Mansur Faqiryar ist in Deutschland ein Torhüter in der 4. Liga - im Heimatland seiner Eltern ist er ein Nationalheld. Mit ihm als Kapitän holte Afghanistan den ersten Titel der Verbandsgeschichte, Faqiryar hielt beim Turnier in Nepal im Halbfinale und Finale sensationell und wurde zum Spieler des Turniers gewählt. Im Interview mit SPOX erzählt er von verrückten Reisen zur Nationalmannschaft, seinem Besuch beim Staatspräsidenten und seinem Spagat zwischen zwei völlig unterschiedlichen Welten.
Mansur Faqiryar hat viel zu erzählen, also nimmt er sich auch sehr lange für den Termin Zeit. Am Abend vor dem Gespräch hat er in der Regionalliga Nord beim Derby in Meppen im Tor gestanden.
Ein enges Spiel, am Ende steht ein 2:2 im Protokoll. "Zu wenig für uns", sagt Faqiryar, sein VfB Oldenburg will in dieser Saison aufsteigen. Es wäre die Verwirklichung eines kleinen Traums.
Im Spätsommer des letzten Jahres hat er sich diesen einen ganz großen Traum bereits erfüllt. Mit dem krassen Außenseiter Afghanistan hat Mansur Faqiryar den "South Asian Football Federation Cup" gewonnen, die Südasienmeisterschaft.
Im Halbfinale gegen Gastgeber Nepal hielt Faqiryar zwei Elfmeter, seine Mannschaft siegte 1:0. Im Finale brachte er mit seinen Paraden das übermächtige Indien zur Verzweiflung und sicherte seinem Land so den ersten Titel der Geschichte.
In den Wochen danach musste er seine ganz persönliche Geschichte immer wieder erzählen - aber auch mit dem Abstand von mehreren Monaten funkeln seine Augen immer noch und manchmal muss er auch kurz innehalten, wenn er an die Tage im September zurückdenkt.
SPOX: Herr Faqiryar, was kommt Ihnen als erstes in den Sinn, wenn Sie an das Turnier zurückdenken?
Mansur Faqiryar: Wie ich mir die Siegerehrung so aus der Ferne angeschaut habe.
SPOX: Aber Sie waren doch als Leistungsträger mittendrin?
Faqiryar: Ich saß auf einer Bühne neben der eigentlichen Bühne und habe mir meine Mannschaft angesehen, wie sie alle vor den Kameras posierten. Minister und Funktionäre, die gesamte Delegation, und Fans waren ebenfalls mittendrin. Alle mussten auf dieses historische Bild. Das war faszinierend, entspannend und amüsant zugleich.
SPOX: Das komplette Turnier lief für den krassen Außenseiter Afghanistan wie ein Märchen ab?
Faqiryar: Kann man so sagen. Ehrlich gesagt hätte ich nicht gedacht, dass wir gewinnen. Nach dem dramatischen Halbfinale hätte man meinen können, dass eine Steigerung nicht möglich ist. Im Finale hatte Indien gefühlte 90 Prozent Ballbesitz und wir zwei Torschüsse, die noch nicht mal klare Chancen waren. Beide waren drin.
SPOX: Sie sorgten auch mit ein paar Botschaften auf Ihren Klamotten für Aufsehen.
Faqiryar: Vor dem Spiel habe ich einen unserer Betreuer gebeten, mir zwei Shirts drucken zu lassen. Auf dem einen stand: 'Peace for Afghanistan, Nepal, Syria, Palestine' und auf der Rückseite: 'Lang lebe Afghanistan!' Das hatte ich bei der Siegerehrung an. Und auf dem anderen: 'Ich bin stolz, Afghane zu sein.' Das hatte ich bei der Rückkehr nach Afghanistan an. Ich glaube, dass meine Botschaften angekommen sind.
SPOX: Das Finale gegen Indien fand am 11. September statt. Ein bedeutungsschwangeres Datum für Afghanistan.
Faqiryar: Ich bin ein religiöser Mensch und glaube nicht an Zufälle. Für mich war das eine Vorbestimmung, dass wir an diesem Tag gewinnen sollten.
SPOX: Zumindest gab es dem Land einen gewissen Schub?
