Liebes Tagebuch,

du kennst mich schon seit Ewigkeiten, es ist gar nicht so lang her, dass ich deine Seiten mal mit lustigen Taktikskizzen und banalen Hirngespinsten gefüllt hab. Das, das war in der letzten Spielzeit. Ich, das war einer ganz großen Stars im Geschäft, mich hat man gefeiert, gelobt und auf ein Podest gehoben. Ja, in meiner erfolgsbedingten Naivität, da hab ich alles geglaubt, was man mir so eingetrichtert hat. Ich dachte ernsthaft, dass ich es auch ohne Berufserfahrung als 2. Klinsmann ganz weit bring, hab ich ja auch. Bewiesenermaßen, schließlich ging es soweit, dass ich meine rot-weiße Jugendelf mit Gel-Haube im Sturm und lustigen Jungnationalspielern in die Champions League geführt hab. Gut, nicht ganz, aber ein Qualifikationsplatz ist auch etwas wert. Einige Millionen, wie mir der Horsti mal erzählt hat.

Mittlerweile sieht die Welt anders aus, momentan befinde ich mich im Dauerstress, womit ich die DFB-Trainerlaufbahnnachholaktion (verzeihe meine Ausdrucksform) und den Bundesligaalltag meine. Ja, ich bin quasi eine Frau, die Karriere und Kinder unter einen Hut kriegen möchte. So ganz gelingt mir das momentan nicht, weshalb ich es mit Tagesmüttern (Trainerstab) und einem Lächeln auf den Lippen versuche. Am Dienstag haben wir nach vielen Tiefschlägen in das schwäbische Gemüt ein weiteres Mal unglücklich verloren, es gab Chancen, die meine Jungs wieder nicht genutzt haben. Sie wirken stellenweise schon wie Fremdkörper, dabei muss ich an Angelina Jolie denken, diesen Film da. Ich muss dich ernsthaft fragen, ist der Alexander wirklich mein Sohn? Kann das wahr sein? Was ist mit dem Jungen los? Ich frag mal beim Horst nach, ob wir da nicht mal einen Vertrags-DNA-Test machen lassen können. Ich zweifle aber nicht nur an ihm, es ist so, dass ich mich verraten und verkauft fühle. Wir haben nach der tollen Spielzeit mit schönen Spielen und massig Toren den Anschluss an die Bundesligaspitze sang- und klanglos verloren. Wir stehen im Nichts, mit uns der Irrglaube an eine Kehrtwende.

Deshalb muss ich dich, liebes Tagebuch, neben meinen Tränen mit anderen Dingen belasten. Hast du eine Idee? Wie kann man all die traurigen Auftritte der letzten Zeit vergessen machen? Ich hab bei Sky nach dem Spiel einige komische Dinge gesagt. Das muss ich dir gestehen, aber es war einfach zu viel. Ich wollte wirklich nur noch vom nächsten Bundesligaspiel reden, das war meine Flucht, ob sie nach vorn oder hinten führt, das weiß ich nicht. Alles ist so verdammt schwierig. Die Fans sind schon so frustriert, fast paralysiert oder buchstabiert, wie auch immer. Damals als Spieler, da war alles einfach, auf den Platz gehen, gut spielen und gewinnen. Heute schau ich zu, beiß mir in den Mantel, brenne innerlich und frage mich, was aus dem Training mit auf den Platz genommen wurde. So oft ist es zum Haare ausreißen, gut, dass ich eine Kurzhaarfrisur hab. Aber ich muss dir noch etwas erzählen...

Ich habe einen Traum:

Es ist der April 2010. Die Sonne scheint, alle sind glücklich, sogar in Stuttgart. Ein Reporter fragt mich danach, wie wir es schon wieder geschafft haben. Die Parallelen zur letzten Spielzeit, die Steigerung in der zweiten Saisonhälfte. Ich reagiere gelassen, grinse und fange mit einem langen „Ja" an zu erzählen, von diesen Momenten des Glaubensverlusts, der Ausweglosigkeit, bevor ich davon berichte, wie spitzenmäßig wir uns gefangen haben. Wie alles mit dem Sieg in Sevilla angefangen hat, der Wind sich nach dem Spiel spürbar drehte. Während der nächsten Frage schau ich durch das große Rund, die Baustelle ist weg, auch dort stehen Fans. Die fröhlichen Gesichter, die Jubelgesänge auf meine Person. Das alles, es kommt mir so bekannt vor. Ich lasse den Reporter und das vorgehaltene Mikrofon zurück, drehe mich den Fans zu und beginne zu lachen, es kommt einfach über mich. Ich bin noch der Alte…
Wir stehen am Ende auf einem Europa League-Platz, spielen eine phänomenale Rückrunde mit Mario, den uns der alte Mann aus München ausgeliehen hat, dieser Niederländer mit unaussprechlichem Namen. Mario schießt in 15 Spielen 27 Tore und ist gesetzt für die WM. Wir dagegen kommen mit einem blauen Auge aus dieser Saison. Nebenbei bin ich der Trainerlehrgangsbeste und habe eine Auszeichnung bekommen. Ich seh die Urkunde vor mir. Drauf steht:

DFB-Sonderauszeichnung für außergewöhnliche Leistung im Umgang mit schwer zu motivierenden Fußballprofis:

Markus B., geboren am 8. September 1972 in München, erhält hiermit die Auszeichnung des

Krisenmanagement-Meisters

für ausgezeichnete Leistungen im Umgang mit einem mittelklassigen Bundesligaverein, Tapferkeit im Umgang mit einer Doppelbelastung und dem fremden Sohn.

Das ist mein Traum. Ob ich den Traum noch verwirklichen kann, liegt aber nicht allein an mir, was mich ehrlich gesagt ziemlich fertigmacht. Es ist Herbst, kalt und wir sind im Keller. Liebes Tagebuch, ich hoffe, du verstehst nun, warum ich mich wieder an deine dünnen Seite gemacht habe. Aber jetzt ist auch gut, ich muss morgen wieder früh raus und habe schon einige gute Ideen für das nächste Spiel, wir versuchen es mal ohne den fremden Sohn und dafür mit einem Sieg. Vielleicht wird alles wieder so wie vor einem Jahr. So ganz habe ich den Glauben nicht verloren, auch wenn uns der Mario fehlt, so wie seine Tore.


Dein Markus aus S. in B.-W. in D.