Neulich beim HSV:

Wider besseren Wissens hat es mich ins Stadion getrieben. Gut, Mannschaft spielt nicht berauschend in der Rückrunde, Trainer war von Anfang an nicht mein Geschmack, aber ich war ein paar Wochen nicht da, also musste es einfach mal wieder sein. Und anstatt mich für die leichte und lockere Variante zu entscheiden, ein hübsches kleines Spielchen in der Euro-League unter der Woche, habe ich die schwerverdauliche Variante gewählt. Ein Ligaspiel. Und keines von denen, bei denen wenigstens die Gegner richtig viel Spielkultur vermuten lassen.

Wir waren früh da, Plätze neben uns noch frei, so lange noch alles gut. Und dann kam ER. ER nicht besonders groß, aber stattlicher Bierbauch, Schnäuzer und - irgendwie hätte ich in dem Moment schon etwas ahnen können - brandneues Trikot vom HSV über das zarte Bäuchlein gespannt. Zog sich sofort die Jacke aus und drehte sich zur Seite. "Van Nistelrooy" prangte mir entgegen.

Zu diesem Zeitpunkt bestanden noch drei Möglichkeiten. 1. ER war ein jahrzehntelanger Fan mit richtig viel Ahnung, der das Team immer unterstützt und hatte sich nur in der allgemeinen Euphorie ein neues Trikot gekauft. 2. Normaler Fan, mit normal viel Ahnung mit neuem Trikot. Oder 3. die richtig nervtötende Variante: Erfolgsfan ohne Ahnung und ohne Lust, das Team zu unterstützen.

Seine hecktische Blicksuche den Gang hinauf verriet immerhin, dass er noch Begleitung erwartete, die sich aber nicht rechtzeitig blicken ließ. Die Mannschaften kamen zum Warmlaufen raus und in dem Moment zog ER seinen ersten Trumph aus der Tasche. Ein Fernglas.

Ich gebe es gerne und offen zu, ja, ich habe Vorurteile, eine Menge davon. Für mich gehören Ferngläser in die Wildnis und wenn man auf Kultur machen will, vielleicht noch in die Oper. Aber sicher nicht ins Fußballstadion.

Nachdem ER so eine Weile in seine Gläser gestarrt hatte, tickt er mich an, wedelt mit seinem Finger vor meiner Nase in Richtung Rasen und fragt:
"Wer ist denn der Schwarze da?"

Ich erst völlig verwirrt, weil man mit Fernglas die Spieler doch eigentlich noch besser erkennen müsste und auch, weil sich auf dem Rasen nicht nur ein dunkelhäutiger Spieler warm läuft, schaffe es nicht mehr, den fuchtelnden Finger zu ignorieren, sondern frage mal höflich:
"Welcher?"

Antwort, natürlich völlig präzise:
"Na der da, der richtig Schwarze."

Ah ja. Ich ahne zumindest, welchen Spieler ER meinen könnte.
"Guy Demel?!"

Setze mich dann hin, was auch besser ist, weil die Antwort mich sowieso umgehauen hätte.
"Demel? Den haben die in der Winterpause auch noch gekauft? Ich dachte, der spielt in Dortmund."

Äh ja, ist klar. Mal kurz alle Vorurteile meinerseits bestätigt. Danke auch, auf ein großartiges Spiel.

Glücklicherweise trifft dann die Begleitung ein. Beide Männer begrüßen sich herzlich und die erste Halbzeit vergeht schnell. Gut, ich sehe großzügig davon ab, dass beide Männer sich erst in Diskolautstärke über ihre Arbeit unterhalten (sie haben die Karten übrigens geschenkt bekommen...), dann noch ein bisschen lauter anfangen, über das Team zu meckern und so ab Minute 30. ihr Meckern zugunsten von ohrenbetäubendem Pfeifen einstellen.

In der Halbzeit verschwindet die Begleitung leider wieder.

ER dreht sich nach einer halben Zigarette zu mir um und ist ziemlich offensichtlich auf Kommunikation aus. Die reine Freude ergreift mich. Er lächelt mich an, als würde er sein dreijähriges Enkelkind anlächeln und fragt mit säuseligem Ton:
"Und du bist zum ersten Mal im Stadion?"

