Die Identitätskrise: Attacke ins Verderben?

Von Benny Semmler
Quo vadis, FC St. Pauli? Jubelbilder wie dieses nach dem 1:0-Erfolg in Hannover sind rar geworden
© Getty

Die Aufstiegseuphorie ist dahin, nach vier Niederlagen in Serie herrscht beim FC St. Pauli Katerstimmung. Während Trainer Holger Stanislawski offiziell die Trendwende ausruft, wird die Frage nach der Qualität des Kaders laut.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Markus Thorandt brachte es über die Lippen. "Wir machen uns Gedanken. Wir sind in der Realität angekommen. Die Leichtigkeit ist weg."

Solche Formulierungen verkniff sich der Trainer des FC St. Pauli, Holger Stanislawski, zuvor vehement. Stani, wie ihn das Gros der Reporter kumpelhaft ruft, spulte auch nach einer Serie von vier Niederlagen in Folge noch jenes Vokabular ab, das doch kürzlich noch wunderbar passte.

Der gebürtige Hamburger lobte in jener Pressekonferenz am vorigen Donnerstag beharrlich die "hohe Qualität des Gegners", malte sich gleichermaßen den "außergewöhnlichen Tag" aus, den eine Mannschaft wie der FC St. Pauli in der Bundesliga stets braucht und formulierte die Siegchancen seines Teams wie gehabt. Im Grunde alles wie immer.

Letzter Sieg gegen Nürnberg

Dabei hat sich die Ausgangslage nach dem flotten Saisonstart ins Gegenteil verkehrt. Die Spieltage, an denen der Aufsteiger mit imposanten und euphorischen Leistungen den Gegner phasenweise vorführen durfte, sind rar geworden.

In Zahlen: Das braun-weiße Spektakel genoss zuletzt am 16. Oktober im Heimspiel gegen den 1. FC Nürnberg einen Dreier in der Bundesliga. Seitdem herrscht akute Punkteflaute.

Für Stanislawski ist die jetzige Phase der Negativ-Rekord seiner Karriere. Noch nie verlor er als Trainer vier Spiele in Serie. Für den Verein ist der aktuelle Trend mit null Punkten aus 360 Minuten Bundesligafußball zumindest besorgniserregend.

Trotzdem wäre es ungerecht, die jetzige Laune eines Aufsteigers als mies zu bewerten. Immerhin rangiert der Verein auf Platz 13 und hat 13 Punkte auf dem Konto.

Parallelen zur Vorsaison

Ungünstig, suboptimal und problematisch wären unter Umständen die adäquaten Begriffe für eine Phase, die der Coach in ähnlicher Form zuletzt im Februar zu bewältigen hatte. Damals drohte der Verein den Anschluss an die Aufstiegsränge zu verlieren - doch dann entdeckte der Coach den viel zitierten "Reset-Knopf" und brachte seine Mannschaft zurück auf Kurs. Jedoch geschah die erwähnte Trendwende damals noch in Liga zwei.

Heute kommentiert der Trainer die Talfahrt wie folgt: "Wir machen es in den restlichen fünf Spielen vor der Winterpause anders. Ab sofort gibt es nur noch Attacke. Wir werden das Spiel wieder selbst in die Hand nehmen, höher stehen und pressen." So klingt Stanislawski in Reinkultur, so will er Fußball spielen, so hat es schließlich auch in der 2. Liga geklappt.

"Es ist ganz gut, jetzt einen kleinen Cut zu machen, damit wir die Abläufe wieder reinkriegen, die uns auch zu Beginn dieser Saison so stark gemacht haben", bestätigt Marius Ebbers die neue alte Richtung.

Die Leichtigkeit leidet

Tatsächlich leidet die Leichtigkeit, die das System Stanislawski neben aller Leidenschaft eben auch benötigt, gerade kolossal. Und die Auswirkungen sind empfindlich: Kein Bundesliga-Team erzielte weniger Tore, kein Bundesliga-Team schoss seltener auf das gegnerische Tor, kein Bundesliga-Team holte weniger aus seinen Chancen heraus.

Gerade diese Bilanz muss einen Trainer wie Stanislawski, der nach wie vor den offensiven Stil ("hoch stehen", "sofort pressen") liebt und vermittelt, gewaltig beschäftigen. "Wir wollen ja weiter Fußball spielen und nicht nur unser Spielfeld verteidigen", sagt er, wohl wissend, dass das Gros der Gegner einen deutlich größeren Ideenkatalog in Sachen Spielaufbau bietet.

Aussagen wie diese mögen einerseits modern, andererseits aber auch stur klingen - in jedem Fall ist der Kurs, den Stanislawski weiter vorgibt, alternativlos.

