Andre Breitenreiter gelang gleich in seiner ersten Spielzeit als Trainer des FC Schalke 04 der beste Saisonstart seit 44 Jahren. Im Interview spricht Breitenreiter über den Fehler mit den Julian-Draxler-LKWs, den problematischen Hype um junge Spieler und seinen vermeintlichen Dank als Coach des SC Paderborn 07 nach der 0:6-Niederlage gegen den FC Bayern München.
SPOX: Herr Breitenreiter, vor fünf Jahren musste man Sie ein wenig dazu überreden, Trainer beim TSV Havelse zu werden. Weshalb?
Andre Breitenreiter: Nachdem ich in der Vorsaison noch als Spieler mit dem TSV in die Regionalliga aufgestiegen bin, beendete ich meine aktive Karriere und probierte daraufhin einige Dinge aus, um zu sehen, welche berufliche Perspektive am besten zu mir passen könnte. Ich habe eine Sport-Agentur geleitet, war Trainer in einer Fußballschule und habe für den 1. FC Kaiserslautern gescoutet.
SPOX: Plötzlich kam der Anruf aus Havelse.
Breitenreiter: Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich am Bahnhof stand und einen Anruf von Manager Stefan Pralle bekam. Er meinte, man habe sich entschieden, Aufstiegstrainer Jürgen Stoffregen zu ersetzen - und nur ich käme als Nachfolger in Frage. Ich habe sofort abgesagt. Ich wollte nicht der Grund sein, dass Jürgen entlassen wird.
SPOX: Und dann?
Breitenreiter: Wir haben zunächst über weitere mögliche Kandidaten gesprochen. Es sind ein paar Tage vergangen. Da Mannschaft und Trainerteam aber nicht mehr harmonierten, entschied der Verein, den Trainer auch ohne fixe Nachfolgeregelung freizustellen.
SPOX: Warum haben Sie es sich dann anders überlegt und zugesagt?
Breitenreiter: Natürlich habe ich mir meine Gedanken gemacht beziehungsweise sie intensiviert. Das war meine Heimat, Havelse lag nur 15 Minuten von meinem Zuhause entfernt, ich konnte gleich in der Regionalliga erste Erfahrungen als Coach sammeln und hatte eigentlich nichts zu verlieren, da die Mannschaft sowieso so gut wie abgestiegen war. Wir haben dann das Wunder noch geschafft - und seitdem bin ich Trainer. (lacht)
SPOX: Zwei Manager aus der Bundesliga gaben Ihnen so gute Rückmeldungen, dass Sie sich entschlossen, den Fußballlehrerschein machen. Welche Manager waren denn das und woher wussten die, was im Detail in Havelse vor sich ging?
Breitenreiter: Die Namen möchte ich nicht nennen. Am Ende meiner Spielerkarriere hatte ich bereits die ersten Trainerscheine in der Tasche und habe Sportmanagement studiert, um einfach breit aufgestellt zu sein. Als ich in Havelse begann, hatte ich die A-Lizenz. Da wir von Sieg zu Sieg eilten, saßen immer mal wieder einige Manager auf der Tribüne und wollten sehen, was da gerade passiert. Es hatte sich einfach herumgesprochen. Dabei wurde mir gesagt, man sähe eindeutig eine klare Handschrift, ich solle doch so schnell wie möglich den Fußballlehrerschein machen. Dann könnte mir eine große Karriere bevorstehen.
SPOX: Ihr Aufstieg als Trainer war in der Tat sehr steil und pausenlos. Nach Havelse und Paderborn steht Ihnen jetzt auf Schalke eine vollkommen andere Infrastruktur zur Verfügung: es gibt ein richtiges Trainingszentrum mit mehreren Plätzen, eine Rasenheizung und einen Videoanalysten. Inwiefern hat das Ihre Arbeit beeinflusst oder gar verändert?
Breitenreiter: Beeinflusst schon, verändert aber gar nicht. Entscheidend ist und bleibt ja ganz unabhängig davon, wie viele Mitarbeiter um einen herum sind, dass ich als Coach meine Spielidee auf die Mannschaft übertrage und sie die Spielprinzipien verinnerlicht. In Havelse und Paderborn mussten wir leider noch viel Energie dafür verschwenden, die Trainingsbedingungen so optimal wie möglich zu gestalten. Hier dagegen brauche ich mich nicht darum kümmern, ob beispielsweise der Rasen gepflegt wird. Schalke ist ein Top-10-Verein in Europa, der einem in dieser Hinsicht vieles erleichtert und vereinfacht. Wir müssen jetzt keine unnötigen Diskussionen mehr führen. Andererseits ist die reine Arbeit nicht weniger geworden, da es hier einen größeren Stab rund um die Mannschaft gibt. Es ist intensiver geworden, das Team um das Team zu führen und zusammen zu halten.
