Authentisch, aber gratwandernd

Joachim Löw strahlte bislang Zuversicht vor der EM aus
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Persönlich geht Joachim Löw mit besseren Vorzeichen ins Turnier als 2014 vor der WM. Die Baustellen der deutschen Mannschaft dagegen sind noch nicht abgeschlossen. Der Bundestrainer hat aber einen Plan. Triumph oder Rückfall stehen dennoch nah beieinander.

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Nicht viele glaubten 2014, dass Joachim Löw nach der WM noch Trainer der Nationalmannschaft sein würde. Als Ruhe bringende Alibihandlung bewerteten damals einige seine kurzfristige Vertragsverlängerung bis zur EM 2016.

In der Zeitspanne von der EM-Pleite gegen Italien 2012 bis zum Beginn des globalen Kräftemessens in Brasilien hatte sich seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit durchaus verändert - vom deutschen Fußballmodernisierer und -verschönerer hin zum missverständlichen Eigenbrötler.

Löw war zunehmend in die Kritik geraten. Bei der WM stand er wie kaum ein anderer Trainer im Fokus. Höchstens Selecao-Machthaber Luiz Felipe Scolari trug beim Heim-Turnier eine noch größere Bürde als der deutsche Bundestrainer.

Die deutsche Erwartungshaltung erlaubte nur den Titel. Mit einer Mannschaft, die den Teamgeist zur Perfektion trieb, holte er ihn. Ein ganzes Land feierte den Bundes-Jogi, entledigte sich seiner Urteile und sandte Löw auf den Fußball-Olymp. Seine neuerliche Vertragsverlängerung nur etwa acht Monate später bis 2018 war auf einmal mehr Segen als Überraschung.

Breite Brust sportlich nicht gerechtfertigt

Mit dem Titel in der Vita erlangte Löw in Deutschland so etwas wie seine Daseinsberechtigung. Mehr als das, eigentlich: Für Monate hatte er sich eine Art Freifahrtschein gesichert, schließlich hatte er den Beweis geliefert, ein Turniertrainer zu sein - oder jedenfalls topausgebildete Spieler binnen weniger Wochen dahin zu bringen, im Kollektiv Unbezwingbarkeit zu verkörpern.

Und so hatte Löw im Vorlauf zur EM in Frankreich überwiegend seine Ruhe. Klar wurden einzelne Personalentscheide gelegentlich mal etwas kritischer beäugt, im Großen und Ganzen ließ man den Bundestrainer aber einfach machen. Trotz der durchwachsenen Qualifikation. Trotz wiederholter Flops in diversen Länderspielen, die Löw als "gewisse Sättigung" abstempelte. Trotz phasenweise fehlender Spannung im Team, individueller Schlampigkeiten und Inspirationslosigkeit in der Offensive.

Schließlich weiß ein Mann seiner Klasse, was er tut. Davon muss man spätestens seit 2014 ausgehen. Und spätestens seitdem die Mannschaft im Juli vor zwei Jahren am Brandenburger Tor öffentlich den Unterschied zwischen der Gangart der Gauchos und jener der Deutschen zur Schau stellte, hält man das DFB-Team im eigenen Lande ohnehin für das Nonplusultra. Wenn es ernst wird, schlagen wir jeden. So lautet Deutschlands Grundtenor.

Genaue Taktung der Abläufe

Doch bei aller Euphorie und Gewöhnung an den Erfolg laufen sich in diesen Tagen hinter den Kulissen des Nationalteams mehrere Offizielle ordentlich einen Wolf. Denn das Team, wie es am 24. Mai in Ascona zusammentraf, ist noch nicht turniertauglich. Hätte Löw seine Truppe vor einer Woche in den Wettbewerb entsenden müssen, die Nation hätte womöglich ihr Waterloo erlebt.

Bis zum deutschen EM-Start am Sonntag müssen noch mehrere Hebel betätigt werden. Ganz zu schweigen von der entscheidenden Turnier-Periode ab der K.o.-Runde. Bis dahin muss einiges nach Plan laufen, dass Löw den Fußball zeigen kann, den er zeigen möchte. Mit den Spielern, die er einsetzen möchte.

Wie aktuell vieles beim DFB ist der Plan der Trainer genau getaktet. Rückkehr der Rekonvaleszenten, taktische Schwerpunkte, Spritzigkeit, Standards: Auf dem Weg zum vierten EM-Titel müssen mehrere Faktoren zusammenspielen. Alles andere würde Deutschlands sportlichen Einfluss auf das Turnier deutlich einschränken.

