Prügelknabe der Nation: Ist die Dauerkritik an Joshua Kimmich vom FC Bayern München berechtigt?

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Einst als Anführer der Fußball-Nation geschätzt, ist Joshua Kimmich mittlerweile ihr beliebtester Prügelknabe - zurecht? Und wie geht es weiter? Der 28-Jährige steht vor einem wegweisenden Jahr samt Heim-Europameisterschaft und großer Entscheidung.

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Kurz vor Jahresende, mitten in der besinnlichen Weihnachtszeit also, hat sich auch noch Ralph-Uwe Schaffert über Joshua Kimmich geäußert. Der für Satzungsfragen zuständige DFB-Vizepräsident, wer auch sonst? Schafferts Meinung nach sei Kimmich "bisher den Beweis schuldig geblieben", ein Führungsspieler zu sein. "Auch im Verein." Somit steigt der DFB-Funktionär mit durchaus rüstigen 67 Jahren in den deutschen Trend-Volkssport ein: Kimmich kritisieren.

Eine kleine Auswahl an Darbietungen der vergangenen Wochen: Laut Mario Basler ist Kimmich "ein Spieler, der Bayern nicht gut tut. Er trabt da immer rum im Mittelfeld. Er ist sehr phlegmatisch in seinen Bewegungen." Für eine "wandelnde Verunsicherung" hält ihn Dietmar Hamann. Kimmich würde "überall herumturnen, nur nicht da, wo er spielen sollte", monierte Markus Babbel und kritisierte: "Wie wenn er Ballerina-Schuhe anhätte, fällt er auf einmal nur noch hin."

Und was hat der nationale Chef-Experte Lothar Matthäus zu sagen? "Nicht nur auf dem Platz ist er nicht mehr so präsent, auch nach dem Spiel ist er nicht mehr so präsent. Er versteckt sich." Überspitzt scheinen diese kritischen bis polemischen Aussagen von allerhand Experten und sogenannten Experten das aktuelle Meinungsbild der polternden deutschen Fußball-Stammtisch-Öffentlichkeit zu Joshua Kimmich widerzuspiegeln.

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Joshua Kimmich: Wie aus dem Hoffnungsträger ein Prügelknabe wurde

Kimmich gilt als Anführer der vermeintlich goldenen Generation um die Jahrgänge 1995 und 1996. Im Alter von 25 Jahren krönte er sich mit dem FC Bayern 2020 unter ungewöhnlichen Corona-Umständen zum Triple-Sieger, gemeinsam mit seinen Generations-Genossen Leon Goretzka, Serge Gnabry und Niklas Süle. Leroy Sané stieß kurz danach dazu.

Seitdem holte der FC Bayern "nur" drei Meistertitel, was für die eigenen Ansprüche selbstverständlich zu wenig ist. Vor allem aber wegen der zahlreichen Enttäuschungen mit der deutschen Nationalmannschaft ist längst nicht mehr von einer goldenen Generation die Rede. Als prägendes Gesicht dieser Mannschaften steht Kimmich naturgemäß sinnbildlich für ihr Abschneiden, das weiß er auch selbst. Nach dem zweiten WM-Vorrunden-Aus hintereinander sagte Kimmich vor ziemlich genau einem Jahr unter Tränen in Katar: "Das ist für mich nicht einfach zu verkraften, weil ich persönlich mit dem Misserfolg in Verbindung gebracht werde."

Aus dem Anführer der Fußball-Nation wurde innerhalb kürzester Zeit ihr beliebtester Prügelknabe. Führungsstärke, Positionierung, Medienpräsenz - die Kritik an Kimmich ist mannigfaltig. Teils sicherlich berechtigt, in der derzeitigen Ausprägung aber völlig entkoppelt von der Realität und seinen tatsächlichen Leistungen. Am Beispiel Kimmich lässt sich die Polarisierung im Fußball und übrigens auch in der Gesellschaft ganz allgemein wunderbar beobachten. Grautöne sind aus der Farbpalette verschwunden. Ja, Kimmich war mal besser. Nein, das bedeutet nicht automatisch, dass er jetzt schlecht ist.

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FC Bayern: "Joshua Kimmich spielt im Großen und Ganzen eine gute Saison"

"Bei uns in Deutschland gibt es entweder ganz schwarz oder ganz weiß. Aktuell haben extrem viele Kritiker das Gefühl, auf Jo draufhauen zu müssen. Teilweise boshaft und gewiss vollkommen überzogen", sagt Michael Reschke im Gespräch mit SPOX und GOAL. Reschke kennt Kimmich bestens. Als Technischer Direktor holte er ihn 2015 zum FC Bayern, nach vielen Jahren als Manager in der Bundesliga ist er aktuell für eine Berater-Agentur tätig.

