Nimmt man die Leistungen der vergangenen Wochen als Maßstab - die elfte Auswärtspleite der Saison in Freiburg passte in dieses Mosaik der Enttäuschungen -, hat 96 in einem internationalen Wettbewerb nichts zu suchen. Es ist ein trostloses Bild, das die Mannschaft in diesen Tagen abgibt. Die großen Fragen sind: Warum ist das so? Und wie konnte es dazu kommen?
Die Hinrunde war nicht umwerfend, aber die Punktebilanz lag im Bereich der beiden erfolgreichen Spielzeiten davor. Mit Beginn der Rückrunde zeigt die Formkurve nach unten. Kann sich jemand an ein richtig gutes 96-Spiel im Jahr 2013 erinnern? Grübel, Grübel... Eines gab es: der 23. Februar, das 5:1 gegen Hamburg. Seitdem schleppt sich die Mannschaft über die Runden und hat dabei nicht nur Spiele verloren, sondern - und das ist viel schlimmer - auch die Überzeugung.
In den vergangenen beiden Spielen gegen Stuttgart (0:0) und in Freiburg stand eine Mannschaft auf dem Platz, die mut- und planlos wirkte. Man konnte Profis beobachten, die gerne davon erzählen, was für ein tolles Erlebnis Europacupabende sind, zuletzt aber nicht den Eindruck erweckten, dass sie alles für dieses Ziel zu tun bereit sind. Es ist eine böse Frage, aber sie ist nach solchen Leistungen erlaubt: Kann wirklich jeder Spieler nach dem Abpfiff in der Kabine von sich behaupten, alles an Leidenschaft investiert zu haben? Wer regelmäßig 96-Spiele sieht, kennt die Antwort, denn er weiß: Leidenschaftlicher 96-Fußball sieht anders aus.
Na klar, mit Szabolcs Huszti fehlt ein wichtiger Spieler, Lars Stindl war lange verletzt. Aber personell geht es anderen Klubs nicht besser; außerdem hat 96 einen Kader, mit dem Trainer Slomka in der Lage sein müsste, das größtenteils aufzufangen. Niemand wird behaupten, dass Freiburg einen besseren Kader hat als 96. Es muss also an anderen Dingen liegen.
Nicht zu übersehen ist der Leistungsabfall mehrerer Profis. Mame Diouf ist das auffälligste Beispiel dafür, wobei schwer zu sagen ist, inwieweit das Interesse anderer Klubs ihn durcheinanderbringt oder ob er einfach ein Formtief hat. Aber es ist ja nicht nur Diouf: Didier Ya Konan, Sergio da Silva Pinto, Sébastien Pocognoli, Jan Schlaudraff, Manuel Schmiedebach - sie alle können es viel besser. Dass in Freiburg selbst einer wie der zuverlässige Torwart Ron-Robert Zieler bei zwei Gegentoren schlecht aussah, spricht für eine gewisse Ansteckungsgefahr: Einer verunsichert den anderen.
Wenn bei einer Mannschaft und ihren Spielern das Missverhältnis zwischen Potenzial und gezeigter Leistung derart groß ist wie bei 96, landet man zwangsläufig beim Trainer. Wer in die Fanforen im Internet schaut, entdeckt in dieser Hinsicht mehr kritische Stimmen als früher. Aber ist Slomka plötzlich ein schlechterer Trainer als vor einem halben Jahr? Natürlich ist er das nicht. Aber ihm ist sein glückliches Händchen bei der Aufstellung abhanden gekommen, ein wenig auch die klare Linie.
Muss Slomka nicht einem wie Hiroki Sakai mal zwei, drei Spiele am Stück geben, damit er Fuß fassen kann? Hätte er einem sensiblen Profi wie Schlaudraff nicht mehr Vertrauen schenken müssen, statt ihn immer mal wieder auf die Bank zu setzen? Was ist eigentlich aus dem frühen Stören des Gegners geworden, das 96 mal praktizieren wollte und aus dem ein Wir-warten-an-der-Mittellinie-und-schauen-was-der-Gegner-macht geworden ist? Und warum wirkt 96 in der Schlussphase nicht wie ein Team, das kräftemäßig noch einmal zulegen kann?
Jeder einzelne Aspekt für sich wäre vermutlich kein großes Problem, zusammen führt alles dazu, dass 96 nicht mehr spielt wie 96. Ausgerechnet jetzt kommen am Sonnabend die Bayern. Keine schlechte Gelegenheit, sich an alte Stärken und Tugenden zu erinnern. Die letzte Gelegenheit in dieser Saison.
