Hinter meinem Schreibtisch in einer einsamen Ecke hängt ein altes Kölner Stadionposter, das mich nunmehr seit drei Umzügen begleitet. Es ist das letzte Überbleibsel eines einstmals mit Postern, Zeitungsausschnitten und Schals tapezierten Kinderzimmers und ein kleiner Ersatz für die in den letzten Jahren immer seltener gewordenen Besuche in Müngersdorf. Und wenn ich mein Fandasein ehrlich hinterfrage, muss ich tatsächlich eingestehen, dass es durch die allmählich weißer werdende Tapete recht gut versinnbildlicht wird. Daran, dass der Fussball für mich nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, besteht kein Zweifel, die Art und Weise, mit der ich ihn betrachte hat sich hingegen deutlich gewandelt.
Der tiefe Fall eines jungen Optimisten
Angefangen hatte alles in einer Zeit, in der die Kölner Aufstellung zwar noch von Namen wie Toni Polster oder Bodo Illgner geschmückt wurde, sich Anspruch und Wirklichkeit jedoch langsam voneinander zu entfernen schienen. Auf eine Phase ununterbrochener Erstligazugehörigkeit folgten jene knapp zwanzig Jahre mit fünf Abstiegen, 14 Trainerwechseln und zahllosen unsäglichen Transfers, die so manche Fanliebe auf die Probe stellten und stellen. Für einen kleinen Fan, wie ich es war, der in der Schule stolz sein Trikot trägt und es auch nach dem sommerlichen Sportunterricht ohne zu zögern seinem Deutschlehrer zumutet, spielen solche Nebensächlichkeiten keine Rolle. Auch nach vier Niederlagen in Folge würde er Taschengeld, Pausenbrot und Restwürde auf einen Sieg beim nächsten Auswärtsspiel gegen den formstarken Tabellenführer setzen. Er lebt in einer romantischen Welt, in der das Gute - und nichts anderes ist sein Verein für ihn - am Ende doch über das wöchentlich in anderen Trikots daherkommende Böse triumphiert. Auf dem Bolzplatz ahmt er die Tricks seiner Vorbilder nach (hier hat er es ausnahmsweise mal leichter, als andere Fans) und hätte er Locken, so ließe er sie wachsen und mit grauen Strähnchen versehen. Mit anderen Worten: Kindliche Fanliebe kennt weder Vernunft, noch Ästhetik.
Doch überraschend wird der kleine Fan älter. Langsam entwickelt sich eine kritische Distanz, die einen Torschuss nicht mehr dem Adressaten, sondern dem Erfolg nach beurteilt. Weiterhin verteidigt er seinen Verein gegen überhebliche Erfolgsfans, das verschwitzte Trikot muss jedoch neuerdings dem modischen Markensweatshirt weichen, insbesondere dann, wenn in der Folgestunde statt Nachbars pickeligem Panz die einzige Klassenkameradin neben ihm sitzt, die mit vollem Recht einen BH trägt. Hier bekommt die persönliche Romantik des Fans Zuwachs, der Verein aber bleibt weiterhin ein bedeutender Teil derselben.
Einige Jahre später ist der Fan seinem ersten Trikot längst entwachsen und die Bereitschaft, das durch mühsames Zeitungsaustragen zusammengesparte Minivermögen in ein neues zu investieren hält sich in überschaubaren Grenzen. Der regelmäßige Stadionbesuch bleibt ein Highlight, von Romantik kann aber nicht mehr die Rede sein, wenn der nun gar nicht mehr putzige Fan je nach Spielverlauf diversen am Spielgeschehen Beteiligten schreiend und spuckend unangenehme Krankheiten und verwerfliche Verwandtschaftsbeziehungen attestiert. Unter diesen so unschön kritisierten Beteiligten befinden sich zudem in zunehmender Häufigkeit auch jene, die die eigenen Farben tragen.
