Die Leiden des jungen Schwaben

Von Simon Valachovic
Daniel Ginczek und Christian Gentner fanden erst spät zu ihrer Form
© getty

Die schwierigste Saison seit Ewigkeiten liegt hinter dem VfB Stuttgart. Wochenlang rangierten die Schwaben auf dem letzten Platz, der bereits sicher geglaubte Abstieg wurde erst am letzten Spieltag abgewendet. Ein Fan blickt zurück.

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Gibt es ihn, den Fußballgott? Eine ungreifbare Instanz, die über Sieg und Niederlage, über Glück und Unglück entscheidet? Nach der abgelaufenen Saison ist für mich eines deutlich geworden: Ich bin zum Fußballatheisten geworden.

Selten musste ich so leiden. Im Schwabenland geboren, aufgewachsen und immer noch lebend, schlägt mein Herz für den VfB. Einen Verein, der es tatsächlich zustande gebracht hat, zum zweiten Mal in Folge in den Tiefen des Abstiegskampfes zu versinken. Für Vereine mit einem niedrigen Etat nicht ganz ungewöhnlich, für einen Traditionsverein wie Stuttgart mit seinem wirtschaftlichen Umfeld jedoch ein Desaster.

Wie auch für mich. Gelitten habe ich. Zu Beginn der Saison, als schnell ersichtlich wurde, dass die einzige Konstante im Verein der Abstiegskampf ist, man kaum ein Heimspiel gewinnen konnte. Trainerwechsel, Managerwechsel und Maulwürfe. Der VfB befand sich in der klassischen Herbstdepression. Ein ernüchternder Herbst, nachdem man zuvor noch mit guten Vorsätzen in die Sommervorbereitung gestartet war, gehört mittlerweile zum VfB wie der rote Brustring.

Der erste Abstieg als Fan?

In dieser Saison musste man sich als Fan sehr genau mit dem Szenario eines Abstiegs auseinandersetzen. Auch ich tat das mehr als je zuvor. Im Mai 2001, als Krassimir Balakov gegen Schalke zum entscheidenden 1:0 traf, war ich noch zu jung, um mich mit der entsprechenden Intensität dem Thema Abstieg zu widmen.

Im Frühjahr 2011 war die Tendenz zum Klassenerhalt früh erkennbar, Bruno Labbadia lenkte den VfB frühzeitig in die richtige Richtung, hatte mit Siegen in Frankfurt und Gladbach auch das nötige Glück auf seiner Seite. Letzte Saison gab es drei noch schlechtere Vereine, wodurch der Klassenerhalt verhältnismäßig einfach zu realisieren blieb.

In der abgelaufenen Spielzeit war vieles anders und deutlich prekärer. Dass der VfB den letzten Platz belegte war über die Saison zur Gewohnheit geworden. Daher gab es einige Momente, bei denen ich mich bereits mit einem kommenden Abstieg abzufinden hatte. Da war beispielsweise die bittere Niederlage in Hoffenheim. Huub Stevens ratlos, ich ebenfalls. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir einfach nicht vorstellen, wie sich all das noch zum Guten wenden sollte.

Blick in die Vergangenheit

Wer sollte in dem Moment auch wirklich daran glauben, dass Ginczek und Didavi doch noch richtig fit werden und ein Kostic beweist, dass er sechs Millionen Euro wert ist? Also begann ich ein wenig zu recherchieren. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine Lust, mich damit zu beschäftigen, wie der VfB 1974 abgestiegen war. Ich wollte wissen, wie es zum Wiederaufstieg kam. Vom berüchtigten Kult um Aufstiegstrainer Jürgen "Wundermann" Sundermann hatte ich bereits gehört, doch das Thema beschäftigte mich nun mehr.

Von einigen langjährigen Dauerkartenbesitzern hörte ich, der VfB habe in der Saison 76/77 unter Sundermann den besten Fußball gespielt, den es je im Neckarstadion zu sehen gegeben hatte. Spieler wurden nach Zuschauerzahlen bezahlt, die aufgrund des wachsenden Erfolges stetig stiegen.

Stars, so sagte mir einer der älteren Herren, hätten in Stuttgart selten ihren Weg gefunden. Mit jungem und motiviertem Nachwuchs sei man schon immer auf der sichereren Seite gewesen. Helden waren zu Zeiten des Aufstiegs Spieler wie Hansi Müller, Dieter Hoeneß, Ottmar Hitzfeld oder auch Karlheinz Förster.

Rückschlag auf Schalke

Doch natürlich war mir weiterhin die Gegenwart mehr als präsent. Huub Stevens musste sich aufgrund seiner bis dato sehr defensiven Taktik einiges anhören. Auch Robin Dutt soll ihm dezent zu einer mutigeren Herangehensweise geraten haben. Also stellte Stevens um. Ginczek, Maxim und Kostic wurden in die Startelf integriert. Und schon bald schien die Wende nah.

Heimsiege gegen Frankfurt und Bremen, die Offensive boomte plötzlich. Doch dann der zweite Rückschlag. Niederlage in Augsburg sowie ein Unentschieden gegen Freiburg. Individuelle Patzer haben mich wieder weit von meinem Glauben an den Klassenerhalt abrücken lassen. Die tiefste meiner bisherigen Fußballdepressionen erreichte mich jedoch nach der Niederlage auf Schalke.

