Tränenreicher Abschied vom Reifenfresser

Von Alexander Mey
Mercedes-Sportchef Norbert Haug wollte Nico Rosberg nach dessen Sieg gar nicht mehr loslassen
© Getty

Nico Rosberg beschert Mercedes den unerwarteten Durchbruch. Die chronischen Reifenprobleme scheinen wie weggeblasen. Geht es ab jetzt für die Silberpfeile regelmäßig um Podestplätze?

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Es waren emotionale Ausbrüche, wie man sie von Mercedes-Motorsportchef Norbert Haug lange nicht gesehen hatte. Mit Freudentränen in den Augen riss er Nico Rosberg im Parc Ferme förmlich an sich und wollte ihn gar nicht mehr loslassen.

Rosberg hatte durch seinen Sieg beim China-GP nicht nur seinen persönlichen Bann nach 110 sieglosen Rennen gebrochen, er hatte auch aus dem Projekt "Deutsches Nationalteam unter dem Mercedes-Stern" nach zwei mageren Jahren endlich eine Erfolgsstory gemacht. Erster Silberpfeil-Sieg seit 1955 - das kann man mit Fug und Recht historisch nennen.

Haug: "Einer der süßesten Siege"

"Es ist einer der süßesten Siege, wenn nicht sogar der süßeste", sagte Haug, den man seit dem ersten WM-Titel für Mika Häkkinen 1998 im McLaren-Mercedes nicht mehr so ausgelassen gesehen hatte.

Warum? "Jetzt haben wir gezeigt, dass wir etwas können. Es haben viele Teams viel länger für den ersten Sieg gebraucht. Wir haben uns das erarbeitet, sind ein kleines Team und haben ein kleines Budget. Trotzdem hält die Truppe zusammen - das habe ich immer gesagt. Wir alle bei Mercedes haben die gleiche Moral, wir erhalten die totale Unterstützung in Stuttgart."

Ganz so klein ist das Budget von Mercedes nun auch wieder nicht, aber im direkten Vergleich mit McLaren, Red Bull und Ferrari sind die Möglichkeiten von Ross Brawn und Haug in der Tat etwas bescheidener. Umso größer ist nun die Genugtuung. "Heute ist ein Tag, an dem wir uns zurücklehnen und genießen können", sagte Haug.

Rosberg erst der siebte Deutsche GP-Sieger

Zum zurücklehnen und genießen bleibt Sieger Rosberg wohl nur der Flug nach Bahrain, denn dorthin geht es noch am Sonntag weiter. "Wir haben zwei Jahre auf einen Sieg gewartet. Das war sowohl für mich als auch für das Team eine lange Zeit. Jetzt ist er hier. Es ist unglaublich", sagte Rosberg.

Rosberg ist erst der siebte deutsche Formel-1-Fahrer, der sich in die Siegerlisten eintragen durfte. Seine Vorgänger hießen Wolfgang Graf Berghe von Trips, Jochen Mass, Michael Schumacher, Heinz-Harald Frentzen, Ralf Schumacher und Sebastian Vettel. Rosbergs Vater Keke gewann vor 30 Jahren sein erstes Rennen. In der gleichen Saison 1982 wurde er auch Weltmeister.

Haug: "Jetzt sind wir die Reifenflüsterer"

So weit wird weder Rosberg noch Haug im Moment denken, dafür ist die Saison viel zu jung und noch viel zu unberechenbar. Aber der plötzliche Erfolg von Mercedes ist schon erstaunlich. Die Reifenprobleme, die das Team in Australien und Malaysia noch gequält haben, waren in Shanghai wie weggeblasen.

"Wir waren bisher die Reifenfresser, jetzt sind wir die Reifenflüsterer", beschrieb Haug das Phänomen Mercedes. Offenbar sorgen winzige Änderungen bei der Asphalttemperatur dafür, dass sich der Umgang mit den Pneus entscheidend verändert. Das gilt nicht nur für Mercedes sondern für alle.

Pirelli: "Mercedes-Reifenprobleme übertrieben"

"Die angeblichen Probleme von Mercedes mit den Reifen waren übertrieben. Das ist nicht das 2011er Auto", relativierte Pirelli-Sportchef Paul Hembery die Unkenrufe in Richtung Silber nach dem Saisonauftakt. Seine Botschaft: Den anderen geht es auch nicht viel besser.

Von der Hand zu weisen waren die in den Rennen stark abfallenden Rundenzeiten der Silberpfeile aber trotzdem nicht. Dass derartige Schwierigkeiten in China völlig behoben schienen, rechnet Rosberg seinem Team hoch an: "Es ist toll, wie schnell wir Fortschritte machen. Wir haben nicht erwartet, dass es heute schon klappen würde. Wir dachten, wir sind vorne mit dabei. Dass es heute schon geklappt hat mit dem Sieg, ist wunderbar."

McLaren-Boss erkennt Mercedes-Sieg neidlos an

Dass der Erfolg kein Zufall oder eine Laune der Streckenbedingungen war, erkannte auch die Konkurrenz neidlos an. "Es war einfach ihr Tag. Nico ist ein großartiges Rennen gefahren und Mercedes verdient diesen Sieg", sagte McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh.

Auch er wunderte sich über den schonenden Umgang des Silberpfeils mit den Reifen. "Jenson hatte Riesenpech mit dem Radmutter-Problem beim letzten Stopp. Ohne das hätte er freie Fahrt gehabt und er wäre viel näher dran gewesen", erklärte Whitmarsh. "Ich glaube aber ehrlich gesagt nicht, dass er hätte gewinnen können, denn Nicos Reifen haben nie wirklich abgebaut."

Mercedes hält die Bälle noch flach

Heißt das jetzt, dass Mercedes auch in den kommenden Rennen ein Sieg- oder zumindest Podestkandidat ist? "Das müssen wir abwarten. Das Streckenlayout war ganz gut für uns, die Temperatur war ganz gut für uns", schränkte Haug ein.

Aber: "Wir haben nichts geschenkt bekommen. Ohne das Problem mit der Radmutter bei Michael hätte es auch einen Doppelsieg geben können. Schade, aber das war schon mal ein gutes Lebenszeichen", sagte Haug.

Schumacher-Ausfall "tragisch"

Womit der einzige Wermutstropfen des Tages angesprochen wäre. Michael Schumacher freute sich nach der Zieldurchfahrt zwar ehrlich für Rosberg und reckte die Daumen in die Höhe, aber er selbst hatte im dritten Rennen zum dritten Mal Pech.

Dem Getriebeschaden in Melbourne und der unverschuldeten Kollision mit Romain Grosjean in Sepang folgte das nicht festgeschraubte Rad in Shanghai. Schumi konnte noch kein einziges Rennen planmäßig zu Ende fahren.

"Es ist tragisch, dass wir ein Problem mit Michael hatten, denn auch er war heute gut in Form", sagte Brawn. Schumacher war auf der gleichen Zweistopp-Strategie wie Rosberg und hatte demnach durchaus Chancen auf einen Podestplatz.

Schumi: Potenzial wichtiger als Ergebnisse

Sehr ärgerlich, aber Schumi nahm es trotzdem gelassen: "Schade, tut mir leid um die Jungs, die sicherlich ihr Bestes gegeben haben und mit Sicherheit auch ein bisschen traurig darüber sind. Aber das gehört dazu."

Auch für ihn war die Erkenntnis, zwei Jahre nach dem Comeback endlich wieder ein Siegerauto zu haben, viel mehr wert als die paar WM-Punkte, die ihm verloren gegangen sind.

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