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21.09.2011 um 14:02 Uhr
Ein Tag im Mai (1)
Auf dem Weg

Noch ein letzter Blick in den Spiegel. Die Haare sitzen; Schal und Trikot ebenfalls. Schnell in die Schuhe und los geht's.

Am 19.05.2007 gegen 13:00 Uhr trete ich aus meinem Elternhaus und die Sonne sticht mir ins Gesicht. Es ist einer dieser lufttrockenen Sommertage in Stuttgart und Umgebung, in denen man pausenlos versucht mit Zunge und Lippen den Mund feucht zu halten. Doch mein Mund ist nicht nur trocken durch die Hitze, die sich wie eine schwere Daunendecke über den Körper legt. Es ist vor allem die Aufregung. Denn heute entscheidet sich, ob mein Verein - der VfB Stuttgart, zum fünften Mal den Titel als deutscher Meister erringen kann. Monate zuvor wäre dieser Gedanke noch pure Utopie gewesen, doch spätestens nach dem dramatischen Spiel in Bochum, in denen uns kurz vor Schluss noch der 3:2 Erfolg gelang, bei einer gleichzeitigen Niederlage der Schalker im Ruhrpott-Derby, war die Chance wirklich greifbar und ich mache mich auf Richtung Stuttgarter Innenstadt. Die Karten für dieses Spiel sind natürlich restlos ausverkauft und so will ich mit meinen Kumpels den Schlossplatz unsicher machen, auf dem ein großes Fanfest steigen soll.
Wir versammeln uns alle an der S-Bahn und mit reichlich Proviant in Form von Bier steigen wir in einen der letzten Wagons.

Sofort stoße ich gegen eine Wand aus Hitze, Schweiß und Alkoholgeruch. Die Bahn ist voll von Leuten, die sich geschmückt haben mit allerlei Fanutensilien. Alte Jeanskutten-Träger stehen genauso dicht an dicht, wie junge Familienväter mit zwei Kindern im Schlepptau und Rentnerpäärchen, die sichtlich erschrocken von diesem Menschenauflauf sind. Wir quetschen uns also durch diese Menge, um wenigstens eine Haltestange zu finden. Nachdem ein geeignetes Plätzchen gefunden ist, zischen auch schon die nächsten kühlen Bierflaschen. Überall versucht man sich mit Getränken gegen die unsagbare Luft und Temperatur in der Bahn zu wehren und so geben viele Leute auch einzelne Flaschen ab.
Man sitzt schließlich im selben Boot bzw. steht im selben Wagon...

Dann kommt endlich die verzweifelt-erhoffte Durchsage "Stuttgart Stadtmitte". Sofort drängen die Menschen Richtung Türen und Aufregung entsteht. Wie bei einer geöffneten Dammschleuse, sprudeln die Menschen nur so aus den Wagons und die gesamte S-Bahn-Station hallt wie ein Fußballstadion.
Nachdem schon in der Bahn das ein oder andere Fanlied angestimmt wurde, singt nun beinahe der gesamte Bahngleis lauthals Fanlieder. Auch ein paar Schmäh-Gesänge auf Schalke 04 dürfen dabei natürlich nicht fehlen.

So zieht der Trott schließlich weiter zum Schlossplatz, der schon gegen 14:00 Uhr aus allen Nähten zu platzen scheint. Man hatte den Eindruck ganz Stuttgart ist auf den Beinen und die Geräuschkulisse aus schreienden Kindern, alkoholisierten Erwachsenen und dem Dröhnen der Anlage verschmelzen zu einem einzigen lauten Krach, der durch die Kessellage der Stuttgarter Innenstadt von den Seitenhängen rücksichtslos zurückgeworfen wird. Zudem brennt die Sonne weiter unaufhörlich in die Stuttgarter Senke und ein Einlass in den abgesperrten Sichtbereich ist schier unmöglich. Weiter klagt dieser schreckliche Bierdurst in uns. Eine Lösung muss her.
Also Planänderung - wir ziehen weiter durch die Stadt und suchen eine geeignete Kneipe.
Nachdem wir uns durch ein paar Seitengassen durchgekämpft haben, finden wir schließlich eine Kneipe, aus der noch nicht zahlreiche Menschen herausquellen.Schließlich haben wir uns sogar einige Sitzplätze ergattert und das kühle Bier ist bestellt.
Noch 30 min bis zum Anpfiff und die Stimmung scheint unaufhörlich zu steigen. Zudem kommt man immer wieder ins Gespräch mit den Sitznachbarn und zum Anpfiff sind aus Nachbarn fast schon Freunde geworden.