Die Zeit ist knapp

Nach außen gibt sich Löw bislang unaufgeregt. Selbst die jüngsten Erschwerungen durch die Verletzungen von Marco Reus und Antonio Rüdiger brachten Deutschlands Entscheidungsträger nicht vom vorgegebenen Weg ab: "Wir werden unsere Ansprüche nicht nach unten schrauben", sagte Löw am Mittwoch ausdrücklich.

Der auch aufgrund seines badischen Dialekts stets natürlich wirkende Löw hat eine gute Übersicht über Entwicklung und Baustellen seines Teams. Er selbst kann am besten einschätzen, wo der gesamte Kader steht und wer für die Startelf in Frage kommt.

Doch die Zeit ist knapp. Standards sollen "anders behandelt werden, als wir es bisher getan haben", erklärte Löw, dessen Hauptaugenmerk vor allem auf den ruhenden Bällen in der Defensive liegt. Nach der intensiven Muskel- und Mentalarbeit der letzten Tage geht es nun um die Übersetzung der Schnelligkeit und Kompaktheit. Löws Mannschaft muss nicht nur das Bewusstsein für die Laufwege beim Besitz des Balles wieder schärfen, sondern vor allem auch die Abstände zwischen den eigenen Ketten in der Rückwärtsbewegung. Das sah zuletzt nicht wirklich stimmig aus.

Und drumherum sollen Mats Hummels, Bastian Schweinsteiger und die zu Beginn der Woche leicht angeschlagenen Jerome Boateng und Sami Khedira ihre Topform erlangen. Weitere Unannehmlichkeiten in Form von Verletzungen dürfen jetzt nicht mehr hinzukommen.

Zwei-Phasen-Modell? Vorhut und Stammkräfte!

Die würden vor allem auch Löws zuletzt zitiertes "Zwei-Phasen-Modell" durcheinanderbringen. "Ich benötige zwei Mannschaften für dieses Turnier", hatte der 56-Jährige im Interview mit der Süddeutschen Zeitung gesagt: "Eine Mannschaft bis zum Achtelfinale - und dann eine zweite Mannschaft."

Für den ersten Part gegen tiefstehende Gegner sehe er eher die Kämpfertypen vor. Gegen die Mitfavoriten wie Frankreich oder Spanien brauche er andere Spielertypen, so Löw. Eine schwammige Erklärung. Denn auch die Spieler, die Löw als spielstärker erachtet, müssen später im Turnier Kampfgeist und Willen einbringen.

Was Löw aber meint, ist, dass er sich auch voll und ganz auf seine zweite Reihe verlassen können muss, solange Hummels, Schweinsteiger oder auch Khedira nicht über 90 Minuten vorangehen können. Spieler wie Höwedes, Mustafi, Can oder vor seiner Verletzung auch Rüdiger sind die Vorhut. Sie legen den Grundstein für eine erfolgreiche Endrunde - und sind deshalb nicht minder wichtig.

Löw: Authentisch, aber gratwandernd

Als amtierender Weltmeister trägt man von vornherein eine besondere Plakette auf dem Trikot. Deutschland ist die Mannschaft, die es zu schlagen gilt, wenngleich der Respekt vor dem DFB-Team in den vergangenen Monaten etwas nachgelassen hat: "Ich habe die Deutschen in den letzten Spielen gesehen und nur "hmm" gedacht. Ihnen fehlt ein echter Torjäger. Deshalb glaube ich nicht, dass sie Topfavorit sind. Es gibt nicht den einen Favoriten", sagte Thierry Henry unlängst der BBC.

Löw ist mit seiner Mannschaft nach Frankreich gekommen, um das zu widerlegen. Den Verletzungsumständen trotzend, auf der persönlichen Erfolgsformel beharrend.

Deutschlands Trainer ist sich immer treu geblieben: Seine Abgeklärtheit und Entschiedenheit sind authentisch. Und selbst für ihn untypische Neuerungen, wie zum Beispiel die Einführung der Dreierkette, handhabt er auf seine Art und Weise. Wenn das wie 2014 gut geht, erntet er Legendenstatus. Bleibt der EM-Titel aus, könnte er in alte Bewertungsmuster fallen.

Der Job als Bundestrainer ist ein zweischneidiges Schwert - in diesem Jahr nicht minder als zuvor. Es ist eine Gratwanderung.

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