"Er hat im Moment nicht seine beste Phase und teilweise Aktionen dabei, die ungewöhnlich für ihn sind - Fehlpässe, schlecht geführte defensive Zweikämpfe. Das ist ihm früher sehr selten passiert", findet Reschke. "Aber trotzdem spielt er im Großen und Ganzen eine gute Saison. Wenn ihm dann aber mal ein Fehler passiert, wird seine gesamte Spielleistung oftmals auf diese negative Aktion reduziert." Ein Blick auf die nackten Zahlen verrät: Kimmich ist statistisch gesehen nicht abgestürzt, in einigen Kategorien weist er sogar seine besten Werte seit dem Triple auf.

Kimmichs Passquote von 90,79 Prozent ist die höchste in diesem Zeitraum, seine Zweikampfquote von 58,41 Prozent ebenfalls, die Anzahl an Ballverlusten pro 90 Minuten hat unterdessen einen Tiefstand erreicht. Natürlich definieren diese Statistiken keine Leistungen, über eine Halbserie gesehen geben sie aber doch einen generellen Eindruck. In Erinnerung blieben jedoch einzelne krasse Fehler wie bei der 1:5-Blamage gegen Eintracht Frankfurt oder die Rote Karte gegen den SV Darmstadt 98 - solche Aussetzer passieren Kimmich mittlerweile öfter.

Joshua Kimmich: Die Saisonen seit dem Triple im Vergleich

Kategorie2019/202020/212021/222022/232023/24
Spielminuten43553324340440531631
Scorerpunkte pro 90 Minuten0,50,540,40,40,33
Chancen kreiert pro 90 Minuten2,522,822,932,62,65
Ballverluste pro 90 Minuten16,6417,3816,915,1214,62
Ballgewinne pro 90 Minuten6,558,077,487,786,68
Passquote in Prozent89,6788,6688,4589,7990,79
Zweikampfquote in Prozent56,9053,9354,0555,3358,41

Kimmich beim FC Bayern: Tiefere Positionierung - weniger Scorerpunkte

Bei den kreierten Chancen pro 90 Minuten bewegt sich Kimmich etwa auf dem Niveau der Vorsaisonen, negativ auffällig ist jedoch: Kimmich ist an weniger Treffern direkt beteiligt als eigentlich von ihm gewohnt. In der laufenden Saison kommt er bisher nur auf 0,33 Scorerpunkte pro 90 Minuten. In absoluten Zahlen macht das ein Tor und sechs Assists in 20 Pflichtspielen.

Zurückzuführen ist diese schwächere Ausbeute auch auf seine Positionierung auf dem Platz, die sicherlich nicht seine ideale ist. Wie in den vergangenen Spielzeiten gibt Kimmich in einem 4-2-3-1-System zumeist den defensiven Sechser, unter Tuchel ist diese Rolle aber mehr auf Stabilität und Absicherung ausgelegt als beispielsweise unter Vorgänger Julian Nagelsmann. "Holding Six", Sie wissen schon.

Eigentlich wollte Tuchel im Sommer einen waschechten Vertreter dieser Spezies nach München holen. Einen Abschied Kimmichs schloss Tuchel unterdessen nicht explizit aus, was zu wilden Spekulationen führte. Letztlich scheiterte die Verpflichtung von Wunschspieler João Palhinha knapp und kurios, die Spekulationen um Kimmich blieben selbige.

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Führungsspieler Joshua Kimmich: Michael Reschke nennt zwei Beispiele

In der Hinrunde war Kimmich unumstritten gesetzt, trug in Abwesenheit von Manuel Neuer und Thomas Müller sogar regelmäßig die Kapitänsbinde. Tuchel äußerte sich mehrmals wohlwollend über Kimmich. "Jo ist absoluter Stammspieler und Fixpunkt in unserer Mannschaft. Er will jeden Ball, duckt sich nie weg vor Verantwortung", lobte der Trainer im November, als mal wieder Diskussionen um dessen Person aufflammten.

Kimmich hatte gegen Darmstadt die Rote Karte gesehen und fehlte deshalb gesperrt, als Leon Goretzka und Konrad Laimer im zentralen Mittelfeld beim 4:0-Sieg gegen Borussia Dortmund glänzten. Trotzdem berief Tuchel Kimmich für das anschließende Champions-League-Spiel gegen Galatasaray Istanbul in die Startelf. Er dankte es mit seiner wohl besten Hinrunden-Leistung samt Assist zum wichtigen 1:0.

