Die Formel 1 Saison 2022 läuft bislang überhaupt nicht nach dem Geschmack von Mercedes. Die Silberpfeile haben ihren Status als Branchenprimus verloren und dümpeln derzeit im grauen Mittelfeld herum. Doch warum ist man nicht mehr konkurrenzfähig? Und warum kommt George Russell mit dem schlechteren Paket deutlich besser klar als Lewis Hamilton? SPOX beantwortet alle wichtigen Fragen.
Wie schlimm ist die aktuelle Situation?
Aus einer Mercedes-Perspektive der vergangenen Jahre kann man die derzeitige Lage schon als kritisch einstufen. Die aktuelle WM-Situation, in der die Silberpfeile mit einigermaßen komfortablem Abstand auf P4 und in Schlagdistanz zur Spitze den dritten Rang in der Konstrukteursmeisterschaft belegen, spiegelt nämlich keineswegs die tatsächlichen Kräfteverhältnisse wider.
Zu groß ist der Abstand auf die Konkurrenz um Ferrari und Red Bull. Vor zwei Wochen, beim Großen Preis der Emilia-Romagna, fehlten Mercedes pro Runde etwa zwei Sekunden auf die Spitze - ein Rückstand, der nur sehr schwierig wieder wettzumachen ist. Selbst mit vermeintlich kleineren Teams wie McLaren, Alpine, Alfa Romeo oder Haas hatte man zu kämpfen.
Nach Rennende griff sogar Teamchef Toto Wolff persönlich zum Funkgerät und entschuldigte sich bei Hamilton für das indiskutable Abschneiden. "Hi, Lewis. Entschuldigung für das, was du heute fahren musstest. Ich weiß, [das Auto] ist unfahrbar und am Ende steht kein Ergebnis, das wir verdienen. Es geht weiter, aber das war ein schreckliches Rennen", funkte der Österreicher in Richtung seines Superstars.
Generell wirkt man beiden Silberpfeilen im Angesicht der Situation etwas ratlos. Zwar hatten sich die Verantwortlichen schon bei den Testfahrten im Februar auf ein möglicherweise schwieriges Jahr eingestellt, ein Tief von derartigem Ausmaß hätte aber wohl niemand erwartet.
"Ich weiß gar nicht richtig, was ich sagen soll. Es ist definitiv nicht einfach. Aber wir alle spüren es als ein Team. Alle sind konzentriert und versuchen ihr Bestes. Es gibt niemanden, der aufgibt. Wir alle wollen so schnell wie möglich Fortschritte machen", meinte auch Hamilton nach Imola.
Warum ist Mercedes aktuell nicht konkurrenzfähig?
Im Zuge der weitreichenden Regeländerungen zur aktuellen Saison waren die Teams gezwungen, aerodynamisch neue Wege zu gehen. Die neuen Autos haben mit den Boliden der vergangenen Jahre nur noch wenig gemein, vor allem an den Flügeln und am Unterboden musste man völlig neuen Vorgaben folgen.
Diese Änderungen scheint Mercedes bislang eher weniger gut umgesetzt zu bekommen. Der deutsche Rennstall wählte bei seinem Design einen äußerst radikalen Ansatz. So kommt der W13 mit extrem schmalen Seitenkästen daher, was die Folge hat, dass der Unterboden an der Oberseite verhältnismäßig leer ist. Das ist von den Aerodynamikern ausdrücklich so gewünscht, um die Oberseite des Diffusors möglichst gut anzuströmen, bringt aber eben auch unerwünschte Nebeneffekte mit sich.
Beispielsweise ist bei den Silberpfeilen weiterhin das Hüpfen des Boliden bei höheren Geschwindigkeiten, das sogenannte Porpoising, problematisch. Zwar haben auch andere Teams mit diesem aerodynamischen Phänomen zu kämpfen, bei kaum jemanden ist es jedoch derart schwerwiegend wie beim deutschen Traditionsteam.
