Die Verschiebung der Macht

Alfred Gislason ist seit 2008 Trainer beim THW Kiel
© getty

Der THW Kiel ist beim Final Four um die Champions League in Köln nur in der Außenseiterrolle. Nicht nur Halbfinal-Gegner Veszprem (Sa., 18 Uhr im LIVETICKER), sondern auch Paris und Kielce haben gewaltig aufgerüstet. Es droht die erste titellose Saison seit 13 Jahren. Die Gründe? SPOX fragt Stefan Lövgren und Henning Fritz.

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Nikolaj Markussen steigt im Rückraum hoch und zündet eine Fackel - Thierry Omeyer hält. Kiril Lazarov verschafft sich mit einem Wackler Platz und wirft - Thierry Omeyer hält. Luc Abalo bricht über Rechtsaußen durch, springt ein und - Thierry Omeyer hält mit einem irren Reflex. Julen Aguinagalde steht am Kreis frei vor dem Kasten - Thierry Omeyer hält.

Omeyer, Omeyer, Omeyer. Immer wieder Omeyer. Fast 20.000 Fans in der Kölner Arena flippen aus, "Titi"-Sprechchöre hallen von den Rängen. Der THW Kiel schlägt Atletico Madrid mit 26:21. Es ist der 27. Mai 2012. Der Tag, an dem sich die Zebras ihren dritten und bisher letzten Champions-League-Titel sicherten.

Seither haben sich die Dinge verändert. Omeyer steht längst nicht mehr im Kasten der Kieler, sondern bei Paris St.-Germain. Kam der Triumph der Norddeutschen beim Final Four vor vier Jahren nicht unerwartet, wäre er diesmal eine Überraschung.

Lövgren: "THW auf keinen Fall der Favorit"

"Der THW ist auf keinen Fall der Favorit - im Gegenteil", sagte Stefan Lövgren, in seinen zehn Jahren von 1999 bis 2009 als Spieler an der Förde zur Legende aufgestiegen und beim ersten Sieg in der Königsklasse 2007 selbst auf der Platte, im Gespräch mit SPOX.

Kiel hat seine Ausnahmestellung als das Schwergewicht im europäischen Handball eingebüßt. "Es gibt immer mehr richtig starke Mannschaften, die den Anspruch haben, um den Champions-League-Sieg mitzuspielen. Das trifft natürlich auch Kiel", weiß Lövgren.

Und der frühere Zebra-Torhüter Henning Fritz ergänzte gegenüber SPOX: "Für den THW wird es sicherlich nicht einfacher, die absoluten Topstars zu verpflichten, weil man bei manch anderem Verein mehr Geld verdienen kann und es nicht so viele Spieler gibt, die den Unterschied ausmachen."

Der Trend unter einigen Spielern geht dahin, zu Vereinen zu wechseln, bei denen das Gehalt stimmt und gleichzeitig die Belastung aufgrund der viel geringeren Leistungsdichte in den jeweiligen Ligen deutlich niedriger ist.

PSG, Veszprem und Kielce

Bei PSG scheint das Geld aus Katar beispielsweise nur so durch die Halle zu fliegen. Mit 17 Millionen Euro verfügen die Franzosen über den mit Abstand höchsten Etat im Handball-Zirkus. Neben Omeyer tummeln sich Weltstars wie Nikola Karabatic oder Mikkel Hansen im illustren Kader des Hauptstadtklubs.

Der Kader von Paris St.-Germain

Paris bekommt es im ersten Halbfinale mit KS Vive Kielce zu tun (15.15 Uhr im LIVETICKER). Der polnische Spitzenklub hat mit Talant Dujshebaev nicht nur einen der besten Trainer der Welt in seinen Reihen, sondern mit Tobias Reichmann auch einen der DHB-Helden, die im Januar bei der EM Gold holten.

Für das nötige Kleingeld (Etat 8,5 Millionen Euro) sorgen der Stromkonzern Tauron und Bertus Savas, ein Mäzen aus den Niederlanden.

Und dann wäre da noch MKB Veszprem KC (7 Millionen Euro) um seinen Superstar Laszlo Nagy. Der ungarische Verein, vom größten Energieversorger sowie einem der größten Geldinstitute des Landes gesponsert, lotste 2015 Aron Palmarsson von Kiel an den Balaton, in den Jahren zuvor bereits Momir Ilic und Christian Zeitz.