Faqiryar: Ich würde es nicht mit dem WM-Titel der Deutschen 1954 und dessen Auswirkungen auf das Land vergleichen wollen, obwohl ich das schon gelesen habe. Dafür sind die Vorzeichen zu unterschiedlich. Der entscheidende Punkt ist: Durch unseren Sieg wurden die Menschen vom Alltag abgelenkt. Ein bemerkenswerter Satz von Präsident Karsai ist mir im Gedächtnis geblieben: 'Milliarden von US-Dollars haben nicht das bewirken können, was euer Sieg bewirkt hat.' Das war vielleicht ein wenig übertrieben, aber prinzipiell geht das schon in diese Richtung.
SPOX: Wofür steht der Fußball heute in Afghanistan?
Mansur Faqiryar: Für Ablenkung. Die Erfahrung zeigt, dass besonders in krisengeschüttelten oder finanzschwachen Ländern die Leidenschaft für jegliche Art anderer Inhalte als der üblichen schlechten Nachrichten besonders groß ist. Das ist auch in Afghanistan der Fall. Wenn wir diese Ablenkung bescheren können, haben wir unsere Pflicht getan. Die Wahrnehmung der Leute nimmt manchmal auch groteske Züge an. Ich würde sagen, die Leidenschaft für den Fußball ist eher vergleichbar mit der in Brasilien oder Italien als mit der in Deutschland.
Seite 1: Der erste Titel mit Afghanistan
Seite 2: Besuch bei Karsai und das verrückte erste Mal
Seite 3: Emotionen und die spezielle Mischung
SPOX: Als Sie mit Afghanistan im Spätsommer die Südasienmeisterschaft geholt und damit den größten Erfolg des Verbandes gefeiert haben, waren Millionen Ihrer Landsleute auf den Straßen und der Fußball war ein wenig mehr als nur Ablenkung.
Faqiryar: In den Tagen war das das Lebenselixier für alle. Wir haben eine Lawine losgetreten. Vom einfachen Bauern bis zum Staatspräsidenten. Endlich wurde nicht über die Stereotype berichtet, über Krieg, Tod und Mord.
SPOX: Die Nationalmannschaft lief bis dato immer nebenher, mit dem Gewinn des Titels sollte sich was daran ändern?
Faqiryar: Ich freue mich aus vollem Herzen für das afghanische Volk. Ich denke bei den feiernden Afghanen an die Leute, die zum ersten Mal auf den Straßen tanzen, lachen und feiern. Und das erfüllt mich mit Stolz.
SPOX: Sie waren bei Staatspräsident Karsai.
Faqiryar: Mittwochs haben wir noch gefeiert, am Donnerstagabend bin ich dann zurück nach Deutschland geflogen, am Freitagabend hatte ich mit dem VfB Oldenburg in der Regionalliga ein Spiel. Noch am Gepäckband in Deutschland bekam ich den Anruf: 'Du musst sofort zurückkommen, der Präsident will Dich empfangen! Und er besteht auf Dein Kommen.' Also bin ich mit der nächsten Maschine am Samstag wieder zurück. Ich war alleine bei ihm, der Rest der Mannschaft war bereits einen Tag zuvor zum Essen eingeladen. Nur der Trainer und der Vereinspräsident waren noch dabei.
SPOX: Wie war das für Sie bei Karsai?
Faqiryar: Keine große Show, sondern ganz bodenständig. Er war wirklich interessiert und wir haben uns gut unterhalten. In diesem Moment habe ich mich besonders für meine Eltern gefreut. Sie haben auf ihre Heimat verzichtet, um uns eine bessere Zukunft in einem fremden Land zu gewährleisten. Und dann sitzt der Sohn beim Staatspräsidenten ihres Heimatlandes und wird von ihm mit Lob überschüttet. Das war für sie ein emotionaler Moment.
SPOX: Was hat sich für Sie geändert?
Faqiryar: Mir wurde der Beiname 'Qaramon' verliehen. Das heißt so viel wie Sieger oder Held, irgendwas dazwischen. Manche nennen mich auch Magnet, wegen der gehaltenen Elfmeter. Superlative sind völlig normal in Afghanistan. Auf den Straßen Kabuls werde ich inzwischen erkannt.
SPOX: Wie gehen Sie mit Nationalstolz um?
Faqiryar: Wir Deutsche haben damit ja so unsere Probleme. Ich aber nicht. Ich lebe diese Sache mit der Nationalmannschaft und bin stolz, für Afghanistan zu spielen. Ich habe aber auch kein Problem damit zu sagen: 'Ich bin ein stolzer Deutscher.'
SPOX: Wann haben Sie Ihr erstes Spiel für Afghanistan bestritten?
Faqiryar: Das war 2011 gegen Bhutan. Ich durfte durchspielen, wir haben 3:0 gewonnen. Ein schönes Erlebnis, das schnell von einer für Afghanistan typischen Episode eingeholt wurde.