Wäre ich zuhause geblieben, wäre es vielleicht nicht ganz so schlimm gewesen. Doch ich beging den Fehler, nach Gelsenkirchen zu reisen. Und ich erlebte die wohl bitterste Niederlage, die ich je live bei einem Auswärtsspiel verfolgen musste. Den Spielverlauf werde ich hier nicht noch einmal genauer erläutern. Könnt ihr gerne googlen oder so. Aber dafür sind die Wunden, trotz Klassenerhalt, noch zu frisch.

Parallelen zu 1975

Also dachte ich mir die Tage darauf, dass ich mich wohl doch auch mit der Abstiegssaison des VfB von 1974/75 auseinandersetzen sollte. Und es war etwas zermürbend. Denn es waren Parallelen zur aktuellen Saison erkennbar. Auch damals versuchte man es mit einem Trainer, der die Schwaben Jahre zuvor bereits schon einmal vor dem Abstieg bewahrt hatte. Albert Sing hieß er, war jedoch mittlerweile für seinen eher altmodischen Stil bekannt. Beispielsweise ließ er seine Spieler während des Trainings singen. Eine auch bereits in den 70er-Jahren zumindest fragwürdige Methode.

Jedenfalls stieg der VfB derart hoffnungslos ab, dass er am letzten Spieltag schon nicht mehr zu retten war. Die Fans reagierten darauf mit entsprechendem Humor. Während die einen, passend zu einer Beerdigung, in Frack und Zylinder zum vorerst letzten Heimspiel in der obersten Spielklasse gingen, schneiderten sich andere eigens angefertigte T-Shirts mit der Aufschrift "VfB-Abstiegsmarsch". Vor meinem geistigen Auge sah ich mich bereits beim Heimspiel gegen den HSV in einem solchen Oberteil in der Cannstatter Kurve stehen.

Drei Siege? Undenkbar!

Jedoch passierte dann das, womit für mich wirklich nicht mehr zu rechnen war. Es folgten die letzten drei Saisonspiele. Um die Klasse zu halten waren drei Siege nötig. Zwei Siege in Folge? Zuletzt geschehen im September 2013. Drei Siege in Folge gab es zuvor im Dezember 2012. Ein Ding der Unmöglichkeit, davon war ich überzeugt. Das erste Spiel gewann der VfB gegen Mainz, das ein wahrlich dankbarer Gegner war. Rückkehrer Didavi machte Hoffnung, die Formkurve von Kostic ging weiter unaufhaltsam nach oben und die Verteidigung ohne Niedermeier und Hlousek schien stabil zu wirken.

Der Abstiegskampf rund um den VfB war das beherrschende Thema in der Stadt Stuttgart. Die Fans unterstützten die Mannschaft mehr als im Frühjahr 2007, der Pokalmodus wurde ausgerufen. Viertelfinale gegen Mainz, Halbfinale gegen Hamburg, Finale in Paderborn. Und irgendwie, so glaube ich, war genau diese Herangehensweise die richtige. Man hatte zum ersten Mal in der gesamten Saison das Gefühl, die Spieler haben es realisiert. Und wenn nicht, stauchte Stevens sein Team in affiger Manier zusammen. Somit war der Fokus richtig ausgerichtet und auch die zwei Heimspiele in Folge waren ein nicht zu unterschätzender Bonus in dieser Phase.

Somit gewann Stuttgart auch gegen Hamburg. All meine Angst vor Bruno Labbadia, die ich in der Woche zuvor hatte, war unbegründet. Ich hatte wohl einfach vergessen, dass nicht nur der Trainer seine Ex-Spieler kennt, sondern eben auch umgekehrt Labbadias Spielweise durchaus beim VfB noch bekannt war. Und dass der HSV einfach verlernt hat, Fußball zu spielen...

Dennoch war ich mir nach Spielende nicht ganz wohl in meiner Haut. Die Chancenverwertung ließ einen die Hände über den Kopf zusammenschlagen. Bei einer Niederlage wäre der VfB abgestiegen und man hätte zumindest schon in Paderborn zum Abstiegsmarsch antreten können.

Keine Feierlaune

Den VfB packte jedoch letztlich wieder einmal die Frühlingseuphorie. Wie schon häufig folgte auf die Herbstdepression, die den Verein Jahr für Jahr dem Abgrund näher gebracht hatte, ein ekstatischer Mai. Würde der schwäbische Lyriker Eduard Mörike noch leben, könnte man meinen, er hätte eines seiner berühmtesten Gedichte umgeschrieben. Denn der Frühling ließ sein rotes Band über Stuttgart fallen und somit letztlich den VfB den Klassenerhalt feiern.

Wie gegen den HSV war man fast schon abgestiegen, nutzte seine Chancen kaum. Doch die Offensivmaschinerie war auch in Paderborn nicht aufzuhalten. Kostic, Didavi und Ginczek bewahrten den VfB vor dem drohenden Abstieg und Stevens bewies, dass er die eindeutig bessere Wahl war, als Jahrzehnte zuvor noch Albert Sing. Singen ließ er die Mannschaft erst nach Abpfiff mit dem nach Paderborn gereisten Anhang.

Feiern konnte ich nach dem Spiel in Paderborn jedoch nicht so richtig. Wenn einen einmal das Gefühl beschleicht, gerade noch einmal von etwas davon gekommen zu sein, ist man eher erleichtert, als dass die große Feierlaune ausbricht.