Ehrlicherweise sieht man mir bestimmt an, dass ich jünger bin, als er. Aber das ich die Grundschule verlassen habe, ist dann doch schon fast 20 Jahre her. Es gibt also, auch wenn der Ton in einem Fußballstadion natürlich anders ist, als im Geschäftsleben, keinen Grund, mit mir zu sprechen, als wäre ich ein Kleinkind.
"Äh, nein?! Nicht das erste Mal!"

Sein Gesicht verrät plötzlich ernste Entgeisterung und ich habe einen Moment keine Ahnung, warum das so ist. Bis...
"Und warum pfeifst du dann nicht? Die Millionäre müssen doch mal hören, was wir von ihrer Leistung halten."

Klar, ich hätte ihm die komplette zweite Halbzeit einen Monolog darüber halten können, wie das mit der Team-Unterstützung so richtig funktioniert, aber das wäre zu 99% reichlich verschwendete Luft gewesen, also lenke ich lieber ab.
"Ist van Nistelrooy Ihr Lieblingsspieler?"

ER lächelt plötzlich ganz breit.
"Ja, und wie. Den fand ich schon immer ganz toll! Ich habe mir jetzt extra das Trikot gekauft. Nur wegen ihm bin ich zum ersten Mal in diesem Stadion."

Ha, ich liebe Vorurteile, vor allem, wenn sie sich bestätigen. Und auf der Suche nach weiterer Bestätigung kann ich mich ja auch ein bisschen so benehmen wie ein Kleinkind, wenn ER eh schon so mit mir spricht. Also stelle ich mich dumm.
"Wo hat der vorher noch gespielt?"

Die Brust wird breiter, er plustert sich auf.
"In Spanien!"

Mein fragender Blick symbolisiert, dass ich auch gerne den Namen des Teams hätte und man sieht ihm deutlich an, dass er schon ins Überlegen kommt. Die Antwort kommt nicht mehr ganz so selbstbewusst.
"In Madrid!"

Das Madrid nicht nur einen Fußballverein hat, sage ich ihm nicht. Da man Real öfter hört, hätte ER wahrscheinlich auch noch richtig geraten.
"Und davor?"

"In Holland!"
Ja, ist klar. Holland und England kann man ja auch mal verwechseln. Immerhin haben beide Länder Fußballspieler und sie liegen beide am Meer. Ist also eigentlich quasi irgendwie das Gleiche.

Zum Glück entbindet mich seine Begleitung durch deren Rückkehr von weiteren gesellschaftlichen Verpflichtungen und ich habe das unbeschreibliche Glück, mich einem weiteren Pfeifkonzert widmen zu dürfen.
Das glücklicherweise so ab Minute 70 aufhört, weil da beide Männer wütend und natürlich schimpfend das Stadion verlassen. Natürlich nicht, ohne sich über die miese Stimmung zu beschweren.

Ich genieße den Rest des Spiels (soweit man die Leistung des HSV im Moment halt genießen kann) und gebe mich meinen Träumen hin. Kann man das Tragen von Trikots einer Mannschaft beschränken? Ist es wirklich nötig, dass ER im gleichen Moment schimpfend in der Bahn sitzt und Menschen, die nichts mit Fußball am Hut haben, in ihrer Meinung über Fans beeinflusst? Kann ich irgendwie verhindern, dass ER sich abends in Foren einloggt und seine Meinung abgibt zu einem Thema, von dem ER bewiesener Maßen keine Ahnung hat? Und muss ich das dann lesen und mich wieder ärgern?

Und beim Schlusspfiff, als das Pfeifkonzert ohrenbetäubend wird, fällt mir auf, dass auch ich einen Fehler gemacht habe. Ich hätte IHN für seine Pfeiferei anmeckern sollen, was ich nicht getan habe. Vielleicht hätte es nichts geholfen, aber wenigstens hätte ich es nicht einfach toleriert. Wahrscheinlich war ich zu sprachlos. Nächstes Mal wird mir das nicht passieren. Denn wenn irgendetwas gegen diese "Fans" hilft, wahrscheinlich nur das.