SPOX: Nach der verkorksten Vorsaison erzeugten Sie schon während der Vorbereitungszeit eine neue Aufbruchstimmung auf Schalke. Als man in Wolfsburg verlor und kurz darauf Julian Draxler ging, herrschte wurde sie wieder etwas gedämpft. War das ein erster Einblick, wie schnell sich der Wind bei einem Verein wie dem S04 auch drehen kann?
Breitenreiter: Da ist in meinen Augen vieles von außen hineingetragen worden. Das gilt auch für die Jahre zuvor, das hat Schalke auch ein Stück weit ausgemacht: man denkt in Superlativen - entweder alles super oder alles komplett mies. Dieses Spiel spielen wir aber nicht mit. Uns war bewusst, dass es kleinere Rückschläge geben wird. Man kann in Wolfsburg auch mal ein Spiel verlieren. Und dass Darmstadt nicht nur bei uns einen Punkt mitgenommen hat, weiß man jetzt auch. Wir haben deshalb nichts in Frage gestellt.
SPOX: Als Draxlers Wechsel feststand, haben Sie Alarm geschlagen und gemeint: "Verein und Umfeld müssen sich fragen, warum ein Julian Draxler geht." Wie lautet Ihre Antwort?
Breitenreiter: Ob ich Alarm geschlagen habe ist Interpretationssache. Ich gab meiner Meinung nach einzig und allein eine realistische Einschätzung ab. Ich habe in den Vorjahren sehr wohl wahrgenommen, was auf Schalke passiert ist. Da gab es viele Dinge, die gut liefen - aber auch welche, die man noch verbessern kann. Der Hype um junge Spieler, der auch von den Medien zusätzlich befeuert wird, ist mir an vielen Standorten zu schnell zu groß.
SPOX: Als Draxler vor zwei Jahren seinen Vertrag bis 2018 verlängerte, fuhren LKWs mit Plakaten von Draxlers Konterfei durch das Ruhrgebiet. Ein Fehler?
Breitenreiter: Der Verein sowie Julians Management hielten das damals für eine gute Idee. Es geht jetzt vor allem darum, aus solchen Fehlern zu lernen. So etwas sollte man in dieser Art und Weise künftig nicht mehr machen. Es ist nicht klug, junge Spieler nach kurzer Zeit bereits in den Himmel zu heben. Die Erwartungen werden dann einfach zu groß, der Spieler kann sich nicht mehr ohne Druck frei entfalten und verliert seine Unbekümmertheit. Deshalb habe ich warnend den Finger gehoben - und nicht den Verein kritisiert, weil er in den Vorjahren angeblich diesbezüglich alles falsch gemacht habe.
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SPOX: Draxler meinte, er habe auf Schalke stagniert und eine Luftveränderung gebraucht. Ist es für Sie nachvollziehbar, dass er das sagt?
Breitenreiter: Definitiv. Ich hatte mit Julian einen engen Austausch. Er hat sich offen, ehrlich und korrekt verhalten. Er sagte mir an einem der ersten Trainingstage bereits, dass er den Verein gerne wechseln möchte. Er hatte das Gefühl, bei Misserfolgen in der Öffentlichkeit häufig als derjenige angesehen zu werden, der die Verantwortung dafür trägt. Der Wechsel und die Suche nach einer neuen Herausforderung in einem anderen Umfeld als im heimischen sind vor allem menschlich absolut nachvollziehbar. Er möchte erwachsen werden.
SPOX: Sportlich ist es jedoch ein herber Verlust.
Breitenreiter: Natürlich. Er war bei uns auf einem guten Weg, absolvierte eine tolle Vorbereitung und hat in den ersten Spielen überzeugende Leistungen abgeliefert. Er hätte auch bei uns den nächsten Schritt gemacht und sich sportlich weiterentwickelt. Davon bin ich nach wie vor hundertprozentig überzeugt. Doch darum ging es ihm nicht. Er wollte von hier ausbrechen.
SPOX: Auch Max Meyer hat bereits geäußert, dass die Erwartungshaltung an ihn auf Schalke enorm hoch sei. In Leroy Sane steht nun das nächste vielversprechende Talent im Fokus. Glauben Sie, dass es heutzutage wirklich möglich ist, den Hype und die Euphorie von solchen Spielern fernhalten zu können?
Breitenreiter: Ich denke, wir sind auf einem guten Weg. Es ist wichtig, dieses Thema offensiv anzusprechen - genau das tue ich. Es müssen alle sensibilisiert werden und an einem Strang ziehen: Verein, Trainer und auch die Medienlandschaft. Man darf in der Berichterstattung nicht übertreiben.