SPOX: Erzählen Sie.
Faqiryar: Ein paar Monate danach hatte ich mir das Kreuzband gerissen. Es stand ein WM-Qualifikationsspiel gegen Palästina an, als mich der Verband anrief: 'Du musst kommen!' Ich habe ihnen versucht zu erklären, dass das mit einem Kreuzbandriss ziemlich ungünstig sein könnte - nur hatte der Verband inklusive mir nur zwei Torhüter angemeldet. Und nur mit einem Keeper dürften sie nicht spielen. Also bin ich in den Flieger nach Tadschikistan - in Afghanistan durften wir damals nicht spielen - und saß 20 Stunden später als zweiter Torhüter auf der Bank.
SPOX: Hatten Sie vor dem ersten Trip zu einem Spiel in Afghanistan auch Angst oder zumindest Respekt?
Faqiryar: Ja, aber ich wollte schon immer ein Heimspiel bestreiten und einen Titel für mein Land holen. Das waren meine Ziele. Deshalb vergesse ich auch den Tag nie, es war der 22. August: Ein Freundschaftsspiel gegen Pakistan. Ein Heimspiel gegen den großen Erzrivalen, das erste Spiel auf afghanischem Boden seit zehn Jahren. Was für ein Risikospiel, in vielerlei Hinsicht. Der Verband hat alles auf eine Karte gesetzt und gehofft, dass das Spiel gewonnen wird.
SPOX: Wie lief der Tag ab?
Faqiryar: Eigentlich hätte ich in Oldenburg sein müssen, am Tag drauf stand ein Pokalspiel gegen Goslar an. Aber ich musste da einfach hin... Keiner in Afghanistan hätte ernsthaft geglaubt, dass wir anreisen würden. Aber wir sind zu fünft aus Deutschland gekommen. Also waren wir da, 'die Ausländer' in der Heimat ihrer Eltern. Das Stadion glich einer Baustelle, die waren gerade dabei, die Sitze reinzuschrauben. Überall lagen Steine und Kabel herum. Aber sie haben es in zwei Tagen hinbekommen. Das Stadion war dann natürlich hoffnungslos überfüllt, die Stimmung schwankte zwischen Euphorie und Aggressivität. 6.000 Zuschauer fasst das Stadion. Weit vor dem Spiel wurden bereits 10.000 Tickets verkauft, am Spieltag selbst standen angeblich nochmal doppelt so viele vorm Stadion.
SPOX: Klingt spannend, aber auch gefährlich.
Faqiryar: Die Fahrt zum Stadion war das reinste Chaos. Die Leute sind ausgerastet, als wir mit dem Konvoi durch die Straßen gefahren sind. Überall waren Straßensperren, das Militär, die Polizei und private Sicherheitskräfte waren sich ständig uneins über die Sicherheitslage. Da gab es einige sehr heikle Momente, wenn die sich angebrüllt und gegenseitig bedroht haben. Da traute keiner dem anderen. Der eine wollte uns durchwinken, der andere den ganzen Bus durchsuchen, die nächsten unter dem Bus nachschauen und so weiter. Wenn da einer eine unbedachte Aktion losstartet, bricht die totale Panik aus. Wir sind nach einer wahren Odyssee dann doch angekommen. Die Partie lief perfekt für uns, die Pakistani wollten am Ende wohl gar nicht gewinnen. Das war wie ein Pulverfass und als die Tore fielen, explodierte der Kessel. Wir gewannen 3:0.
SPOX: Was ist danach passiert?
Faqiryar: Die Leute haben den Platz gestürmt. Plötzlich standen tausende Fans auf dem Rasen, mittendrin Politiker und Prominente, alle wollten teilhaben am Triumph. Jeder mit seiner eigenen kleinen Sicherheitsarmee im Schlepptau, alle bis an die Zähne bewaffnet. Und wir mittendrin. Unsere Sicherheit war nicht mehr gewährleistet, deshalb wurden wir ganz schnell in die Katakomben geführt. Der ganze Tag hätte auch ganz anders laufen können, das muss man so sagen. Das erste Tor nach etwa zehn Minuten hat die Lage etwas entspannt, bis dahin waren die Spannungen auf den Rängen förmlich greifbar. Und für die Sicherheit aller Leute in einem Stadion konnte niemand ernsthaft die volle Verantwortung übernehmen.