Der Ferrari mag auf den Geraden etwa genauso stark springen wie der Mercedes, doch legt der F1-75 die unschöne Eigenschaft beim Einlenken ab. Der W13 nimmt das Problem hingegen mit in die Kurve. Für die Piloten kostet das nicht nur deutlich mehr Zeit, es ist nach eigenen Aussagen auch extrem unangenehm zu fahren. In vielen Situationen fehlt schlichtweg das Vertrauen, ans absolute Limit gehen zu können, ohne dabei einen Abflug zu riskieren.
Wolff: "Auto ist in der Theorie schnell und gut"
Doch das Porpoising ist nicht das einzige Problem, mit dem sich die Silberpfeile herumschlagen. Hinter den Antriebseinheiten von Ferrari und Red Bull ist die Mercedes-Power-Unit maximal die dritte Kraft im Feld, was sich vor allem auf den Geraden und bei Überholvorgängen negativ auswirkt. In Imola beispielsweise hing Lewis Hamilton zwei Drittel der Renndistanz hinter AlphaTauris Pierre Gasly fest und kam auch mit deutlich frischeren Reifen und DRS-Hilfestellung nicht am Franzosen vorbei.
Ebenfalls war in Imola zu beobachten, dass dem W13 kalte Temperaturen zu schaffen machen. Sowohl Hamilton als auch George Russell brachten während des gesamten GPs ihre Reifen kein einziges Mal ins gewünschte Temperaturfenster. In Kombination mit dem Porpoising fehlt so vor allem bei kühleren Bedingungen der nötige Grip.
Nichtsdestotrotz: Der 2022er-Mercedes sei auf dem Papier deutlich stärker, als er sich in der Praxis präsentiere, meinte Teamchef Toto Wolff zuletzt gegenüber Motorsport-Magazin.com. "Das Auto ist in der Theorie schnell und gut, aber in der Praxis können wir das nicht umsetzen. Wir können das Auto nicht in dem Bereich fahren, wo wir es entwickelt haben."
Kann Mercedes die Probleme beheben?
Nachdem man sich in den bisherigen vier Saisonrennen - im Gegensatz zur Konkurrenz um Red Bull und Ferrari - in Sachen Updates noch zurückhielt, soll für den Großen Preis von Miami am Sonntag das erste größere Neuerungs-Paket ans Auto kommen. Im Training war der Eindruck schon mal positiv.
"Seit unserer Rückkehr aus Italien haben wir so viel wie möglich aus dem Wochenende gelernt, und parallel dazu haben wir im Windkanal und in Simulationen weitere Erkenntnisse gewonnen", verriet Wolff, angesprochen auf mögliche Updates. Mercedes wolle in Florida einige "Experimente durchführen, um den Entwicklungsweg für die kommenden Rennen zu bestätigen."
Welche neuen Teile genau in Miami am W13 zum Einsatz kommen werden, wollte der Mercedes-Teamchef nicht verraten, vor allem der Unterboden sei aber ins Zentrum der Arbeiten gerückt. "So wie es im Moment steht, sieht es so aus, dass all das Gute und Schlechte hauptsächlich vom Unterboden herrührt. Und wir haben interessante Ideen und Konzepte, die wir ausprobieren, erforschen und die in den nächsten Rennen ihren Weg ins Auto finden müssen. Wir können also eine Entscheidung treffen", so Wolff.
Fraglich ist nun, inwieweit sich das auszahlt. Ist es für Mercedes überhaupt noch möglich, in diesem Jahr aus dem W13 ein konkurrenzfähiges Siegerauto zu machen, oder hat man sich im Design derart verrannt, sodass es klüger wäre, das Projekt als gescheitert zu betrachten, 2022 abzuhaken und für 2023 frühzeitig ein komplett neues Design zu entwickeln?
Wolff: "Ruhige See macht keine guten Segler"
Wolff winkt diesbezüglich ab. Trotz der aktuell großen Schwierigkeiten, in denen sich sein Team befindet, glaubt er, dass das gewählte Konzept grundsätzlich richtig sei. "In diesem Zusammenhang kommt mir das Sprichwort 'Ruhige See macht keine guten Segler' in den Sinn. Dieses Team hat über viele Jahre hinweg seine Widerstandsfähigkeit unter Beweis gestellt, und der schwierige Start in diese Saison hat in jedem Teammitglied ein Feuer entfacht, um die Situation zu korrigieren."
