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22.07.2020 | 768 Aufrufe | 2 Kommentare | 8 Bewertungen Ø 6.6
Fußballerische Überlegungen zu Bielsa
Bielsa
Bielsas Bedeutung

Ein paar Bemerkungen zum Verhältnis Guardiolas und Bielsas:

Guardiolas Fußball speist sich in seinem Ursprung aus drei Haupteinflüssen: Cruyff, ein mexikanischer Trainer namens Lillo (der übrigens seit einiger Zeit einer seiner Co-Trainer bei City ist - ein spannender Umstand, über den aus meiner Sicht zu wenig berichtet wurde) und Bielsa.

Ihr erster Kontakt muss irgendwann kurz nach bzw. gegen dem Ende von Guardiolas Spieler Karriere begonnen haben: Auf Empfehlung Batistutas, den Pep in Katar kennen lernte, reiste er nach Argentinien um Bielsa zu treffen. Dieser lud ihn offenbar zu sich nach Hause ein und sie diskutierten angeblich 13 Stunden ohne Unterbrechung über Fußball. Diese Begegnung muss Guardiola sehr beeindruckt haben, da Bielsa ihm auch seine eigenen Materialien und Analysen zeigte.

Inhaltlich zeichnet sich Bielsas Fußball durch hohe Geschwindigkeit im Angriffsspiel bei gleichzeitigem Augenmerk auf Ballbesitz aus. Das führt zu dem eigenartigen Gepräge, das ein Bielsa-Team sowohl physisch und athletisch sehr stark sein muss als auch technisch höchst beschlagen.

Die Formation, für die Bielsa insbesondere bekannt ist, ist das 3-3-1-3 (zudem ist als Nebenformation zuweilen auch ein 4-2-3-1 gebräuchlich). Dieses erweist sich bei Bielsa angesichts der beiden genannten strategischen Grundsätze als offensives System.
Bestimmend für Bielsas Fußballs sind vor allem die hohe Intensität, hohe Fluidität, Konzentration und Improvisation. Gegen den Ball arbeitet er noch teilweise mit Mannorientierungen, wobei auch dies mit hohem Druck umgesetzt werden muss. Besonders interessant sind aber seine Ideen für die Offensive: Er lässt gerne den Strafraum fluten, lässt radikales Angriffspressing spielen.
Dabei sollen seine Spieler nach bestimmten Prinzipien immer wieder ihre Positionen tauschen - dies geschieht zuweilen sehr radikal und erinnert an den "Totalen Fußball". Zugleich möchte er seinen Offensivspieler auch zur freien Improvisation ermutigen.

Was Bielsa für den jungen Guardiola abseits der interessanten und radikalen taktischen Ideen besonders interessant gemacht haben dürfte, ist sein analytischer Furor.

Bereits in den 80er Jahren hat Bielsa - so kann man es u.a. in Tobias Eschers Buch "Zeit der Strategen" nachlesen - ganz Argentinien bereist, um alle - und zwar im wortwörtlichen Sinne - argentinischen Talente zu sichten. Zudem lies er sich aus Europa extrem große Mengen Videomaterial schicken. Sein erklärtes Ziel war etwas, wie eine Gesamtvermessung des Fußballs anzustellen, ähnlich wie Alexander von Humboldt einst Südamerika vermessen hatte.
Dabei will er z.B. rausgefunden haben, dass es 29 verschiedene Formationen im Fußball gibt, 17 defensive Spielweisen, 26 mögliche Bewegungen, mit denen ein Verteidiger einem Gegenspieler den Ball wegnehmen kann, 36 Wegen, mit denen Spieler über Pässe kommunizieren können und vieles mehr.
Das Ziel dieser Arbeit bestand darin, dass er eine Art privates Trainingscurriculum kreierte, mit denen er alle Ergebnisse seiner Vermessung des Fußballs einstudieren lassen könnte. Er denkt, dass 120 Übungen dieses leisten können.

Neben seinen konkreten Inhalten ist Bielsa also deshalb für einen Trainer wie Guardiola von Bedeutung, da er den Fußball neuartig denkt. Auch Bielsa lässt immer mit Ball trainieren, Bielsa trennt gedanklich nicht so stark zwischen Offensive und Defensive, Bielsa versuchte sogar teilweise, individualisierte Trainingspläne zu erstellen.