Seite 1: Der erste Titel mit Afghanistan
Seite 2: Besuch bei Karsai und das verrückte erste Mal
Seite 3: Emotionen und die spezielle Mischung
SPOX: Wie wird in Afghanistan eigentlich über Fußball berichtet?
Faqiryar: Auf den üblichen medialen Wegen. Mit der Berichterstattung hierzulande kann man es aber nicht vergleichen. Es gibt 20, 25 Fernsehstationen. Die Berichterstattung beschränkt sich aber zumeist auf das Wesentliche.
SPOX: Was kein Nachteil sein muss.
Faqiryar: Genau. Der Fußball wird noch sehr ursprünglich gesehen. Das ist nicht in allen Bereichen so. Besonders der indische Einfluss auf die Unterhaltungsbranche ist enorm, Bollywood ist allgegenwärtig. Darauf springen die Afghanen ziemlich an. Ansonsten bleibt eine gewisse Distanz zu den großen Nachbarn Indien und Pakistan. Afghanistan vertraut lieber seiner eigenen Kultur, seiner Musik, seinen eigenen Riten.
SPOX: Und auf die ganz großen Emotionen.
Faqiryar: In Afghanistan ist alles voller Emotionen. Was die Afghanen machen, tun sie mit hundert Prozent Einsatz, Liebe und Leidenschaft.
SPOX: Kann das nicht auch sehr anstrengend sein?
Faqiryar: Das ist es in der Tat manchmal. Als wir den Titel geholt hatten, wurde nicht gejubelt - da war das Land wie in Ekstase. Normales Jubeln, so wie wir das in Deutschland kennen, gibt es nicht. Die Menschen drehten komplett durch, einige erlebten die Tage wie in Trance.
SPOX: Was wäre passiert, hätte die Mannschaft nicht gewonnen?
Faqiryar: Das ist das Problem: In Afghanistan ist entweder alles super oder alles ganz schlecht. Es gibt dazwischen keine gesunde Mischung. Da schlagen die Dinge unglaublich schnell um. Die Enttäuschung wäre unglaublich gewesen, man hätte sich wohl auf einige Übersprunghandlungen einstellen müssen.
SPOX: Sie sind in Bremen aufgewachsen, als Deutscher sozialisiert. Wie begegnen Sie einem Mitspieler, der - vorsichtig formuliert - noch mehr Temperament besitzt als Sie?
Faqiryar: Die speziellen Eigenarten bekommt man aus den Jungs nicht raus. Das ist auf den ersten Blick natürlich ein Nachteil. Kompensiert wird das aber durch unglaubliches Engagement und Willen.
SPOX: Wie war die Mischung in Nepal innerhalb der Mannschaft?
Faqiryar: Wir waren vier Spieler aus Deutschland, zwei aus den USA und noch zwei Exil-Afghanen, die erst vor kurzem ins Ausland sind. Der Rest waren Spieler aus Afghanistan. Da ist es naturgemäß schwierig, zum Beispiel europäisch geprägten Fußball zu spielen. Fast alles wird übertrieben vorgetragen, es muss alles genial sein. Ronaldo, Messi - das sind die Maßstäbe. Darunter geht nichts. Aber auch der Fußball in Afghanistan hat sich entwickelt. Man darf nicht vergessen, dass Fußball, wie wir es kennen, erst seit weniger als einem Jahrzehnt dort gespielt wird.
SPOX: Gibt es einen geregelten Ligabetrieb in Afghanistan?
Faqiryar: Gespielt wird nur in Kabul, an der Liga nehmen acht Mannschaften teil. Aus jedem Teilgebiet des Landes qualifiziert sich eine Mannschaft über ein Casting für die Meisterschaftsrunde. Es gibt dann zwei Vierergruppen, die Halbfinals werden in Hin- und Rückspiel entschieden und am Ende das große Finale. Alles innerhalb von zwei Monaten. In den einzelnen Regionen werden erst nach und nach Kunstrasenplätze gebaut, die FIFA engagiert sich da sehr.
SPOX: Wie sehen Ihre persönlichen Ziele für die Zukunft aus?
Faqiryar: Ich will mich auf jeden Fall noch weiter mit einbringen. Ich will den Menschen, die weitaus schlechtere Voraussetzungen haben als ich, helfen. Wie genau das geschehen soll, ist in der Planung. Angedacht ist eine Fußballschule. Jedenfalls gibt es einige Anfragen aus Afghanistan von Firmen oder Privatleuten, die sich eine Zusammenarbeit mit mir vorstellen könnten. Am liebsten wären mir Stiftungen, die auch nachhaltig in das Land reinvestieren.
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