Der Österreicher gehe davon aus, dass das Auto voll konkurrenzfähig sein wird, wenn man nur einmal den Schlüssel dazu gefunden hat, das Potenzial zu entsperren. "Uns ist bislang nicht gelungen, unsere Qualität freizusetzen, weil das Auto ständig aufsetzt", erklärt Wolff. "Wenn wir das gelöst kriegen, sollten wir dazu in der Lage sein, ziemlich viel Rundenzeit zu finden. Wenn nicht, dann brauchen wir eine andere Idee."
Warum performt George Russell derzeit so viel besser als Lewis Hamilton?
Nach vier Rennen und einem Sprint hat Russell in der Formel-1-Saison 2022 bislang 49 Punkte gesammelt, was den vierten Platz in der WM-Wertung bedeutet. Hamilton bringt es gerade mal auf 29 Zähler. Während der siebenfache Weltmeister das Qualifying-Duell noch einigermaßen ausgeglichen hält (2:2), sieht er im Rennen gegen seinen jüngeren Teamkollegen aktuell kein Land (1:3). Warum genau Russell derzeit so viel besser als Hamilton performt, können wohl nur die wenigsten Personen beantworten, einige Erklärungen gibt es dennoch.
Zunächst einmal muss man festhalten, dass Russell ohne Zweifel zu den besten Piloten im Feld gehört. Wer erwartet hatte, dass Hamilton das interne Teamduell ähnlich dominant wie noch gegen Valtteri Bottas gestalten würde, fand sich schnell auf dem Holzweg wieder. Nicht von ungefähr mauserste sich Russell in den vergangenen Jahren bei Williams zu einem der gehyptesten Piloten überhaupt.
Durch gute Entwicklungsarbeit und starke Leistungen verhalf er dem britischen Traditionsteam dazu, aus der Bedeutungslosigkeit emporzusteigen. Nach Russells Beförderung zum Stammpiloten 2019 präsentierte sich Williams von Jahr zu Jahr stärker, holte mehr und mehr Punkte und schaffte - nach Jahren als mit Abstand schwächstes Team der Formel 1 - den Anschluss zurück ans Mittelfeld. Mittlerweile kann Williams sogar wieder um WM-Zähler mitkämpfen. Das ist mitunter ein Verdienst Russells.
Wo wir auch schon beim vermeintlichen Grund für Russells aktueller Dominanz gegenüber seines Teamkollegen wären. Viele Beobachter glauben, dass der Youngster mit dem vermeintlich schwächeren Mercedes-Paket besser klarkommt als der siebenfache Weltmeister Hamilton. Schlichtweg weil er es aus den vergangenen Jahren bei Williams kaum besser gewohnt war.
Hamilton fehlt "die Selbstsicherheit im Auto"
"Die Fachwelt diskutiert gerade so ein bisschen, ob die Zeit bei Williams George gutgetan hat und er mit Material, das nicht zwingend wettbewerbsfähig und nicht für die Top 3 gut ist, mehr rausholen kann. Dass er da viel mitgenommen hat, die letzten Jahre bei Williams, das kann gut sein", spekuliert auch Rennstratege Alexander Bodo.
Speziell in Imola, als Russell als Vierter Schadensbegrenzung betrieb und Hamilton nur 13. wurde, hätte man den Unterschied gut erkennen können, so Bodo. "Wenn du vorn mitfährst, in den Top 3, Top 4, oder wie Russell in einer P5-Position für lange Zeit, ist es einfacher zu fahren. Du schlägst dich nicht mit anderen rum, du kannst deinen Stiefel runterfahren."
