Das Märchen von den RIESEN

Von Robert Heusel
Die Riesen Ludwigsburg haben ihre Tabellenführung in der BBL verloren
© imago

Nach zehn Spieltagen stehen die MHP RIESEN Ludwigsburg völlig überraschend an der Spitze der BBL. Im Eurocup gab es zwei Erfolge gegen Alba Berlin und kürzlich einen sensationellen Heimsieg gegen den Vorjahresfinalisten aus Gran Canaria. Der Einzug in die Zwischenrunde ist nur noch Formsache. National hat sich Ludwigsburg zu einem ernstzunehmenden Herausforderer der großen B's entwickelt; nicht zuletzt ein Verdienst von Erfolgscoach John Patrick.

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"Wir sind natürlich sehr zufrieden mit unserem Saisonstart", sagte Patrick, der mit seinem Team nach der Viertelfinalteilnahme in der vergangenen Saison erneut auf Playoff-Kurs liegt. Die Barockstädter haben in der BBL von den ersten neun Spielen acht gewonnen und thronen vor Größen wie Berlin, Bamberg und München an der Spitze der Liga.

Auch im europäischen Geschäft läuft es wie geschmiert. Ludwigsburg, das nur durch den Verzicht anderer Teams kurzfristig in den Eurocup gerutscht ist, steht in Gruppe A gemeinsam mit Vorjahresfinliast Herbalife Gran Canaria auf Rang eins. Der Einzug in die Zwischenrunde ist den Riesen nur noch theoretisch zu nehmen.

"Der Eurocup hilft uns ungemein. Es ist einfach gut, unter der Woche gegen europäische Topteams zu spielen", so der Cheftrainer zur spontanen Teilnahme am zweithöchsten europäischen Wettbewerb.

Favoritenschreck und Crunchtime-Stärke

Dass der Höhenflug der Ludwigsburger nicht von ungefähr kommt, zeigt ein Blick auf die Gegner, die sich den RIESEN bislang geschlagen geben mussten. In der Liga gab es die Erfolge zwar überwiegend gegen Konkurrenten aus der unteren Tabellenhälfte, aber im Eurocup lassen die Siege gegen Alba Berlin, das man sogar zweimal schlug, und gegen Gran Canaria aufhorchen.

Würzburg: Deja-vu in der Turnhölle

Patrick bremste gegenüber Telekom Basketball dennoch die Euphorie: "Man muss bedenken, dass wir vier Spiele nur äußerst knapp gewonnen haben. Wir könnten genauso gut mit fünf Niederlagen dastehen."

In der Tat gewinnt Ludwigsburg seine Spiele oft nicht deutlich, aber sie gewinnen sie. Gerade einmal 6,5 Punkte mehr als der Gegner erzielen sie pro Spiel. Nicht viel, aber genug. Wettbewerbsübergreifend gingen Spiele mit Ludwigsburger Beteiligung schon vier Mal in die Verlängerung. Und vier Mal hieß der Sieger Ludwigsburg. "Es ist derzeit einfach so, dass wir am Ende der Spiele gut spielen", analysiert Patrick trocken.

Ein Team nach Patricks Gusto

Dass die Mannschaft gut spielt, hat auch damit zu tun, dass Patrick Spieler nach seinem Gusto um sich scharen darf. Mit einigen, wie Rocky Trice oder Center Jason Boone, hat der Coach schon in den vergangenen Jahren zusammengearbeitet. Boone beispielsweise holte Patrick in seiner Göttinger Zeit 2007 aus der Regionalliga in die BBL und nahm ihn vier Jahre später in Würzburg prompt erneut unter Vertrag. Nun also das dritte Rendezvous in Ludwigsburg.

Auf der Aufbauposition hat Patrick nach seinem fast schon üblichen Bäumchen-Wechsel-Dich in der Preseason den passenden Spieler gefunden. Kevin Dillard und Jonathan Lee kamen nicht durch das Tryout und Jarvis Threatt fiel durch den Medizintest. Erst am Tag nach dem ersten Spieltag war mit Mustafa Shakur der passende Playmaker gefunden. Zu diesem späten Zeitpunkt war es also tatsächlich gelungen, einen Point Guard mit Euroleague-Erfahrung an den Neckar zu lotsen. Noch in der Vorsaison legte Shakur für Neptunas Klaipeda 9,6 Punkte und 3,8 Assists in der Königsklasse auf.

"Wir haben jetzt mit Shakur und Trice viel Erfahrung auf den Guardpositionen. Dadurch vermeiden wir einige Ballverluste, was uns natürlich in der entscheidenden Phase von Spielen enorm weiterhilft", so Patrick über die Besetzung der Außenpositionen. Wohl auch ein Grund, warum Ludwigsburg in der Crunchtime bislang derart erfolgreich agiert.

Alte Bekannte und neue Gesichter

Unter dem Korb setzt der Klub, der 2013 noch sportlich abgestiegen ist und nur dank einer Wildcard in der BBL bleiben durfte, auf Wucht und Power. Mit Jon Brockman konnte der Anker des Teams weiterverpflichtet werden; mit Boone stellten ihm die Verantwortlichen einen weiteren Büffel zur Seite. "Brockman ist ein großes Vorbild und ein Leader im Team", freute sich der Coach nach der Bekanntgabe der Vertragsverlängerung. Die beiden US-Boys bilden eines der robustesten Center-Duos der Liga.

