Was hat Dich bloß so ruiniert?

Stefan Moser
13. März 201121:50
Der Hamburger SV ging beim FC Bayern München mit 0:6 unterGetty
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Mit Armin Veh hat der Hamburger SV nur die Symbolfigur der aktuellen Krise entlassen. Doch die Probleme liegen viel tiefer. Eine schwer greifbare und komplexe Dynamik lähmt die Mannschaft.

Um 10.20 Uhr zogen die Verantwortlichen den Stecker. Diagnose: Herzstillstand. Weitere Wiederbelebungsmaßnahmen: sinnlos. Der behandelnde Arzt wird von seinen Aufgaben entbunden, Armin Veh ist nicht mehr länger Trainer des Hamburger SV.

"Nach der Bekanntgabe seines Abschieds zum Saisonende und den Eindrücken der vergangenen beiden Spiele haben wir den Entschluss gefasst, Armin Veh zu beurlauben", sagte der kommissarische Sportchef Bastian Reinhardt. Und versuchte immerhin den Anschein zu erwecken, ein Trainerwechsel rechtfertige noch den Glauben an eine Auferstehung der Mannschaft: "Wir haben noch acht Spiele, der Europacup ist rechnerisch noch möglich. Deshalb haben wir nichts her zu schenken und mussten diesen Schnitt machen."

Veh: Symbolfigur eines großen Dramas

Dabei ist die Grundstimmung in Hamburg mittlerweile eine ganz andere. Die wenigsten sehen im Trainer den maßgeblichen Mittelpunkt der aktuellen Misere. Vielmehr ist Armin Veh nur die Symbolfigur in einem viel größeren und viel komplexeren Drama. Nur das greifbarste Zahnrad in einer mysteriösen Maschinerie, die insgesamt längst außer Kontrolle ist.

Einige Argumente der Veh-Kritiker sind zwar zumindest oberflächlich nachvollziehbar: Die Entwicklung des Kaders stagnierte, Spielsysteme und Personal wechselten bisweilen nach dem Trial-and-Error-Prinzip, die großen Nachwuchshoffnungen wie Heung-Min Son oder Muhamed Besic wurden erst gefördert, nach Rückschlägen aber schnell wieder fallengelassen; es fehlte an Klarheit und Konsequenz, um die Mannschaft kontinuierlich wachsen zu lassen.

Außerdem verlor Veh an Glaubwürdigkeit und Autorität, als er bereits im Winter mit einem Rücktritt kokettierte und vor allem in den letzten Wochen immer deutlicher die eigene Distanz sarkastisch zur Schau stellte, die er sich mittlerweile zum Verein, zur Mannschaft und zum Trainerjob im Allgemeinen aufgebaut hatte.

Aogo: "Irgendetwas Ungreifbares kostet uns Punkte"

Und dennoch: Die fatalistische Grundhaltung, die der HSV in diesen Tagen vermittelt, geht weit über eine handelsübliche Trainerdiskussion hinaus. Es entsteht fast der Eindruck, als wäre es im Grunde egal, wer für den Rest der Saison auf der Bank sitzt. Denn die Probleme liegen viel tiefer. Und das beileibe nicht nur deshalb, weil der Aufsichtsrat in seinem Possenspiel den HSV auf Funktionärsebene nun endgültig lahmgelegt hat. Das Chaos im gesamten Verein liefert zwar den passenden Rahmen, aber es taugt nicht als alleiniges Alibi für die Leistungen auf dem Platz.

Auf eine diffuse und schleichende Art hat sich in Hamburg vielmehr ein Klima entwickelt, das auch den sportlichen Bereich schwer belastet und lähmt - und die Akteure ratlos zurücklässt.

"Irgendetwas Ungreifbares kostet uns Punkte", sagte Linksverteidiger Dennis Aogo bereits vor einigen Wochen. Und Kollege Guy Demel ergänzte: "Es ist wie in einer Beziehung. Es gibt Probleme, aber niemand weiß genau, wie und wann es angefangen hat."

Keine Kontinuität, keine Konstanz, keine Stabilität

Klar ist: Der Patient, der am Samstag mit 0:6 in München kollabierte, hat eine Krankengeschichte, die viel weiter zurückreicht als die Amtszeit von Armin Veh. Immerhin ist der 50-Jährige nun nicht der Erste, der beim Versuch der Heilung scheiterte.

Eine offensichtliche Ursache für die kränkliche Konstitution des mannschaftlichen Gesamtgefüges ist sicher die fehlende Kontinuität in der Entwicklung und Zusammenstellung des Kaders. Mit Dietmar Beiersdorfer, Martin Jol, Bruno Labbadia, Bernd Hoffmann, Urs Siegenthaler und Armin Veh waren in den letzten drei Jahren alleine sechs - zum Teil sehr unterschiedliche - Charaktere an der sportlichen Planung beteiligt.

Abgesehen vom wechselnden Personal brachten drei Trainer auch drei völlig verschiedene Spielphilosophien mit nach Hamburg, unterschiedliche Anforderungsprofile für die Profis inklusive. Konstanz und Stabilität blieben auf der Strecke.

