Letzte Chance für das verschleuderte Talent

Von Felix Götz
Mimi Kraus gewann 2013 mit Hamburg die Champions League
© getty

Am Mittwoch (20.15 Uhr) gastiert Frisch Auf Göppingen mit dem heimgekehrten Mimi Kraus bei der SG Flensburg-Handewitt. Der Spielmacher hat in den vergangenen Jahren viel zu wenig aus seinem Potenzial gemacht. Nun will er seine womöglich letzte Chance nutzen. Frisch-Auf-Trainer Velimir Petkovic erklärt bei SPOX, dass Kraus seine Lektion gelernt hat.

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Weltmeister, deutscher Meister, Champions-League-Sieger: Nur an den Titeln gemessen hat Michael Kraus in seiner bisherigen Karriere verdammt viel erreicht. Trotzdem wird der 29-Jährige den Stempel des gescheiterten Supertalents nicht los. Der Spielmacher überzeugte für seine Möglichkeiten zu selten. Weder in Lemgo und in Hamburg, noch in der Nationalmannschaft. Im Gegenteil: Oft genug enttäuschte er sogar.

Nun ist Kraus zurück in seiner Geburtsstadt Göppingen. Seine Aufgabe hat es in sich. Er soll der Leader sein, der den schwäbischen Traditionsklub nach dem enttäuschenden elften Platz in der vergangenen Saison wieder auf Europapokal-Kurs bringt.

Bei der 29:31-Niederlage gegen den SC Magdeburg am 1. Spieltag hat Kraus bereits angedeutet, wie wichtig er für Frisch Auf sein kann. Obwohl in der zweiten Halbzeit eine altbekannte Schwäche zu Tage trat. Kraus wollte zu viel, hatte das Spiel dadurch nicht mehr in der Hand. Trotzdem ist sein Lehrmeister bisher zufrieden. "Er hat frischen Wind bei uns in die Kabine gebracht und strahlt Optimismus aus", sagt Göppingens Trainer Velimir Petkovic im Gespräch mit SPOX. Petko möchte, dass sein Spielmacher "mein verlängerter Arm auf dem Spielfeld ist".

Kraus legt die Latte hoch

Ob der Klub aus Baden-Württemberg erfolgreich ist, hängt zu einem guten Stück von Kraus' Leistungen ab. Und der Rechtshänder, der zuletzt drei Jahre beim TBV Lemgo und drei Jahre in Hamburg spielte, legt die Latte hoch: "In der Bundesliga will ich sicher nicht um die Plätze sieben bis zehn spielen."

Als ob die Erwartungshaltung nicht ohnehin schon groß genug wäre. Petkovic weiß das und erklärt: "Aber ich erwarte nicht zu viel von ihm. Er bekommt Zeit, genau wie jeder andere Spieler, der zu uns kommt. Ich versuche, den Druck von ihm wegzunehmen. Ich stehe vor und hinter Mimi."

Der gebürtige Bosnier, für den es die zehnte und letzte Saison als Frisch-Auf-Coach ist, kennt Kraus besser als jeder andere Trainer. Er war es, der den Bravo-Boy von 2000 zum Bundesligaspieler formte, unter Petkos Fittichen entwickelte sich Kraus zum Nationalspieler. Und nun war es wieder Petkovic, der sich dafür einsetzte, Mimi zurück nach Süddeutschland zu holen - gegen einigen Widerstand.

Kraus-Rückkehr umstritten

Kraus' Rückkehr wird in Göppingen nämlich keinesfalls nur positiv bewertet. "Ich habe deshalb Diskussionen gehabt, die nicht immer angenehm waren", räumt Petkovic ein, Überzeugungsarbeit geleistet zu haben.

Manch eingefleischter Fan hat ihm seinen Abgang vor sechs Jahren bis heute nicht verziehen. Andere haben disziplinarische oder rein sportliche Zweifel. Zweifel an einem Mann, der 2007 einen nicht unerheblichen Anteil am WM-Titel der deutschen Nationalmannschaft hatte. Zweifel an einem Spieler, der in diesem Jahr durch eine Glanzleistung im Finale gegen Barcelona den HSV zum Champions-League-Triumph warf.

Und trotzdem ist das Misstrauen nicht ganz unbegründet. Denn der mit einem grandiosen Talent ausgestattete Kraus hat in den vergangenen Jahren sein Potenzial viel zu selten auf die Platte gebracht. Obwohl er schnell, technisch stark, mit einer guten Übersicht und einem tollen Wurf ausgestattet ist, war er oft nur dann richtig gut, wenn die Erwartungshaltung nicht ganz so groß war.

Bei der WM 2007 trumpfte er aus dem Schatten von Markus Baur heraus auf, im Champions-League-Finale 2013 kam er von der Bank. Dass ausgerechnet Kraus die Partie in Köln entscheiden würde, hatte kaum jemand ernsthaft geglaubt.

Enttäuschungen und Pech

Die WM und das Endspiel in der Königsklasse waren Kraus' Sternstunden. Ansonsten pflastern Enttäuschungen seinen Weg. In Lemgo warf er zwar in jeder HBL-Saison immerhin mindestens 129 Tore. Komplett überzeugen konnte er dennoch nicht, weil er nicht als Leader voranging. Auch in Hamburg zahlte er das in ihn gesetzte Vertrauen selten zurückzahlen. Wie schlecht es in der Hansestadt für ihn lief, verdeutlichen zwei Aussagen.

