WM

Die überquellende Lebensfreude

Von David Wünschel
Die Hoffnung stirbt zuletzt: Trotz guter Leistungen holte Ghana nur einen Punkt aus 2 Spielen
© getty

Der Ghanaian Way of Life: Das ist Lebensfreude, Frohsinn, Musik und Religion. Aber auch im Fußball spiegelt sich die Mentalität wider. In Brasilien geht es für die "Black Stars" gegen Portugal (18 Uhr im LIVE-TICKER) um alles. Nur ein Sieg und ein wenig deutsche Schützenhilfe lassen die Party weitergehen.

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Die Hoffnungen eines ganzen Kontinents ruhten auf ihm. Er hätte Geschichte schreiben können. Er lief an, er schoss - und er hämmerte den Ball mit voller Wucht an die Oberkante der Latte. Und stürzte so ganz Ghana in kollektive Trauer. "Ich habe die Herzen der Menschen gebrochen, die Herzen ganz Afrikas. Ich habe alles vermasselt, in einer einzigen Sekunde." Was war passiert?

Bei der WM 2010 in Südafrika standen die Black Stars erstmals im Viertelfinale, noch nie zuvor konnte eine afrikanische Nation die Runde der letzten Vier bei einer Weltmeisterschaft erreichen. Die Fans vor Ort wollten Ghana mit ihren Vuvuzelas ins Halbfinale tröten, ein ganzer Kontinent leistete vor den Bildschirmen Beistand.

Bis zur 120. Minute hielt man gegen Uruguay das Unentschieden, doch dann wurde es extrem bitter. In der letzten Minute der Verlängerung faustete Luis Suarez den Ball von der Linie und verhinderte so den Siegtreffer. Suarez sah Rot, Asamoah Gyan lief an und vergab vom Punkt.

Das anschließende Elfmeterschießen gewann Uruguay. "Ich habe die Herzen der Menschen gebrochen", konstatierte Asamoah Gyan - und er hatte Recht. Denn Fußball und Ghana, das gleicht einer Liebesbeziehung.

Global und kontinental konkurrenzfähig

Seitdem die britischen Kolonialherren den Sport im späten 19. Jahrhundert an die Goldküste brachten, ist Fußball die unumstrittene Sportart Nummer eins. Auf nationaler Ebene unterstützen die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen ihre regionalen Teams.

Über 100 Ethnien leben in Ghana, die jedoch eines eint: die Begeisterung für die Black Stars. Sobald die Nationalmannschaft spielt, fiebern alle mit. Das Geschäftsleben steht still und Fußball ist das omnipräsente Thema auf den Dorfplätzen.

Ghana stellt ein Team, das sowohl kontinental als auch global konkurrenzfähig ist. Die Stars heißen Michael Essien, Kevin-Prince Boateng und Andre Ayew. Fast alle Nationalspieler stehen bei europäischen Erstligisten unter Vertrag.

Die Qualifikation für die WM in Brasilien gelang problemlos: Das Playoff-Hinspiel gegen Ägypten in Accra entschieden die Black Stars mit 6:1 für sich, das Rückspiel war reine Formsache. "Wir lieben und respektieren uns. Das ist das Geheimnis in unserem Team", beteuert der Verteidiger John Mensah. "Keiner sieht sich als Star, aber jeder als Teil der Mannschaft."

Die Lebensfreude muss ausgedrückt werden

Gegenseitiger Respekt und Liebe sind Charakteristika, die auch die ghanaische Bevölkerung prägen. Die zahlreichen Volks- und Glaubensgruppen leben friedlich miteinander. Ghana hat sich zum wirtschaftlichen Vorreiter in der Region entwickelt und gehört zu den wenigen schwarzafrikanischen Nationen, deren politische Lage man uneingeschränkt als stabil bezeichnen kann.

Mitverantwortlich für den Frieden ist die tiefe Religiosität. Das Christentum im Süden und der Islam im Norden dienen vielen Menschen als zentraler Lebensinhalt, das Wort Gottes als oberstes Gesetz. Die Hingabe zum Herrn wird jedoch nicht in sich hineingemurmelt, sondern laut herausposaunt: Es wird gerasselt, getrommelt, gesungen, getanzt und geklatscht. Die überquellende Lebensfreude muss zum Ausdruck gebracht werden. Der Frohsinn und die Herzlichkeit sind allgegenwärtig.

Diese Mentalität spiegelt sich in allen Aspekten des "Ghanaian Way of Life" wider. So auch in der "zweiten Religion", dem Fußball. Im Vordergrund steht nicht das Gegeneinander und das Gewinnen, sondern die Kunst mit dem Ball am Fuß. Egal ob mit Sportschuhen, Flip Flops oder sogar barfuß: Während sich die Frau, Mutter oder Schwester um den Haushalt kümmert, wird auf den staubigen, steinigen Bolzplätzen gekickt, was das Zeug hält.

Die Glorifizierung Europas

Nur die wenigsten der 25 Millionen Ghanaer schaffen es in den Vereinsfußball und in die Stadien des Landes. Für einen nicht unbeträchtlichen Teil der armen Bevölkerung ist es das höchste Lebensziel, die glorifizierte westliche Welt zu erreichen.

Weiße "Obrunis" sind in einigen Teilen des Landes trotz der Globalisierung noch eine Attraktion und werden in der Regel mit überbordender Gastfreundschaft und Freundlichkeit, aber oft auch mit finanziellen Erwartungen empfangen. Die kleine Oberschicht entsendet ihre Sprösslinge meist zum Studium in die USA oder nach England und die großen fußballerischen Talente wechseln üblicherweise früh nach Europa.

Wer sich durchsetzt, ist in Ghana ein Held. Durch den Exodus der Starspieler ist das Interesse der kundigen Bevölkerung an den europäischen Ligen riesig. Während Bundesliga und Serie A etwas hinterherhinken, stehen Primera Division und Premier League hoch im Kurs. Hitzige Debatten um Cristiano Ronaldo vs. Lionel Messi und Real Madrid gegen FC Barcelona sind an der Tagesordnung. In England stehen Chelsea und Manchester United im Fokus.

Ein ganzer Kontinent wäre enttäuscht

Große Emotionen haben zwar auch im Vereinsfußball ihren Platz, aber beispiellos ist der Patriotismus, der bei den wichtigen Matches der Black Stars überhand nimmt. Wer sich keinen Fernseher leisten kann, fiebert bei den Nationalspielen übers Radio mit oder findet den Weg in die nächste Kneipe.

So wird es auch beim dritten Vorrundenspiel gegen Portugal (18 Uhr im LIVE-TICKER) sein, das ähnlich dramatisch wie das Viertelfinale 2010 werden könnte. Nur mit einem Sieg kann Ghana den Einzug in die K.o.-Runde schaffen - und gleichzeitig muss die USA gegen Deutschland verlieren.

Wer die Black Stars gegen das DFB-Team gesehen hat, weiß, dass sie zu allem fähig sind. Asamoah Gyan jedenfalls arbeitet gekonnt an der Aufarbeitung seines Traumas und daran, Ghana vier Jahre später in kollektive Ekstase zu versetzen.

Der Kader der Black Stars

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