine intensive Vermittlung der Ideen. Das zahlt sich jetzt aus."
2. Die Doppelsechs:
Die Hauptverantwortung für das schnelle Umschalten trägt die Doppelsechs mit Sergio Pinto und Manuel Schmiedebach. Beide absolvieren ein enormes Laufpensum und gehen vor allem viele Wege im höchsten Tempo. So erobern sie zusammen nicht nur viele Bälle bereits auf Höhe der Mittellinie, sondern schalten sich auch unmittelbar als erste Anspielstation in die gegnerische Hälfte mit ein und inszenieren damit die meisten Großchancen.
Besonders auffällig: Beide spielen praktisch nie quer oder zurück und bieten sich selbst auch selten in der eigenen Hälfte im Rückraum an - gleich der erste Ball soll in die Spitze gehen. Ein völlig anderes Konzept als beispielsweise das der Bayern, wo einer der Sechser oft alleine mehr Ballkontakte pro Partie sammelt als Schmiedebach und Pinto zusammen.
3. Die Effizienz:
Durch die riskante Spielweise in der Offensive erarbeitet sich Hannover in der Regel nur wenige Torgelegenheiten. Die sind dafür aber umso hochkarätiger: Überzahlsituationen oder ein Stürmer frei vor dem gegnerischen Torwart. Daraus erklärt sich unter anderem auch die mit knapp 20 Prozent beste Chancenverwertung der Liga.
Toptorschütze ist Didier Ya Konan, der ideale Stürmer für Slomkas System: "Wir bauen im Angriff auf Spieler, die sich vor allem durch Schnelligkeit und Gewandtheit auszeichnen." Der Ivorer aber ist nicht nur spielstark, dynamisch und beweglich sondern auch kopfballstark und enorm sicher sowie effektiv im Abschluss. Mit neun Saisontoren und vier Assists ist er der zweitbeste Scorer der Bundesliga.
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4. Die Außenverteidiger:
Typisch für Hannover sind auch die wenigen Ballkontakte der Innenverteidiger: Die meisten Gegner hatten in der laufenden Saison mindestens doppelt so viele im Abwehrzentrum. Auch das ein Beleg dafür, dass die Mannschaft fast nie in der eigenen Hälfte langsam aufbaut.
Anders als im Spiel nach vorne hat Hannover entsprechend wenig Ballverluste in der eigenen Hälfte, echtes Pressing ist gegen 96 kaum möglich. Nach Ballgewinn in der eigenen Abwehr geht der erste Ball meistens auf die Außenverteidiger, die dann, deutlich höher postiert, das Spiel schnell eröffnen und sich gegebenenfalls in die Offensive mit einschalten. "Die Außenverteidiger-Position genießt oft keine große Wertschätzung", sagt Slomka, "für mich ist das aber eine sehr bedeutende Rolle. Und unsere Außenverteidiger spielen dort sehr intelligent." Christian Schulz und Steven Cherundulo sind entsprechend auch die Spieler mit den meisten Ballkontakten bei Hannover.
5. Die Fitness:
Slomka setzte schon auf Schalke neue Maßstäbe in der Trainingsmethodik. Auch in Hannover holte er sich bei seinem Amtsantritt Fitness-Experten wie Prof. Dr. Jürgen Freiwald von der Uni Wuppertal, ins Boot.
"Wir achten beim Training sehr gezielt auf unterschiedliche Formen: Übungen mit dem Ball, Trainingsspiele mit taktischen Inhalten, aber auch Arbeiten im Kraftraum. Wir achten sehr drauf, dass alle Spieler körperlich fit sind. Das schafft eine Grundsicherheit. Darauf können die Spieler sich auch spielerisch und technisch entwickeln", so Slomka. Und der Erfolg gibt ihm Recht. Tatsächlich ist Hannover in der Lage, ein sehr aufwändiges und laufintensives Pressing auch über 90 Minuten durchzuziehen.
6. Die Stimmung:
"Die ersten Siege haben uns wichtiges Selbstvertrauen gebracht. Und alle haben intensiv und konzentriert gearbeitet, dann kamen die Erfolge auch gegen Mannschaften, die vor der Saison ganz andere Ziele hatten. Es ist eine Art positive Spirale, in der wir uns befinden, die wir aber intensiv aktiv gestalten", sagt Slomka. Auch er weiß, dass die Mannschaft in der Tabelle im Augenblick wohl über ihren Verhältnissen lebt und in einigen Spielen auch etwas Glück brauchte: "Ich glaube nicht, dass wir uns am Ende auf einem Champions-League-Platz halten können."
Doch tatsächlich hat sich nach dem Abgang der Leitwölfe Hanno Balitsch und Arnold Bruggink in Hannover eine neue Hierarchie entwickelt - und nicht zuletzt durch die Erfolgserlebnisse auch einer neuer Teamgeist: "Was die Stimmung im Kader auszeichnet, ist zum einen, dass jeder die Chance sieht zu spielen. Zum anderen ist jeder einzelne in seiner persönlichen Art im Team akzeptiert und als Spieler auf dem Platz respektiert. Das führt dazu, dass wir eine sehr eingeschworene Truppe geworden sind, die von außen kaum beeinflusst wird."
Bei vielen Spielern hat Slomka offenbar auch den richtigen Ton gefunden. Nach dem Erstrunden-Aus im Pokal gegen den Viertligisten Elversberg etwa nahm sich der Trainer gezielt Konstantin Rausch und Jan Schlaudraff - auch öffentlich - zur Brust. Rausch zeigte Reaktion und überraschte gleich zum Bundesligastart mit starken Leistungen und Toren. Schlaudraff dagegen flog aus dem Kader.
Dass Slomka aber nicht nur konsequent im Umgang mit seinen Spielern ist, sondern auch fair, zeigte sich, als er Schlaudraff nach sieben Spieltagen Pause wieder eine Chance gab. Mittlerweile gehört auch der 27-Jährige wieder zu den Leistungsträgern und stand zuletzt vier Spiele in Folge in der Startelf.
Nicht zuletzt fügten sich auch die Neuzugänge Mohammed Abdellaoue, Emanuel Pogatetz, Lars Stindl, Moritz Stoppelkamp und Markus Miller nicht nur fußballerisch, sondern auch menschlich gut in das Puzzle der 96er. Auch Sportdirektor Jörg Schmadtke hat also selbst mit schmalem Budget wieder sein gutes Näschen bewiesen.
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