"Ich habe Jo in diesem Spiel ganz bewusst beobachtet. Es hat mich sehr interessiert: Wie reagiert er auf diese Diskussionen?", erinnert sich Reschke. "Er hat ein ganz starkes Spiel gemacht und erneut bewiesen, dass er mit großem Druck umgehen kann."

Diesbezüglich erzählt Reschke auch von einem Gespräch mit einem "Schlüsselspieler des 1. FC Köln", der beim letztjährigen Meisterschafts-Finale auf dem Platz gestanden hatte. "Er hat mir berichtet, wie er förmlich gespürt hat, welche Bayern-Spieler sich am meisten aufgelehnt haben: Kimmich und Müller." Der FC Bayern sicherte sich bekanntlich dank eines ganz späten Treffers von Jamal Musiala den elften Meistertitel in Serie.

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Wie plant der FC Bayern München im defensiven Mittelfeld?

Weniger abstrakt als die Führungsspieler-Debatte, ist die Frage nach Kimmichs idealer Positionierung auf dem Platz. An Tuchels genereller Einschätzung, dass Kimmich in einer offensiveren Rolle besser aufgehoben ist, dürfte sich trotz dessen ordentlichen Leistungen als defensiver Sechser in der Hinrunde nichts geändert haben.

"Er kann die Holding Six zwar auch spielen, da geht meiner Meinung nach zu viel seiner herausragenden offensiven Kreativität verloren", findet auch Reschke. "Am stärksten ist Jo auf der Doppelsechs neben einem klassischen Balleroberer oder auf der Acht."

Dem Vernehmen nach bemüht sich der FC Bayern weiterhin intensiv um einen neuen defensivstarken Sechser, neben Sommer-Kandidat Palhinha (28) ist auch Martín Zubimendi (24) von Real Sociedad aus San Sebastian im Gespräch. Sollte ein Transfer klappen, könnte Kimmich etwas nach vorne rutschen und somit womöglich Leon Goretzka verdrängen. Oder den Klub im Sommer verlassen? Kimmichs Vertrag läuft 2025 aus, wie immer in solchen Fällen lautet die Devise: verlängern oder verkaufen.

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Große Entscheidung und Heim-EM: Auf Joshua Kimmich wartet ein wichtiges Jahr

"Natürlich wollen wir ihn so lange wie möglich für uns am Ball sehen und werden ihm das auch in den Vertragsgesprächen vermitteln. Joshua Kimmich steht für den FC Bayern - uns gefällt, dass er immer Verantwortung übernimmt und vorangeht", sagte Präsident Herbert Hainer im Oktober der SportBild.

Gleichzeitig kursiert das Gerücht, wonach die Bosse des FC Bayern einen Verkauf Kimmichs nicht mehr kategorisch ausschließen. Erste Gespräche über seine Zukunft haben bereits stattgefunden, ernsthaft verhandelt wurde bisher aber noch nicht. Nach Informationen von SPOX und GOAL wartet Kimmich auf konkrete Signale seines langjährigen Arbeitgebers. Und zwar tatsächlich: er.

Anders als zuletzt spekuliert, sucht Kimmich nicht nach einem Berater. Wie schon seinen aktuellen Vertrag im Jahr 2021 will er auch den nächsten selbst verhandeln. Der FC Bayern ist sein erster Ansprechpartner, Interesse aus dem Ausland gibt es aber reichlich. In den vergangenen Monaten wurde Kimmich mit zahlreichen europäischen Top-Klubs in Verbindung gebracht, etwa mit Manchester City, United und dem FC Barcelona.

"Jo hat bei Bayern alles erreicht, sportlich könnte ein Auslands-Wechsel seine Karriere neu beleben", findet Reschke. "Aber ich habe ihn als absoluten Familienmenschen kennengelernt. Sein Umfeld wird bei seiner Zukunfts-Entscheidung eine gewichtige Rolle spielen." Kimmich ist mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern in München heimisch.

Hier in München steigt am 14. Juni auch das Eröffnungsspiel der Heim-Europameisterschaft. Nach drei enttäuschenden Turnieren hintereinander bietet sie Kimmich und seiner Generation die große Chance zur Wiedergutmachung. Eine erfolgreiche EM, ein zweites Sommermärchen - und schon würde in der öffentlichen Wahrnehmung aus schwarz wieder weiß werden.

FC Bayern München: Die ersten Spiele im neuen Jahr

DatumWettbewerbGegner
12. Januar, 20.30 UhrBundesligaTSG Hoffenheim (H)
21. Januar, 15.30 UhrBundesligaSV Werder Bremen (H)
24. Januar, 20.30 UhrBundesliga1. FC Union Berlin (H)