Der Fluch der Finalpleiten

Frederick Müller
17. November 201511:31
Betretene Gesichter bei Marcos Rojo (l.) und Co. nach dem 1:1 gegen Brasilien zuletztgetty
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Argentinien ist so schlecht wie noch nie in eine WM-Qualifikation gestartet und steht vor dem Gastspiel in Kolumbien (21.30 Uhr im LIVESTREAM) mit dem Rücken zur Wand. Trainer Gerardo Martino müsste die Situation bekannt vorkommen, während seine Stars nach einem prägenden Jahr mit der Motivation kämpfen.

Der Name Oswaldo Ramirez wird wahrscheinlich nur Fußballhistorikern ein Begriff sein. Zumindest außerhalb Südamerikas. Dort, und speziell in Argentinien, ruft er Augenrollen und ungläubiges Kopfschütteln aus.

Es war der 31. August 1969, als Ramirez eine der größten Überraschungen der WM-Qualifikations-Geschichte Südamerikas perfekt machte.

Im altehrwürdigen Tollhaus La Bonbonera, dem Stadion des argentinischen Traditionsteams Boca Juniors, knipste der Stürmer zwei Mal und rang den favorisierten Argentiniern mit Peru ein 2:2 ab. Peru qualifizierte sich damit für die WM-Endrunde 1970 in Mexiko, Argentinien musste von Hause zusehen. Das erste Mal überhaupt und das letzte Mal seitdem.

Bloß nicht den Anschluss verlieren

46 Jahre später steht die Albiceleste in den Eliminatorias noch schlechter da. Nur zwei Punkte nach den ersten drei Spieltagen bedeuten Rang neun, nur Venezuela steht punktlos dahinter.

Und das in einer südamerikanischen Qualifikationsgruppe, die wohl noch nie so ausgeglichen war wie aktuell. Das macht jeden einzelnen Punkt noch wertvoller. Wer den Anschluss verliert, der muss sich gehörig strecken, um wieder heranzukommen.

Die Zeiten, in denen die Fußballmächte Brasilien und Argentinien wie selbstverständlich vorneweg marschierten und den südamerikanischen Fußball an erster Stelle repräsentierten, scheinen beendet.

Chile gehört nicht erst seit seinem Copa-Triumph im Sommer zu den meist gefürchteten Nationalteams. Ecuador hat sich mit optimaler Ausbeute an der Spitze festgesetzt. Kolumbien ließ spätestens bei der WM 2014 aufhorchen und mit Uruguay ist sowieso immer zu rechnen.

"Jetzt muss ein Sieg her"

Und so kommt es, dass der Vizeweltmeister vor der Partie am Dienstag in Kolumbien zum Sieg verpflichtet ist. Das weiß auch Gerardo Martino: "Jetzt muss ein Sieg her", spürt der Trainer den Druck vor dem Gastspiel im tropischen Baranquilla gegen einen unangenehmen Gegner, gegen den man sich traditionell schwer tut.

"Martino ist bis zum Ende der Qualifikation und hoffentlich bei der WM in Russland unser Trainer. Der Vertrag steht. Wir werden unsere Stärke wiederfinden", stärkte Luis Segura, Präsident des argentinischen Fußballverbands AFA, dem Trainer vor dem Unentschieden gegen Brasilien am Samstag den Rücken.

Wie viel Aussagekraft diese Worte haben, sollte man auch gegen Kolumbien Federn lassen, bleibt abzuwarten.

Weltklasse ohne Titel

Es müsste sich für Martino anfühlen wie ein Deja-vu. 2013 übernahm der Argentinier den FC Barcelona und schaffte es damals schon nicht, mit einer Weltklasse-Mannschaft die entsprechenden Erfolge zu erzielen. Die Spieler beklagten das lasche Training und mangelnde Fitness.

In einem Bericht der El Pais wurde beschrieben, dass Martino mit seiner konservativen Gangart aneckte. Die Ergebnisse der Video-Analysten wurden bewusst ignoriert, stattdessen lag der Fokus auf den handgeschriebenen Notizen. Ein titelloses Jahr später war das Projekt gescheitert und "Tata" nahm seinen Hut.