SPOX: Ist das nicht ein hehres Ziel?
Breitenreiter: Es ist auf jeden Fall machbar. Mir ist bewusst, dass entsprechend darüber berichtet wird, wenn diese Jungs hervorragende Leistungen bringen. Allerdings darf das nicht zwischen den Extremen pendeln: im einen Moment werden sie bewusst in den Himmel gelobt, in schwächeren Phasen wird auf sie eingeprügelt. Das muss aufhören. Diese Spieler sollen die Bodenhaftung bewahren können, denn wir als Trainer müssen weiterhin auf sie einwirken, damit sie sich nicht auf dem Erreichten ausruhen. Wir sollten alle die Sinne dafür schärfen, mit jungen Menschen insgesamt vorsichtiger umzugehen.
SPOX: Diesen Pendeln zwischen den Extremen betrifft ja aber auch Sie als Trainer.
Breitenreiter: Aber der große Unterschied ist, dass ich reifer bin und damit umgehen kann. Ich brauche darüber nicht zu jammern, das ist Teil des Geschäfts. Ich kann die Berichterstattung gelassener einschätzen. Ein junger Spieler dagegen ist sehr sensibel und lässt sich leichter beeinflussen. Ich bin nicht naiv und denke, ich könnte die Medienlandschaft verändern. Ich möchte nur für Verständnis werben, dass hinter den Protagonisten der Bundesliga Menschen stehen, die auch einen weichen Kern haben und es sowohl in positiver, als auch in negativer Hinsicht nicht leicht haben, mit diesem Hype umzugehen. Auch sie sollen ein normales Leben führen können.
SPOX: Sie haben als Coach in Paderborn mal Ihr Fett wegbekommen, als Sie sich im Anschluss an die 0:6-Heimniederlage gegen den FC Bayern für das "tolle Erlebnis" bedankten. Waren Sie von dem Echo erstaunt, dieser Ausspruch wird ja teils bis heute rezitiert?
Breitenreiter: Da kann ich heute total drüber lachen. Das wurde völlig falsch dargestellt. Ich habe es sicherlich schlecht formuliert, doch mich natürlich in keiner Weise für das 0:6 bedankt. Es ging mir darum auszudrücken, wie stolz alle in Paderborn auf das sein können, was wir gemeinsam erreicht haben. Es zeigt sich ja auch aktuell, welch zwei außergewöhnliche Jahre das waren. Auch ich mache Fehler und habe das falsch rübergebracht. Wenn der eine oder andere meint, das heute noch so darzustellen, dann soll er das eben tun.
SPOX: Mit solch vermeintlichen Problemen hatten Sie zuvor in Ihrer Trainerkarriere kaum zu tun. Wie empfinden Sie das Leben in dem doch etwas eigenen Universum Bundesliga?
Breitenreiter: Ich glaube es ist mein Vorteil, lange Zeit außerhalb dieser großen Welt gearbeitet zu haben. Ich konnte die unterschiedlichen Prozesse gerade bei einem solch kleinen Verein wie Havelse miterleben. Dort habe ich das Essen bestellt, die Trainingskleidung sortiert oder Wäsche gewaschen. Ich weiß es nicht nur zu schätzen, dass mir diese Dinge nun abgenommen werden, sondern genieße natürlich auch die höhere Aufmerksamkeit für unsere Arbeit.
SPOX: Haben Sie noch ausreichend Zeit, Ihre privaten Werte zu leben?
Breitenreiter: Ich muss immer schmunzeln, wenn ich höre, dass man als Bundesliga-Trainer 24 Stunden beschäftigt ist. Das ist aus meiner Sicht nicht wahr. Alle Bundesligisten sind gut aufgestellt, es werden einem viele Sachen abgenommen. Gedanklich ist man vielleicht den ganzen Tag mit dabei. Die Zeit ist durchaus intensiv, gerade wenn man alle drei Tage spielt bleibt wenig Zeit für Privates. Es geht aber sehr wohl. Das sollte man nicht zu hoch hängen.
SPOX: Am 8. Oktober sind Sie 100 Tage Schalke-Trainer, exakt einen Monat später findet Ihr erstes Revierderby gegen Borussia Dortmund statt. Dass der BVB nicht so cool ist, haben Sie schon verinnerlicht?
Breitenreiter: Ich rede nicht über Dortmund, weil das für uns überhaupt noch kein Thema ist. Wir schauen von Spiel zu Spiel, wie man so schön sagt. Vor allem die Entwicklung der Mannschaft steht im Vordergrund. Bis zum Derby stehen noch etliche Partien an und die haben im Moment Vorrang. Wir können über den BVB sprechen, wenn es soweit ist.
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