Wenn also Guardiola damals sagte, dass Bielsa "der beste Trainer der Welt sei", handelte es sich dabei nicht um einen dieser üblichen Guardiolanismen, die oft genug Gegenstand zum Spott waren, sondern um die Anerkennung für dessen analytische Tiefe und Fähigkeit, Wissen in Trainingsformen zu überführen. Das ist es schließlich, worauf es in der täglichen Trainingsarbeit auch ankommt: Das Planen, Vor- und Nachbereiten der Einheiten. Darin hat Bielsa sicherlich Maßstäbe gesetzt.

Und Anekdoten dieser Art pflastern auch Bielsas weiteren Weg: Als Bielsa 2012 im spanischen Pokalfinale gegen Peps Barca mit 3:0 verlor, überreichte er Pep nach dem Spiel sein Dossier über den FC Barcelona. Guardiola entgegnete, dass er Bielsa mehr über Barca wisse als er selbst.

Und wir erinnern uns an Bielsas Spione in der letzten Saison, die bei Lampard für Irritationen sorgten sowie die denkwürdige Pressekonferenz im Anschluss.
Auch in dieser Saison machte das Gerücht die Runde, dass Bielsas Vobereitung auf ein Spiel gegen eine Mannschaft aus der unteren Tabellenhälfte ein mehrseitiges Dokument über den dritten Torhüter dieser Mannschaft enthielt. Ein Spieler, der bis dato noch keine Minute in der laufenden Saison gespielt hatte!

Guardiola wurde ganz sicher von Bielsas Akribie, seinem analytischen Eifer, seiner Idee von Fluidität im Offensivspiel, der Intensität im Pressing etc. stark beeinflusst.

Die Frage, die ich diskutieren möchte: Was sagt uns die Existenz eines Mannes wie Bielsa über den Fußball?

Es dürfte niemanden überraschen, dass mich gerade die obsessiven und analytischen Momente seines Wirkens stark faszinieren. Im Grunde hat er die empirische Seite dessen geliefert - oder zu einem großen Teil geliefert - was ich sozusagen theoretisch entfalten möchte: Eine Gesamtdeutung des Fußballs.

Ist er nun einer der besten Trainer der Welt?

Handwerklich ganz sicher. Auch dem Einfluss nach. Er hat zahllose Trainer auf verschiedene Weise beeinflusst. Neben Guardiola seien hier auch Simeone und Pocchettino als prominente Namen genannt.
Die Frage ist deshalb auch interessant, da sich hier unter vielen Leuten ein wohlfeiler Konsens durchgesetzt hat, nach dem es ein "zu viel" an Informationen gäbe, nach dem man auf gewisse Zeitpunkte (März-Mai) hinzutrainieren habe, um in gewissen Wettbewerbsphasen seine Höchstleistung wahrscheinlicher abrufen zu können.

Bielsa ignoriert vieles davon. Sein Titelschrank ist nicht so voll, aber seine Gedanken sind tief.

Wahrscheinlich könnte Bielsa niemals lange erfolgreich den FC Bayern oder Real Madrid trainieren.
Vielleicht weist gerade die Existenz Bielsas darauf hin, dass es gerade im sogenannten Spitzenfußball sehr viele "störende Aspekte" und Verhältnisse gibt.

Bielsa gibt abseits der Pressekonferenzen keine Interviews - auch diese Idee hat Guardiola von ihm übernommen.
Es geht Bielsa im Ursprung darum, Journalisten von größeren Zeitungen nicht zu bevorteilen. Diese Eigenheit hat Guardiola schon in Deutschland nicht zum Vorteil gereicht, Bielsa scheint in der Hinsicht noch hermetischer zu sein.
Für boulevardeskes Geplauder dürfte er auch kein Verständnis haben.
Es gibt auch Berichte aus seiner Zeit in Argentinien, nach denen seine eigenen Spieler nach einer besonders intensiven taktischen Sitzung zu ihm genervt sagten, dass er im Gegensatz zu ihnen 24/7 absolut nur Fußball im Kopf habe.
Ja, Bielsa kann offnbar im Umgang anstrengend sein. Es gibt auch Gerüchte, dass ihn in Frankreich die eigenen Spieler "gemobbt" hätten.

Allein: Handelt es sich hier um eine Unzulänglichkeit oder muss man es differenziert betrachten? Phasen in Bilbao oder Leeds zeigen, dass er zumindest auch über längere Zeit so arbeitet, dass es funktionieren kann.

Zeigt nicht gerade Bielsa, dass viele Gedanken und Denkmuster, derer wir uns im Gespräch über Fußball bedienen, gar nicht unsere eigenen sind, sondern vielmehr medial überformte Narrative, erstarrtes Erfahrungswissen, das nicht mehr reflektiert wird und strukturell die ewige Wiederkehr des Gleichen ist?