St. Pauil steckt in der Zwickmühle

Die Zeiten von weit und hoch gehören im einst rustikalen Stadtteilklub endgültig der Vergangenheit an. Schließlich gelang der Aufstieg ins Oberhaus mit 72 Toren - das war schick. Und da klatschten auch die finanzkräftigeren Stadiongäste brav und im Stehen Applaus. Die ungeheure Eventlust wurde befriedigt. Auch das ist ein Faktor am Millerntor.

Sich also nun von allem zu verabschieden, was Stanislawski und sein Trainerteam in vier Jahren spieltaktisch entwickelt haben, wäre nicht nur sportlich unsinnig, sondern auch atmosphärisch undenkbar. St. Pauli steckt in der Zwickmühle: Offensivfußball moderner Prägung ist zur Identität geworden - doch es wachsen gleichzeitig die Zweifel, ob der Kader die sportliche Qualität hat, den Stil auch in der Bundesliga durchzubringen.

Stanislawski expermientierfreudig

Nicht umsonst experimentiert Stanislawski Spieltag für Spieltag mit seiner Startelf. Eine Rotationsflut, die übrigens längst nicht von alle Seiten beklatscht wird. Allein gegen Bayer Leverkusen am letzten Spieltag war die Startelf gegenüber der Vorwoche auf vier Positionen umgekrempelt worden. Es war das x-te Mal in dieser Spielzeit, dass der Kader von Umstellungen derart übersät wurde. Diese ruckartigen und bisweilen extremen Wechselspielchen - mal Starter, mal Tribüne - finden nicht allerorts Zustimmung und werden zunehmend kritisch gesehen.

Spiele die Saison des FC St. Pauli durch: Mit dem Bundesliga-Tabellenrechner!

Neben den Stimmungslöchern offenbart die jüngste Analyse außerdem - und das mit größtmöglicher Konstanz - den Hang zur Naivität. Als Klaas-Jan Huntelaar für Schalke jüngst zum 2:0 einköpfte, war es bereits das fünfte Gegentor nach einer Ecke. Auch Renato Augustos Siegtor am letzten Spieltag ging einer Standardsituation voraus. Und selbst das kaum eingeplante Erstrunden-Aus im DFB-Pokal beim Chemnitzer FC nahm nach einer Ecke seinen Anfang.

Rückstände nach Standards

Über die Standards kassiert der Tabellen-Dreizehnte nicht nur die Masse seiner Gegentore - die Fehler führen parallel eben auch zu Rückständen, die mangels Offensivoptionen zu selten wieder aufgeholt werden können. In der Konsequenz gerät die vorgegebene Spielstruktur ins Wanken und Stabiles wirkt nach einem Gegentor instabil. Und gerade einem mittelbegrenzten Team wie der FC St. Pauli muss es schnellstmöglich gelingen, zumindest den ruhenden Ball zu kontrollieren.

Denn mittlerweile ist es fast ein Gemeinplatz: Auf höherem Niveau entscheiden die vermeintlichen Kleinigkeiten, wie eben Standards. Was zur finalen Frage führt: Kann St. Pauli überhaupt Bundesliga?

Leistungsträger durchwachsen

Bei einigen Profis sucht man den Nachweis immer häufiger. Gerade prägende Spielfiguren und Stammspieler wie Fabian Boll, Ebbers und Thorandt stoßen auf hohem Bundesliganiveau an ihre Grenzen.

Das früher von Eleganz und Spielwitz begleitete Spiel eines Charles Takyi ist tragischerweise gleich komplett in der 2. Liga geblieben. Und Gerald Asamoah? Der ist zwar stets bemüht -  doch seine Karrierebilanz (41 Tore in 255 Erstliga-Partien) wird sich in Hamburg nicht mehr merklich verbessern. Zudem verbeißt sich St. Paulis Schuss-Bester, Matthias Lehmann, zu sehr in der eigenen Hälfte.

Hektisch statt konzentriert werden dann auch noch die wenigen Chancen vergeben, die zuvor mühsam und mit enormem Aufwand erspielt wurden.

Der Weg ist noch weit

Folglich gingen nahezu alle Partien gegen etablierte Teams (Leverkusen, Schalke, Stuttgart, Dortmund, Hoffenheim) verloren - und es war augenscheinlich: Der Weg zu den erlesenen Bundesligaklubs ist noch weit.

In der Summe bedeutet das: Für den Augenblick mangelt es tatsächlich an der Qualität. Oder in Stanislawskis Worten: "Wer aus solchen Chancen keine Tore macht, hat keine Punkte verdient."

Stefan Orth bleibt St. Pauli-Präsident

Artikel und Videos zum Thema