Fritz sieht Veszprem vorne

"Wenn ich mich auf einen Favoriten auf den Titel festlegen müsste, würde ich Veszprem nennen. Sie haben mehr Möglichkeiten, weil sie in der Breite ziemlich stark sind. Bei Paris ist viel auf Nikola Karabatic zugeschnitten. Wenn es gelingt, ihn aus dem Spiel zu nehmen und die Räume eng zu machen, dann sehe ich PSG nicht als den klaren Favoriten", hält Fritz, der 2007 mit Deutschland Weltmeister wurde, große Stücke auf das Team, das zum dritten Mal in Serie im CL-Halbfinale auf Kiel trifft.

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"Meine Favoriten sind Paris, Veszprem und Kielce", sagte Linksaußen Dominik Klein vor seinem letzten Auftritt im THW-Trikot, ehe es ihn nach Nantes zieht: "Wenn man sich die Namen der Spieler anschaut, die bei den anderen Mannschaften auflaufen, sind das einfach die Favoriten."

Erste titellose Saison seit 2003?

Die Gefahr, dass Kiel erstmals seit 2003 eine Saison ohne einen Titel beenden wird, ist real. Nach dem Aus im Pokal-Viertelfinale verabschiedete sich der Rekordmeister auch vorzeitig aus dem Kampf um die HBL-Krone, um die sich die Rhein-Neckar Löwen und die SG Flensburg-Handewitt zanken.

Der THW wird in der Bundesliga nur als Dritter einlaufen und damit das schlechteste Ergebnis seit 13 Jahren abliefern, als 2003 am Ende der sechste Platz zu Buche stand. Erst zum zweiten Mal in den vergangenen 12 Jahren heißt damit der deutsche Meister nicht Kiel.

"Kiel hat immer die Zielsetzung, ganz oben zu stehen. Jetzt sieht es tatsächlich so aus, als ob der THW seit vielen Jahren mal wieder leer ausgeht. Das ist nicht die Erwartungshaltung, die Verein, Spieler und Fans haben", sagte Lövgren.

Ein beispielloses Verletzungspech

Das Resultat ist zwar ein wenig enttäuschend, dafür aber erklärbar. Rene Toft Hansen, Patrick Wiencek, Steffen Weinhold, Christian Dissinger oder Blazenko Lackovic, um nur ein paar Beispiele zu nennen: Kein Spitzenklub wurde so treu vom Verletzungspech begleitet wie der THW.

Trainer Alfred Gislason sprach sogar davon, das Verletzungspech "in diesem Ausmaß noch nicht erlebt" zu haben.

"Es ist hart, mit den ganzen Verletzungen durch alle Wettbewerbe durchzukommen. Irgendwie war der Wurm drin. Aber man muss auch anerkennen, dass die Löwen und Flensburg in dieser Saison einfach besser waren", meinte der frühere Spielmacher Lövgren dazu.

Außenseiterrolle als Chance

Trotzdem muss sich der THW mit seinem Etat von etwa 9,5 Millionen Euro nicht kleiner machen, als er ist. Nach wie vor verfügen die Nordlichter über einen hervorragenden Kader, der jeder Mannschaft die Hölle heiß machen kann.

Das hat die Gislason-Truppe im CL-Viertelfinale bewiesen, als man als klarer Außenseiter den FC Barcelona nach Hin- und Rückspiel (29:24, 30:33) aus dem Weg räumte und dafür gesorgt hat, dass erstmals überhaupt in der Geschichte des Final Four kein spanischer Vertreter dabei ist.

"Gerade darin, dass der THW nicht der Favorit ist, kann die Chance liegen", erklärte Fritz mit Blick auf den Showdown in Köln: "Wenn der THW zu seinem Spiel findet, kann er jede Mannschaft schlagen."

Blick in die Zukunft

Unabhängig davon, wie es letztlich ausgeht, wird sich der THW auf die Machtverschiebung im europäischen Handball erfolgreich einstellen - davon sind Lövgren und Fritz überzeugt.

Kiel werde "auf Dauer nicht damit leben wollen", bei einem Champions-League-Final-Four nur Underdog zu sein, glaubt der 45-jährige Schwede: "Sie werden sich entsprechend ausrichten."

Und Fritz ergänzte: "Die Verantwortlichen in Kiel haben das Wissen und die Fähigkeit, den Verein gut aufzustellen. Deshalb mache ich mir über die Zukunft des THW keine Sorgen."

Ein Coup in Köln würde den Weg in die Zukunft erleichtern. Der Sieger erhält nämlich 500.000 Euro und somit so viel Geld wie nie zuvor.

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