Fluch der Finalpleiten

Nach drei Spielen einer langen Qualifikation von einem gescheiterten Projekt zu sprechen, zeugt zugegebenermaßen von Panikmache. Hinzu kommt, dass eine starke Copa America erst wenige Monate zurückliegt. Erst im Finale musste man sich Gastgeber Chile geschlagen geben. Und trotzdem könnte gerade die Copa das Zünglein an der Waage gewesen sein.

Schließlich war es die zweite bittere Finalpleite innerhalb eines Jahres. In der Verlängerung des WM-Finals gegen Deutschland und in der Elfer-Lotterie der Copa scheiterte man denkbar knapp an dem ganz großen Coup.

Und die Superstars um Lionel Messi, Javier Mascherano, Angel di Maria und Co. sind es nicht gewohnt, nur eine Hand am Pott zu haben. Es stellt sich die Frage, wie groß dann noch die Motivation ist, sich für die Nationalelf aufzureiben, nachdem man zwei Mal so knapp gescheitert war.

Das Denkmal wackelt

Motivation ist auch das Stichwort bei Messi. Bei keinem wurde diese so sehr angezweifelt wie bei ihm. Unter anderem forderten argentinische Medien seine Absetzung als Kapitän. Martino riet ihm gar öffentlich, er solle von der Nationalmannschaft zurücktreten aufgrund des Umgangs mit ihm und seinen Leistungen.

"Über die Kritik an Messi zu sprechen, befeuert nur eine Debatte, die keine Aufmerksamkeit verdient hat", so der Coach über seinen Schützling nach der Copa-Pleite.

Aktuell über Messi zu sprechen, ist sowieso hinfällig. Der Superstar fällt mit einem Innenbandriss im Knie weiterhin aus und wird wohl erst im Winter wieder einsatzbereit sein. Mit Sergio Aguero und Carlos Tevez fehlt weitere Offensivpower aufgrund von Verletzungen. Und trotzdem sollte mit di Maria, Ezequiel Lavezzi oder Gonzalo Higuain genug Potenzial zur Verfügung stehen, um mehr als nur konkurrenzfähig zu sein.

Doch die letzten Ergebnisse zeugten nicht gerade von Offensivspektakel. In drei Quali-Spielen gelang Lavezzi der bisher einzige Treffer. Auch bei der Copa kam man in zwei von drei K.o.-Spielen in der offiziellen Spielzeit nicht über ein torloses Unentschieden hinaus. Umso vorsichtiger ist das furiose 6:1-Feuerwerk im Halbfinale gegen Paraguay einzuordnen. Es sollte sich als Strohfeuer herausstellen.

Krisen sind programmiert

"Holland war Dritter der WM und ist heute aus der Europameisterschaft ausgeschieden", sprach Ersatzkapitän Mascherano schon nach dem Unentschieden gegen Paraguay am zweiten Spieltag die eigentlich unmögliche Vorstellung aus. Schließlich ist es noch ein weiter Weg zu einer WM ohne den Vizeweltmeister.

Denn bei insgesamt 18 Quali-Spielen über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren sind Ergebniskrisen in jedem Team programmiert. Hier kommt die Ausgeglichenheit in Südamerika dem zweimaligen Weltmeister wieder zugute.

Ein Erfolg in Kolumbien, und die Spitzengruppe ist zumindest wieder in Reichweite. Zudem glaubt Martino, dass die Spielweise der Kolumbianer seinem Team entgegenkommt: "Als Gastgeber müssen sie angreifen. Wir werden mehr Räume bekommen."

Am 10. Oktober 2017 bestreitet Argentinien sein letztes Qualifikationsspiel in Ecuador. Bis dahin ist noch viel Zeit, um das wahre Potenzial wieder abzurufen und zu alter Stärke zurückzufinden. Andernfalls könnte es die Geburtsstunde eines neuen Oswaldo Ramirez werden.

WM-Qualifikation Südamerika im Überblick