Es sind Steine. Nicht weniger als das. Sie liegen am Boden herum. Bewachen das Wasser, hindern es daran die Ufer zu übertreten. Es ist kalt und klar. Jedes Molekül kurz vor dem Stillstand. An windstillen Tagen spiegelt sich der Mond auf der Oberfläche. Der Natur so nah erscheint es plötzlich unnatürlich. Fiktion von ganz weit weg. Ein Ort, dessen Aura mehr Generationen überlebte, als man es in Jahresringen messen könnte. Hölzerne Fantasien übermalen die Szenerie in Purpur und Gold, bestimmen über Zeit und Raum.
Wenn im Frühjahr der Wind durch die Äste zischt und den jungen Trieben neues Leben einhaucht, zerstört er die Illusion von Perfektion und Unfehlbarkeit. Er füllt die Lücken des Raumes mit Bewegung, lässt neues entstehen. Greifbar für jeden, der nur schaut, der sich traut hinüber zuschauen. Tod und Vergänglichkeit nähren den Boden, fördern den Wandel.
Irgendwann folgt der Sommer. Nicht hier, dort wo er lebt. Das Frühjahr bleibt. Die Kälte, der Nebel. Der kühle Wind, der alles unter sich niederknien lässt. Alles Dinge, die er fürchtet, die ihn das fürchten gelehrt haben. So wie seine Freunde ihm das Ballspiel. Doch hier am See, gefangen im nasskalten Tagtraum, laufen die Dinge anders. Niemand spielt Fußball. Er ist allein. Allein mit sich. Allein mit der Welt, die schroff und ungemütlich ist. Er steht am Ufer. Wirft Steine, versucht den Horizont zu erahnen. Er erscheint endlos. Ein nicht enden wollendes Gefängnis aus eiskaltem Wasser.
Es wartet. Auf ihn. Darauf, dass er hineinspringt. Dass sein Herz aufhört zu schlagen, wenn sie sich treffen. Wenn er aufschlägt, die Oberfläche durchschlägt und in Richtung Boden sinkt. Und mit jedem Stein, den er gen Horizont schleudert, steigt das Wasser. Schwächt er den Schutzwall, der das leidbringende Wasser zurückhält. Immer und immer wieder, Tag und Nacht, wirft er Steine. Wirft sie so stark wie er kann, ohne dabei zu merken, wie tief er schon im Wasser steht.
Er friert und merkt die Kälte nicht. Er weint und doch spürt er die Tränen nicht. Er möchte aufhören und findet die Kraft nicht. Er sieht nur den Tunnel und den Horizont, verkennt die Chance aufzugeben, alles neuzuordnen und voran zuschreiten. Die Ausflucht, so aussichtlos, dass er beinahe daran zerbricht. Er kann nur nach vorne gehen. So hat er es gelernt. Der Kopf, die Abrissbirne, die das Gemäuer zu Fall bringt. Anders ging es nie und anders hatte es nie seien sollen.
Und doch, als der letzte Stein schon seine Handflächen auszufüllen beginnt, sieht er einen Ausweg. Ein Ruderboot schleicht sich in seinem Augenwinkel heran, schiebt sich an ihn zu überfahren. Vollkommen herrenlos, durch das Hochwasser auf den See gehoben, dümpelte es umher. Es war so simpel. Das Boot konnte ihn dorthin bringen, wo alles enden soll. Wo das Ende ein neuer Anfang ist. Er hievt sich hinein, um für immer dort zu bleiben. Um danach zu suchen, zu finden was ihm zusteht.
Es geht voran. Der Horizont, einst unfassbar weit weg, nun greifbar nah. Doch mit jedem Ruderschlag erscheint er in einer anderen Himmelsrichtung. Es scheint als drehe er sich im Kreis. Als solle er sein Ziel niemals erreichen. Das Schicksal spielt mit ihm, gab ihm Hoffnung und streut nun Zweifel wo es nur geht. Und je länger er nun nach rechts, nach und links und wieder zurück rudert, desto mehr Nebel zieht auf. Er umzingelt das Boot, umgarnt es wie eine Geliebte. Ein Bodysuit aus Dunst und Einsamkeit.
Jeder Funke, der für Hoffnung sorgt, erstickt und über Bord gegangen. Nur noch Mario. Warum immer ich? Die Fragen quälen seinen ohnehin schweren Kopf. Es fehlen ihm die Antworten. Er wusste sie nie. Er war kein Kind unschätzbarer Neugier oder Intelligenz. Seine Füße sprachen die Sprache, die sein Mund nie im Stande war zu leisten. Oft hält er inne, sucht den einen sinnvollen Gedanken, der alle Ketten sprengt. Doch er bleibt hängen, stolpert über seine eigene Ungeduld und sein Temperament. Wie oft wollte er sagen, dass es ihm leid tut, wie oft verschluckte sein Stolz all diese Ambitionen.
Und jetzt hier, in einem Ruderboot vor Kälte bibbernd, weiß er nicht weiter. Wartet auf das Licht. Den Sonnenstrahl, der den Nebel lichtet und Wärme mit sich bringt. Um zu erheitern, ihn zu erleuchten, damit alle Welt sieht worin sein Leid besteht. Darauf wartet er. Tag ein Tag aus. Immer hoffend, dass er gefunden wird. Es endlich alle verstehen. Er ist Gefangener seiner selbst. Kein Kind oder Narr. In ihm drin ist es kalt und trüb. Jeden Tag Herbst. Jeden Tag ein anderes Grau. Eine Krähe im Papageienkostüm. Karneval für die Seele. Wer kann es schon begreifen.
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