Führungsspieler systematisch demontiert

Zumal sich zusätzlich auch keine natürliche Hierarchie entwickeln konnte, weil praktisch das gesamte Gerüst an Führungsspielern im Laufe der Zeit einer nach dem anderen untergraben wurde.

David Jarolim galt bei fast jedem Trainer zunächst als Streichkandidat und musste sich sein Standing Jahr für Jahr aufs Neue erarbeiten. Vor dieser Saison musste er die Kapitänsbinde an Heiko Westermann abtreten. Der wiederum wurde aufgrund einiger Tollpatschigkeiten auf dem Platz schnell zum Sündenbock bei den Fans und erntet regelmäßig Pfiffe.

Piotr Trochowski spielte in drei Jahren auf vier verschiedenen Positionen und gilt mittlerweile endgültig als gescheitert. Guy Demel wurde im Sommer ein Vereinswechsel nahegelegt, ehe Veh im letzten Moment sein Veto einlegte. Der Ivorer spielte in der Hinrunde komplett verunsichert.

Ze Roberto fühlte sich von Labbadia respektlos behandelt und zog sich zurück. Mladen Petric sollte im Winter an den VfB Stuttgart verkauft werden. Ruud van Nistelrooy dagegen durfte nicht nach Madrid und sitzt nun auf der Bank seine Zeit ab. Und während Collin Benjamin und Marcell Jansen zu oft von Verletzungen außer Gefecht gesetzt wurden, pöbelte sich Paolo Guerrero selbst ins Abseits.

Rosts Wutausbruch geht gegen Bernd Hoffmann

Und Frank Rost? Der fühlte sich durch die Verpflichtung von Jaroslav Drobny im Sommer "mundtot" gemacht. Das teilte der 37-Jährige am Samstag auch jeder Kamera mit, die sich ihm bereitwillig in den Weg stellte.

Der durchaus abmahnungsfähige Wutausbruch des Torhüters war formal und inhaltlich sicher nur bedingt schlüssig. Aber Rost brachte darin auch ein Grundgefühl zum Ausdruck, dass die Mannschaft offenbar tatsächlich hemmt.

Die Spieler fühlten sich kastriert - in Rosts Worten: "enteiert" - durch die ständige Kritik des Übervaters Bernd Hoffmann. Im Halbjahrestakt stellte der Vorstandsvorsitzende des HSV zuletzt die "Charakterfrage" und kündigte enttäuscht einen personellen Umbruch im Kader an.

Hochbegabte Versager

Als "Misstrauenskultur" beschrieb Rost die so entstandene Verunsicherung. Statt "Begeisterung wie in Dortmund oder Mainz", gäbe es beim HSV nur Schuldzuweisungen und Druck. Auch dieser Vorwurf war vor allem gegen Bernd Hoffmann gerichtet.

Mit einer Mischung aus Erwartungshaltung und dem Glauben an die Planbarkeit sportlicher Erfolge, warf der den Spielern im Misserfolg tatsächlich vor, sie hätten nicht die nötige Mentalität, um ihr vorhandenes Potential abzurufen. Hochbegabt - so lautete das Urteil des ehrgeizigen Chefs. Mit der impliziten Fußnote: Aber leider hochbegabte Versager. Verzogene Talente, die nicht an ihre Grenzen gehen, wenn es darauf ankommt.

Trauma der verpassten Chancen

Weil auch Medien und Fans in Teilen dieser (in Ansätzen auch nachvollziehbaren) Argumentation folgten, wurde das Bild der vermeintlich mental schwachen Verlierer irgendwann zum Stereotyp. Und es entwickelte sich offenbar tatsächlich eine Atmosphäre, in der die Mannschaft mehr und mehr verkrampfte. Fast neurotisch wiederholte sie das Trauma der verpassten Chancen. Nicht selten allerdings begleitet von unglücklichen Umständen und Verletzungspech.

Das Aus im Pokalhalbfinale 2009, die Niederlage im Europa-League-Halbfinale 2009, die bittere Pleite gegen Fulham ebenfalls im Halbfinale 2010, der beinah jährliche Absturz in der Rückrunde der Bundesliga. Und schließlich das völlig verkorkste Ende der vergangenen Saison, als die Mannschaft dann auch noch den Rückhalt seiner Anhänger verlor.

Pressekonferenz erinnerte an Trauerfeier

Dass der HSV auch in dieser Saison immer dann in ein Loch fällt, wenn es um (emotionale oder tabellarische) Big Points geht, erscheint aus diesem Blickwinkel nur noch als logische Fortsetzung einer eingefahrenen Dynamik. Selbst in Führung liegend agiert die Mannschaft oft verunsichert und ängstlich.

Von seinen Kritikern muss sich Armin Veh nun vorwerfen lassen, dass er nicht in der Lage war, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Ob das in der jetzigen Konstellation überhaupt möglich ist, muss nun Michael Oenning zeigen, der bis auf weiteres den Job des Trainers übernimmt.

Die Stimmung am Sonntag jedenfalls war wenig optimistisch. Es fühlte sich eher an wie eine Trauerfeier. Als hätte der HSV seinen leblosen Patienten - und damit die komplette Saison - bereits begraben.

Steckbrief zum Hamburger SV