Bielsa ist für mich auch deshalb so interessant, weil er eine Inspiration dafür ist, sich seine eigenen Gedanken auch im Fußball zu machen. Taktiken sind nicht gut oder schlecht, weil sie aktuell gerade scheitern oder Erfolg haben. Große Spieler sind nicht groß, weil sie seit Generationen unreflektiert so tradiert werden.

Man könnte die Liste endlos weiterführen, das Prinzip ist gleich: Im Fußball ist viel "erstarrter Geist", den man in produktiver Weise verflüssigen muss.

Neigt Bielsa zum Dogmatismus? Ja.

Er selbst betont, dass er keine langfristige Alternative zu seinen Grundprinzipien etablieren will.

Zitat:

"Wir wollen unseren Stil durchsetzen. In der gegnerischen Hälfte spielen, den Gegner dominieren, wenig lange Bälle schlagen."

Betrachtet man den aktuellen Diskussionsstand zu dieser Frage auf Spox, wird deutlich, dass es nicht wenige User gibt, die solche Geisteshaltungen gerade auch am Beispiel Guardiolas mit Aussagen wie "immer der gleiche Fehler" oder gar provozierend "Pep hat immer noch nicht verstanden, dass..." abtun.
Stünde Bielsa mehr im Fokus, könnten analoge
Auseinandersetzungen mit ihm ähnlich aussehen.

Allein: Sie sind oberflächlich geführt und kommen nicht zum Punkt. Zunächst kranken diese Vorwürfe an einer falschen Gleichsetzung der Begriffe "Strategie" und "Taktik".

Trainer wie Bielsa und Guardiola mögen strategisch unflexibel sein, gleichzeitig sind sie taktisch aber sehr flexibel. Ihr grundsätzliche Herangehensweise an Fußball, ihre Prinzipien sind bei jeder Station sehr ähnlich, aber sie verwenden große Anstrengungen darauf, diese auf ihre Teams und konkrete Gegner zuzuschneiden. Insbesondere Guardiolas Flexibilität in diesem Aspekt sucht ihresgleichen.

So wünschenswert hier mehr Differenzierung auf Seiten der Kritiker wäre, so absurd ist der Gedanke, dass jemand wie Bielsa nicht darüber nachdenkt, welche Probleme er sich mit strategischer Beständigkeit potenziell einkauft. Trainer dieser Art arbeiten verstärkt daran, nach Wegen, diese zu kompensieren, zu suchen.

Ist Bielsa einer der besten Trainer der Welt? Schwer zu sagen. Aber er ist definitiv niemand, den man als "El Loco" belächeln oder als missverstandenen Analysten oder Co-Trainer abstempeln sollte. Gäbe es mehr Leute wie ihn, wäre der Fußball heute vielleicht noch weiter entwickelt.

Ein weiterer Gedanke, der mir eingefallen ist:

Bielsa war lange Nationaltrainer Argentinies und Chiles - und das durchaus nicht ohne Erfolg (Goldmedaille 2004 und Qualifikation mit Chile zur WM 2010 nach einer längeren Zeit der Abstinenz, dort Erreichen des Achtelfinals).

Wir haben hier immer davon gesprochen, dass Trainer, die intensiv taktisch arbeiten als Nationaltrainer ungeeignet sind, da sie selten bis nie die nötige Zeit erhalten, ihre komplexen Abläufe einstudieren zu lassen. Hat Bielsa als Nationaltrainer also anders gearbeitet oder handelt es sich bei dem oben genannten Gedanken um eine weitere unreflektierte Idee, die Bielsa infrage stellen konnte?

Vieles kann beim Denken über Fußball entdeckt werden.

Wenn Bielsa der Humboldt des Fußballs ist, möchte ich des komplexen Ballspiels Schelling sein!

ø 6.6
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KOMMENTARE
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bobby_fischer
22.07.2020 | 23:48 Uhr
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22.07.2020 | 23:48 Uhr
0
Ich weise darauf hin, dass das hier kein Blog im eigentlichen Sinne ist, sondern nur die Kopie einiger meiner Kommentare, um sie vor dem Vergessen zu bewahren.
5
rollenderStein
30.04.2021 | 19:27 Uhr
0
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30.04.2021 | 19:27 Uhr
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Moin Bobby, gerade entdeckt und bin beeindruckt. Kann mich dem Betrunkenen hier nur anschließen und lese sehr gerne mehr.
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