Mirko Slomka war hin- und hergerissen: Nach der 1:3-Niederlage in Freiburg hatte er gesagt, dass "wir nicht den Anspruch anmelden sollten, dass wir noch eine Chance auf Europa haben". Bei der Frage, ob damit das Thema Europa League für ihn abgehakt sei, war der 96-Trainer schon zögerlicher und meinte, dass man "nie nie sagen sollte". Doch nach dem misslungenen Auftakt des 29. Spieltages am Freitagabend folgten am Wochenende Ergebnisse, die die "Roten" im Rennen um die internationalen Plätze halten. Platz 5 (derzeit belegt vom SC Freiburg) ist mit sieben Punkten Abstand vermutlich nicht mehr erreichbar. Aber bis zum 6. Platz, der ebenfalls noch in die Europa League führt und den Eintracht Frankfurt besetzt, sind es nur vier Punkte. Das ist - eine gewaltige Leistungssteigerung vorausgesetzt - immer noch machbar.

Über einen Rücktritt des Sportdirektors der "Roten" wurde immer wieder spekuliert - und Kind heizte diese Mutmaßungen in immer wieder neuen Interviews an. "Wenn dieser Wunsch konkret geäußert wird und eine Basis nicht vorhanden ist, dann wird man sicher offen und ehrlich über alles reden müssen", sagte der 68-Jährige etwa dem NDR-"Sportclub". Der Nachsatz, dass er gern mit Schmadtke und Trainer Mirko Slomka, die sich im Dauerclinch befanden, weiter arbeiten würde, klang eher halbherzig.
Schmadtke selbst wollte sich zu den Spekulationen um seine Person und seinen möglichen Rücktritt nicht großartig äußern. Seine Antwort ließ aber viel Raum für Spekulationen. "Das ist nicht der richtige Zeitpunkt", sagte er am Montag. "Solche Dinge sollten zuerst hausintern besprochen werden." Die von Klubchef Kind angekündigten Gespräche tat der 49-Jährige eher salopp ab: "Ich rede jeden Tag mit meinen Mitarbeitern und anderen Vereinsmitgliedern. So zu tun, als sei ich ein Stummfilmstar der nicht spreche, ist nicht richtig."
Und am Ende ging alles ganz schnell. Gegen 13.10 Uhr setzten sich Martin Kind und Jörg Schmadtke am Mittwoch zu einem klärenden Gespräch zusammen. Bereits um kurz vor 14 Uhr traten beide vor der Zentrale von Kinds Hörgeräteunternehmen in Großburgwedel gemeinsam vor die wartenden Journalisten und verkündeten, was sich in den vergangenen Tagen und Wochen bereits angedeutet hatte: Schmadtke wird den Fußball-Bundesligisten verlassen. Und zwar sofort. Sein unbefristeter Vertrag wird zwar erst zum 30. Juni dieses Jahres aufgelöst, doch von Sonnabend an ist der 49-Jährige freigestellt - er wird schon beim Heimspiel gegen den FC Bayern München nicht mehr im Stadion sein.
Wer wird Nachfolger von Jörg Schmadtke? In zwei bis drei Wochen will Martin Kind einen Nachfolger für Sportdirektor Jörg Schmadtke präsentieren. "Das wäre zumindest mein Ziel", sagt Kind, der bis dahin selbst ins Tagesgeschäft des Fußball-Bundesligisten einsteigen wird.
Kind will so schnell wie möglich ein Profil definieren und dann zügig handeln. "Es wird sich sicher am Profil von Schmadtke orientieren - wir suchen einen ähnlichen Typen", sagte Kind, der zudem ein weiteres Kriterium nennt: "Wir wollen niemanden aus einem Vertrag herauskaufen." Doch einen Mann zu finden, der ähnliche Qualitäten wie Schmadtke besitzt und sofort verfügbar ist, dürfte eine überaus ambitionierte Aufgabe sein.
Kandidaten, auf die dieses Profil zutreffen könnte, sind Jürgen Rollmann und Jan Schindelmeiser. Der ehemalige Hoffenheimer Manager wurde bereits häufiger als Kandidat gehandelt. Zumindest das Kriterium "sofort verfügbar" erfüllen Andreas Müller, der Slomka bei Schalke 04 zum Cheftrainer beförderte, Jens Todt sowie Dieter Hoeneß. Und dann gäbe es ja auch noch die interne Lösung mit Valérien Ismaël, der einst bei Schmadtke lernte. Einen Nachfolger für den Trainer der Reserve könnte 96 auch gleich vor der Haustür finden: André Breitenreiter vom TSV Havelse.