Während Russell mit den widrigeren Umständen besser zurecht kommt, ist Hamilton ein aerodynamisch schwierig zu fahrendes Auto möglicherweise nicht mehr gewohnt. Dem Briten fehle "einfach die Selbstsicherheit im Auto, weil dem Mercedes einfach der Topspeed fehlt, die Leistung ein bisschen fehlt", meinte Sky-Experte Timo Glock. Hamilton würde sich in einer Situation wiederfinden, "die er seit sieben oder acht Jahren nicht mehr kennt. Das ist halt auch was Neues für ihn."
Muss Lewis Hamilton seinen achten WM-Titel schon jetzt abschreiben?
"Ich arbeite nach wie vor an meinem Meisterstück. Ich werde derjenige sein, der entscheidet, wann es zu Ende geht", ließ Hamilton erst kürzlich seine knapp 28 Millionen Instagram-Follower wissen und beendete damit die vielen Spekulationen um ein vorzeitiges Karriereende.
Der siebenmalige Weltmeister will also vorerst weitermachen und seinem Team die Treue halten. Unklar ist nur, wie lange sich Hamilton die Situation bei Mercedes antuen möchte. Denn eines steht fest: Hamiltons ultimatives Ziel ist der achte WM-Titel und damit der alleinige Rekord vor Michael Schumacher. Sollte dieser Traum mit Mercedes nicht mehr erreichbar sein, hält den Briten nichts mehr bei den Silberpfeilen. Ein Fahren nur um des Fahrens Willen, wie es beispielsweise Kimi Räikkönen die letzten Jahre gemacht hatte, wird es mit LH44 nicht geben.
Dass es in diesem Jahr noch was mit dem Titel wird, ist aber schon jetzt - nach lediglich vier absolvierten WM-Läufen - ein nahezu aussichtsloses Unterfangen. Selbst mit den neuen Updates, die Mercedes angekündigt hat, wird es - zumindest kurzfristig - keine Besserung geben.
Auch wenn die neuen Teile ein voller Erfolg wären, wird ein schnelles Aufschließen zu den Top-Teams eine absolute Herausforderung. Ferrari und Red Bull werden ihrerseits nämlich ebenfalls nach und nach Updates bringen, um im Weltmeisterschaftskampf die Oberhand zu behalten. Ein Wettlauf über die Saison hinweg ist für Mercedes also kaum zu gewinnen.
Team stärkt Hamilton demonstrativ den Rücken
Bei den Silberpfeilen setzt man deshalb aktuell jeden Hebel in Bewegung, um eine aufkeimende Unzufriedenheit Hamiltons im Zaum zu halten. Demonstrativ stellt sich das Team hinter den Briten und nimmt die Schuldfrage auf sich. Das derzeitige Tief sei nicht Hamiltons Tief, "sondern es ist ein Tief der Performance unseres Autos", sagte Teamchef Wolff. Der siebenmalige Weltmeister sei nach wie vor klar, "der beste Fahrer der Welt. Er hat einfach nicht das Auto, um seine Klasse zu zeigen."
Teamkollege Russell glaubt derweil, dass Hamilton nach den schwierigen Ergebnissen in den kommenden Wochen mit einer Portion Extra-Motivation an den Start gehen wird. Aufgeben komme für den Ex-Weltmeister nicht in Frage. "Lewis wird unglaublich stark zurückschlagen und ich habe keinen Zweifel, dass er mich bis zum Ende pushen wird", sagte Russell am Rande des Miami-GPs. "Ich weiß, wozu er fähig ist. Die Art und Weise, wie er das Team pusht und motiviert, ist wirklich inspirierend."
Hamilton muss sich derweil nicht nur mit dem Mercedes-Tief, sondern mit noch ganz anderen Sachen herumschlagen. In Miami tritt an diesem Wochenende ein Schmuckverbot im Cockpit in Kraft, Hamilton will das aber nicht akzeptieren. Das Verbot könnte vor dem Start kontrolliert werden, auch Strafen sind möglich. Ausgang offen - genau wie bei der sportlichen Misere.
Meistgelesene Artikel
Das könnte Dich auch interessieren