Beginn des Spiels und dann der Schock

Die Startaufstellung wird bekanntgegeben und sie sind alle versammelt. Unsere Nummer Eins Timo Hildebrand, der Abwehr-Chef Fernando Meira, unser zentraler Kopf Pavel Pardo und der quirlige Cacau im Sturm. Nur einer fehlte. Mario Gomez ist nach seiner Verletzung immer noch nicht hundertprozentig fit und Marco Streller nimmt seine Position ein. Doch das verdierbt uns nicht die Laune. Schließlich gilt es bei einem Zwei-Punkte- Vorsprung einfach nur Cottbus zu schlagen. Leichter gesagt als getan. Anpfiff! Der Ball rollt im alles entscheidenden Spiel.
Die ersten Minuten wirken zerfahren und man spürt deutlich den Druck der auf der Mannschaft lastet. Nach ein paar Minuten gibt es die erste Chance durch Thomas Hitzelsberger.
Das kommt an. Lauthals meldete sich die gesamte Kneipe und weitere Fangesänge werden angestimmt.
Doch nach 19 Minuten stock wohl in ganz Stuttgart der Atem. Ein missglückter Schuss von Vlad Munteanu findet den Torjäger der Cottbusser Sergiu Radu und der lenkt den Ball unhaltbar in den Kasten von Timo Hildebrand. Plötzlich steht es 0:1.
Noch heute erinnere ich mich an diese ungläubige Stimmung um mich herum. Menschen starren auf die Leinwand oder auf ihre Handys. Vereinzelte Anfeuerungsrufe verpuffen im Raum, unterdrückt durch diese akustische Leere, die sich schlagartig auszubreiten scheint.
Doch sobald der Ball wieder im Spiel ist, regt sich Widerstand. Langsam steigt der Pegel wieder und als Treibstoff dient weiter Bier; und natürlich Tore.

Der Ausgleich fällt

Lange müssen wir nicht warten. Denn Stuttgart kommt. Und wie. Die gesamte Mannschaft scheint sich plötzlich gegen diese Niederlage zu stemmen. Man hört die elf Jungs auf dem Platz förmlich rufen: "Heute nicht!" Acht Minuten nach der Führung von Energie, macht sich Pavel Pardo für einen Eckball bereit. Er tritt an und der Ball kommt nicht wie gewohnt in Richtung 5m-Raum. Sofort vernimmt man spitzige Kommentare und Unverständnis, als der Ball sich langsam auf Höhe der Strafraumgrenze mittig zu senken beginnt. Dort steht Thomas "The Hammer" Hitzelsberger und präsentiert 56.000 Zuschauern im Stadion und Millionen von Menschen vor den TV-Bildern seine linke Klebe. Der Ball schlägt oben in der rechten Torecke ein. Die kleine Kneipe bebt, fremde Menschen liegen sich in den Armen und die Stimmung erreicht ungeahnte Höhen. Der VfB ist wieder da; die Partystimmung ist zurück und weitere Anfeuerungsrufe hallen durch die Räumlichkeiten. Nach ein paar weiteren Chancen geht es schließlich in die Halbzeit. Immer noch ist der Mannschaft die Nervosität anzumerken.

Nach dem obligatorischen Besucht der Toilette und der Großbestellung von Bier, geht es zurück an meinen Platz und der Pfiff für die zweite Halbzeit ertönt wenig später. Meine Nervosität ist kaum zu bändigen, immer im Hinterkopf, dass Schalke längst souverän mit 2:0 führt. Ein Ausrutscher und nach 50 Jahren jubelt man wieder in Gelsenkirchen. Wir gehen leer aus.
Doch das muss verdrängt werden und ein kräftiger Schluck schärft meine Sinne für die Leinwand am Ende des Raums.

Hier geht's zur zweiten Halbzeit
Aufrufe: 6113 | Kommentare: 0 | Bewertungen: 6 | Erstellt:21.09.2011
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