Nach der ersten Saison in Hamburg sprach Kraus noch von einem "Übergangsjahr, doch in der zweiten Saison will ich dem HSV meinen Stempel aufdrücken". Als er vergangenen Juni auf seine Zeit beim HSV zurückblickte, meinte er: "Das erste Jahr war noch gut, danach war es schwer und lief unglücklich."

Dass es unglücklich lief, lag freilich nicht nur an Kraus. Auch das Pech klebte wie Kaugummi an ihm. 2011 krachte er mit seinem Porsche gegen einen Baum. Geprellte Rippen und ein Innenbandriss im Knie waren die Folge. Weitere Verletzungen folgten. "Ich habe von knapp 150 Spielen beim HSV 40 verpasst", so Kraus, der leider auch wenn er fit war zu wenig zeigte.

Brand an den Rand des Wahnsinns getrieben

Bekam er seine Chance, agierte er oft hektisch, viele Ballverluste oder schlechte Abschlüsse waren die Folge. Er wollte zu viel - wie zum Saisonstart gegen Magdeburg.

Teilweise hat er - so hart das auch klingt - sogar versagt. Vor allem im Nationaltrikot, das er zeitweise als Kapitän trug. Weder bei den Europameisterschaften 2008 und 2010, noch bei der Weltmeisterschaft 2011 wurde Kraus auch nur ansatzweise seinem eigenen Anspruch als Leitwolf gerecht.

Besonders 2011 in Schweden trieb er den damaligen Bundestrainer Heiner Brand an den Rand des Wahnsinns, indem er taktische Anweisungen einfach nicht befolgte. Bei der 24:26-Niederlage gegen Spanien war es so schlimm, dass selbst der sonst eher besonnene Brand hinterher befand, dass "schon Geduld erforderlich" gewesen sei, um "nicht auszuflippen".

Auftritte dieser Art waren es, die Brand vor ein paar Monaten zu dem Schluss kommen ließen: "Mimi könnte der beste deutsche Handballspieler sein. Er hat sein Talent aber nach der WM 2007 regelrecht verschludert. Wenn ich überlege, wie viele gute Spiele er seither gemacht hat, brauche ich meine zweite Hand zum Zählen bestimmt nicht."

"Ich habe sicherlich Fehler gemacht"

Dabei waren es nicht nur taktische Undiszipliniertheiten, mit denen sich Kraus oft selbst im Weg stand. Zu Lemgoer Zeiten wurde er offenbar einmal trotz Krankmeldung bei einer Faschingsveranstaltung in der süddeutschen Heimat gesichtet. Daraufhin wurde er vorläufig aus dem Kader geworfen. In Hamburg handelte er sich Ärger ein, weil er mal verschlief, mal den Abflug der Mannschaft zu einem Auswärtsspiel verpasste.

"Ich habe sicherlich Fehler gemacht", gibt Kraus heute zu. Petkovic gibt den letzten beiden Klubs des Göppingers eine Teilschuld an dem öffentlichen Wirbel, den Kraus' Verhalten ausgelöst hat. "Auch bei uns war nicht immer alles in Ordnung", sagt Petko über die erste Zeit bei Frisch Auf: "Aber wir haben nicht gleich am nächsten Tag jeden Journalisten über sein Verhalten informiert."

"Mimi hat seine Lektion gelernt"

Nun - so glaubt Petkovic - wird es nicht mehr nötig sein, Mimis Undiszipliniertheiten zu vertuschen. "Er ist in allen Bereichen reif geworden", sagt der 57-Jährige. Auch seine Freundin Bella, die mit Kraus von Hamburg nach Göppingen gezogen ist, soll ein Grund für seine Reife sein.

Kraus mache es Frisch Auf leicht, mit dem Hype um seine Rückkehr umzugehen, der den Rest der Truppe in den Hintergrund stellt. "Generell kann so etwas für eine Mannschaft gefährlich sein", erklärt Petko: "Aber Mimi nimmt mit seinem Benehmen viel weg. Er benimmt sich nicht wie ein Star. Ich glaube, er hat seine Lektion gelernt. Er hat bei uns das Steuer in der Hand."

Die womöglich letzte Chance

Es ist womöglich die letzte Chance für Kraus, der im Sommer nach eigener Aussage mit einem "überraschend guten Ergebnis" das Abitur nachgeholt hat. Nun muss er endgültig zeigen, dass er nicht nur das Zeug zum Führungsspieler hat, sondern dass er auch einer ist.

Die Voraussetzungen sind nicht schlecht. Der Trainer schenkt ihm zu 100 Prozent das Vertrauen, zudem ist er an einem Ort, an dem er sich zu Hause fühlt. "Jedes Mal, wenn ich aus Lemgo oder Hamburg wieder hierher zu Besuch gekommen bin, hat mein Herz ein paar Kilometer vor Göppingen zu hüpfen begonnen", sagt Kraus.

Sollte alles gut gehen, ist selbst eine Rückkehr in die Nationalmannschaft wieder ein Thema. Bundestrainer Martin Heuberger hat bereits durchblicken lassen, dass die Tür nicht zu ist. Kraus' Vertrag in Göppingen läuft bis 2016. "Er bleibt drei Jahre, weil er bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio das deutsche Team anführen soll", lautet die Vision von Frisch-Auf-Manager Gerd Hofele. Wer weiß, vielleicht bekommt die Geschichte vom verschluderten Talent doch noch ihr Happy End.

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