Die Besetzung der deutschen Kaderspots durch Patrick wird oft kontrovers diskutiert. Auch in dieser Saison stehen mit Alvaro Munoz, Adam Waleskowski und Brad Loesing drei Spieler in der Rotation, die nicht in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, sondern die deutsche Staatsbürgerschaft "auf Umwegen" erhalten haben. Ob dies der Quotenregelung der BBL zuträglich ist oder nicht, sei hier außen vor gelassen.

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Fest steht in jedem Fall, dass das Scouting der RIESEN auch vor dieser Saison wieder exzellent war. Ein Spieler wie Munoz, der mütterlicherseits über deutsche Wurzeln verfügt, wurde in der zweiten spanischen Liga ausfindig gemacht. Loesing kam nach einem Jahr Leihe aus Gotha zurück in die Barockstadt. Mit David McCray, der schon von 2007 bis 2012 für Ludwigsburg auflief, wurde ein verlorener Sohn aus Quakenbrück zurückgeholt und so die Deutschen-Rotation komplettiert.

Ein interessanter Stil

"Ludwigsburg spielt mit einem großen Hunger und einer unglaublichen Intensität, das ist ein interessanter Spielstil", zeigte sich Aitor Garcia Reneses, Trainer von Gran Canaria, nach der Niederlage seines Teams in der MHP-Arena beeindruckt.

Wie jedes von Patrick gecoachte Team spielen auch die RIESEN mit unheimlicher Intensität. "Ich habe damals dieses '40 minutes fullcourt of hell' vielleicht als erster in Deutschland praktiziert. Jetzt spielen schon mehrere Teams eine Pressverteidigung. Das ist der moderne Basketball", verteidigt Patrick seinen Ansatz.

Zwar ist die Spielanlage in Ludwigsburg nicht gänzlich mit dem legendären Guard-Terror, den Patrick in seiner Zeit bei der BG Göttingen spielen ließ, zu vergleichen. Es lassen sich aber Parallelen erkennen, denn vor allem Trice liebt es seinen Gegenspielern Feuer zu geben und den Ball zu stibitzen. Alles in allem ist das Spiel der Truppe aber sehr ausgewogen: Fastbreak, Outside- und Insidespiel stehen in einem gesunden Verhältnis.

Im Zentrum der Überlegungen des Ludwigsburger Trainerstabes steht der Offensivrebound. Kein Team in der Bundesliga arbeitet besser am offensiven Brett (8,4 Offensivrebounds pro Spiel), kein Team reboundet generell besser (40,6 Rebounds pro Spiel). Das gute Reboundverhalten ermöglicht es Shakur und Co., insgesamt mehr als 65 Mal pro Partie auf den Korb zu werfen - so oft wie keine andere Mannschaft in der Bundesliga. Diese Fakten erlauben es dem Team trotz nicht überragender Trefferquoten mehr als 80 Punkte pro Spiel zu erzielen und so viele Spiele zu gewinnen.

Ab in die Playoffs

Können die RIESEN dieses offensive Niveau halten, dann steht einem erneuten Einzug in die Playoffs kaum etwas im Wege. Insgeheim schielt der Trainer sogar schon auf etwas mehr: "Mit unserem Etat passt es nicht ins Bild, wenn wir offensivere Ziele als die Playoffs formulieren. Wir wollen besser abschneiden als letztes Jahr und wenn wir gesund bleiben und nicht unbedingt Achter werden, dann können wir vielleicht eine Überraschung schaffen."

Kurzfristiges Ziel könnte auch die Teilnahme am Pokal Top Four sein. Durch den guten Saisonstart ist ein Platz im Viertelfinale, das die besten sechs Teams nach der Hinrunde bestreiten, eigentlich sicher. Im Eurocup wird man wie bisher von Spiel zu Spiel denken und weiterhin versuchen, den "Großen" immer wieder ein Bein zu stellen.

Als sportliches Aushängeschild etablieren

Mittel- beziehungsweise langfristig beschreiben die RIESEN ihre Vision folgendermaßen: "Die RIESEN Ludwigsburg wollen sich als sportliches und gesellschaftliches Aushängeschild, abseits des Fußballs, als eindeutige Nummer eins in der Region Stuttgart etablieren", heißt es auf der Klub-Homepage. Betrachtet man die Resonanz des Publikums, dann ist man genau auf dem richtigen Weg. In den letzten fünf Jahren stieg der Zuschauerschnitt kontinuierlich an; knapp 4000 Fans im Schnitt strömten in der vergangenen Saison in die MHP-Arena - 88 Prozent Auslastung!

Sportlich gesehen wollen sich die Ludwigsburger im oberen Tabellendrittel festsetzen. Dass dieses Unterfangen nicht unbedingt einfach werden wird, weiß auch Patrick: "Wir haben in der Liga bisher außer gegen Oldenburg nur gegen vermeintlich schwächere Mannschaften gespielt. Die richtig schweren Spiele kommen erst alle noch!"

Dennoch: die Riesen haben das Potential die Überraschungsmannschaft der Saison zu werden. Und wer weiß: vielleicht gibt es ja in den Playoffs ein weiteres Kapitel im Märchen der RIESEN.

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