Heute ist aus dem kleinen Fan ein, zumindest dem Alter nach, Erwachsener geworden. Der kindlich-naive Optimismus ist nebst jeglicher romantischen Regung endgültig zugunsten einer bisweilen zynischen Ironie zurückgedrängt worden. Die meisten Spiele werden von der Couch aus betrachtet und trotz toller Saison und Aufstieg wird jede Neuverpflichtung für Liga 1 etwa so wohlwollend begrüßt, wie von Großvater die Erkenntnis, dass Lifta ohne ihn, dafür aber mit der zugehörigen Fernbedienung treppabwärts gleitet.
Leidensgenossen aus der Vergangenheit
Ohne Frage hat der Verein seinen Beitrag zur geschwärzten Fanseele geleistet (Abstiege, Michael Meier, die öffnenden Pässe von Martin Lanig), doch hat er es wirklich verdient, dass er bestenfalls noch aus alter Gewohnheit unterstützt wird? Wäre es nicht auch für mich einfacher, wieder etwas mehr von dem kleinen unverwüstlichen Fan zu wecken, der ich einmal war? "Nein", sagen meine Freunde, "Nein", spricht die Vernunft, "Spinnst du?", fragt mein Arbeitskollege. Nur von der Tribüne auf meinem einsamen Poster schauen mich unzählige Augenpaare an, als wollten sie sagen: "Warum nicht? Jetzt ist der beste Zeitpunkt dafür!". Recht haben sie. Ich habe doch nichts zu verlieren, wenn ich mit der festen Erwartung eines Champions League Platzes in die neue Saison gehe. Und was spricht eigentlich dagegen, dass wir den DFB-Pokal gewinnen? "Alles", rufen meine Freunde, die Vernunft und mein Arbeitskollege im Chor. "Seid still!", befehle ich ihnen, "ich bin jetzt wieder in meiner eigenen Welt und da ist es total schön". In der Welt, in die ich mich begebe, hat die Vernunft nämlich gar keinen Platz, denn es ist die Welt eines echten Fans. Es ist eben jene romantische Welt, in der mein Fandasein seine kindlichen Wurzeln hat.
Romantik
Der Begriff Romantik ist übrigens deshalb so passend, weil seine Urheber einen ähnlichen Umgang mit der Wirklichkeit pflegten, wie der oben beschriebene kleine Fan. Die Frühromantiker verabschiedeten sich bewusst aus der unter anderem infolge der napoleonischen Kriege als unbefriedigend empfundenen Wirklichkeit, um sich fantastischen oder märchenhaften Themen zuzuwenden. Zwar sind die Kölner Niederlagen nicht wirklich mit den Kriegen des 18. und 19. Jahrhunderts zu vergleichen, jedoch treten sie zumindest in ähnlicher Regelmäßigkeit auf. Und die Übertragung des romantischen Umkehrschlusses funktioniert sogar noch besser, denn niemand würde ernsthaft behaupten, dass der Kombination aus Champions League-Platz und Pokalsieg des 1. FC Köln nicht etwas Märchenähnliches anhafte.
Zurück in die Zukunft
Also: Sollte es in der kommenden Saison doch nichts werden mit der Champions League, dann ziehe ich mich mit meinem nagelneuen Trikot in eine Märchenwelt zurück. Dort wird eine grandiose Saison mit vier Punkten gegen das bayrische, von fiesen Trollen bewohnte Märchenschloss und natürlich von der anschließenden Rückkehr des Prinzen gekrönt. Wenn ich dann mit verschwitztem Trikot in die Wirklichkeit zurückkehre, dann denke ich gar nicht erst daran, es auszuziehen, denn echte Fans sind wie kleine Fans: Sie kennen weder Vernunft, noch Ästhetik! Und weiße Wände haben ohnehin nur wenig mit dem Erwachsen-Sein zu tun.
Dafür muss man, wie ich aus eigener Erfahrung weiss, kein Kölner sein, auch wenn es "hilft" - das geht auch, mal mehr, mal weniger, mit anderen Vereinen.