Abschied von einem Mann ohne Gesicht

Julian Draxler wird den VfL Wolfsburg aller Voraussicht nach im Winter verlassen
© getty

Mitten im Chaos um Geldgeber VW und weiterhin im sportlichen Sturzflug hat man beim VfL Wolfsburg eingesehen: Julian Draxler wird den Verein im Winter doch verlassen dürfen. Sogar müssen.

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"Wir haben den Kader so zusammengestellt, dass wir europäisch spielen. Das ist unser Ziel und unser Anspruch. Und es gibt auch keinen Plan B."

Große Worte, vor allem klare Worte. Gesprochen von Francisco Javier Garcia Sanz, Vorstand von Volkswagen und Aufsichtsratsboss, im vergangenen September. Kurz nach dem Machtwort von Manager Klaus Allofs, mittlerweile Ex-Coach Dieter Hecking und VW, dass die kommenden VfL-Erfolge mit und von Julian Draxler eingefahren werden sollen, der den Klub nicht verlassen darf.

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Drei Monate sind seit diesen Worten ins Land gezogen. Einen Trainerwechsel haben sie am Mittellandkanal gesehen. Und viel schlechten Fußball. Die Wölfe stehen auf Platz 15 der Tabelle, drei Punkte weg von einem direkten Abstiegsplatz. Die im September formulierten Ziele und Ansprüche, aufgelöst in Luft. Trotz der VW-Millionen, trotz des Transfers von Mario Gomez, trotz des teuersten Spielers der Mannschaft: Julian Draxler.

Im Chaos, das aktuell nicht nur den Klub, sondern auch die gesamte Stadt heimsucht, ist Letzterer mit das größte Thema. Im Sommer hatten sie ihm verboten zu gehen, jetzt sehnt man sich beim VfL wohl nach der Winterpause, der nächsten Transferperiode. Man bekommt das Gefühl: Draxler darf nicht nur gehen. Er soll gehen. Denn aktuell ist der Hochbegabte nur noch Ballast.

Kein Typ, der gewinnen will

Trotz des Theaters im Sommer war er in der Liga immer gestartet, nur zweimal musste er mit einem Muskelfaserriss aussetzen. Doch dann kam dieser vorletzte Samstag, dieser grünweiße Tiefpunkt, als man sich vom Tabellenletzten aus Ingolstadt schwindelig spielen ließ, mit exzessivem Glück ein 1:1 erschlich und Trainer Valerien Ismael entsetzt davon sprach, ab sofort nur noch auf "Typen, die gewinnen wollen" zu setzen.

Eine Art, der Draxler beim VfL augenscheinlich nicht mehr zugerechnet wird. So saß der Nationalspieler vergangenen Samstag gegen die Hertha 78 Minuten lang auf der Bank. In den zwölf Minuten, die er spielen durfte, gelang ihm weder sein erstes Saisontor, noch seine erste Vorlage, noch irgendetwas Zählbares. Vielmehr musste Draxler mit ansehen, wie die Wölfe das Spiel in der Schlussminute noch wegwarfen.

Und er musste mitanhören, wie die Volkswagen Arena ein unerbittliches Pfeifkonzert anstimmte. Einmal bei seiner Einwechslung, nochmal, als er das Feld verließ und die Katakomben hinabstieg. "Was diese Pfiffe mit einem Menschen machen, kann sich jeder denken", sagte er jüngst in der Bild, dem Medium, dem er im Sommer seinen Wechselwunsch anvertraut hatte. "Die Fans haben das Recht dazu, förderlich ist das ganz sicher nicht."

Die Fans hatte der 23-Jährige aber nicht gegen die Hertha verloren und auch nicht gegen Ingolstadt. Angeblich sollen sich sogar Diego Benaglio und Marcel Schäfer zu Saisonbeginn mit den Ultras der Wölfe getroffen haben. Der Tenor: Keine Pfiffe, kein Transparente, Draxler gehört zum Team. Da war es noch nicht lange her, das Draxler verkündete, wie gerne er den Verein nach einem Jahr wieder verlassen würde.

Zu Höherem berufen?

Der Mann, der das Gesicht des FC Schalke 04 war. Der kommende Weltstar aus den eigenen Reihen. Der aber wegwollte, sich weiterentwickeln, zu Höherem berufen fühlte und für 35 Millionen zum VfL Wolfsburg ging. Dort sollte er, mit einem Vertrag über fünf Jahre ausgestattet, das neue Aushängeschild des Vereins werden, das neue Gesicht der Wölfe. Nach nur einem Jahr wollte er dieses Gesicht aber auch nicht mehr sein.

Lieber eines von vielen Gesichtern bei Arsenal, bei Paris, die im Sommer angeblich Preise jenseits der 70 Millionen Euro gezahlt hätten. Doch Allofs, Hecking, VW - sie alle hatten gehofft, sich noch lange am teuersten Transfer der Klubgeschichte zu erfreuen. Mittlerweile sind die gutgemeinten Parolen über Identifikation, Einsatz und Vertrauen aber verklungen.

"Wir würden den Wechselwunsch anders bewerten und es kann sein, dass wir es beim nächsten Mal anders machen und die Freigabe geben würden." Es sind Sätze wie dieser von Allofs, die mittlerweile aus der Führungsriege kommen. Oder: "Wir konnten den Verlust von Kevin de Bruyne und Ivan Perisic nicht auffangen. Das hat zu einem Qualitätsverlust geführt."

Es sind ehrliche Worte des Klubchefs, die mehr sind als ein Eingeständnis eigener Fehler. Es ist auch ein vernichtendes Zeugnis für Draxler, der geholt wurde, um eben jene Lücke eines de Bruyne zu schließen, der damit in seinen anderthalb Jahren krachend gescheitert ist, sich aber trotzdem bei Europas Schwergewichten sieht.

"Mir ist egal, wer am Ende auf der Tribüne sitzen muss"

Auch die aktuelle Lage des VW-Konzerns spielt in Draxlers Zukunft mit hinein. Der Konzern ist arg mitgenommen durch die Folgen des Dieselskandals, ob es sich der Automobilgigant leisten kann, weiterhin Abermillionen in den VfL zu pumpen, ist alles andere als sicher.

Vielmehr wird hinter den Kulissen über einen Strategiewechsel gemunkelt. Weniger Geld für den Klub und der Verkauf einiger Stars stünden eventuell an, heißt es. Um den ersten Kandidaten zu erraten, braucht es keine drei Versuche.

Der hat vielleicht auch schon sein letztes Spiel für die Wölfe bestritten. "Ich beteilige mich nicht an der Diskussion, ob es Sinn macht, die letzten Spiele mit Julian zu bestreiten", sagte Ismael nach dem erneuten Offenbarungseid seiner Mannschaft. "Ich schaue mir die Leistungen an, lasse mir alle Optionen offen." Denn: "Mir ist egal, wer am Ende auf der Tribüne sitzen muss..."

Ob nun auf der Tribüne, auf der Bank oder dem Platz: Dass Draxler seine letzten Wochen in Wolfsburg verbringen wird, gilt als sicher. Er habe "im Sommer ja schon alles Wesentliche" zu seinem Wechselwunsch gesagt, erneuerte er selbigen nach seinem Zwölf-Minuten-Einsatz am Samstag.

"Ich glaube", hat Draxler auch gesagt, "dass der Verein und die Umgebung hier zurzeit größere Probleme haben als meine Person." Der Verein, nicht "wir". Die Umgebung hier, nicht "wir". Sein Verein ist der VfL wohl jetzt schon nicht mehr.

Julian Draxler im Steckbrief