FC Turin und der 70. Jahrestag der Superga-Katastrophe: Der Tag, an dem der Fußball starb

Am 4. Mai 1949 schlug das Schicksal gnadenlos zu: Die größte Mannschaft in der Geschichte von Torino kam bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Das ist ihre Geschichte.
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Der 4. Mai 1949 war für den FC Turin, und den gesamten italienischen Fußball ein schwarzer Tag. Vor 70 Jahren starb eine der besten Mannschaften der Serie-A-Geschichte. Es war ein Team, das die Hoffnungen einer vom Krieg und Faschismus gebeutelten Nation schulterte und mit einem Schlag bei der Flugzeug-Katastrophe von Superga ausgelöscht wurde.

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6. Mai 1949: Mehr als eine halbe Millionen Menschen finden sich auf der Piazza Castello vor dem Palazzo Madama im Herzen von Turin ein. Darunter zahlreiche Spieler und Funktionäre aller Serie-A-Mannschaften. Auch aus dem Ausland sind viele prominente Gesichter des Weltfußballs gekommen.

Sie alle wollen Abschied nehmen von einer der größten Mannschaften in der Geschichte des italienischen Fußballs. Einem Symbol der Hoffnung in einem von Faschismus und Weltkrieg gebeutelten Land. 31 Namen werden an diesem Freitag laut vorgelesen. Es sind Namen, die noch heute jeder eingefleischte Fan des FC Turin im Schlaf auswendig aufsagen kann.

Valerio Bacigalupo, Franco Ossola, Guglielmo Gabetto und natürlich der geniale Valentino Mazzola: Sie prägten eine Ära des italienischen Fußballs, Zeitzeugen verglichen ihren Spielstil später mit dem des niederländischen Voetbal total. Eine Ära, die am 4. Mai 1949 um 17.05 Uhr an der Wand des Superga, einem 675 Meter hohen Berg vor den Stadttoren Turins, auf dessen Gipfel eine bekannte Wallfahrtskirche im barocken Stil steht, zerschellte.

Die 31 Todesopfer an Bord der Fiat-G-212

FunktionName
SpielerValerio Bacigalupo, Aldo Ballarin, Dino Ballarin, Emile Bongiorni, Eusebio Castigliano, Rubens Fadini, Guglielmo Gabetto, Ruggero Grava, Giuseppe Grezar, Ezio Loik, Virgilio Maroso, Danilo Martelli, Valentino Mazzola, Romeo Menti, Piero Operto, Franco Ossola, Mario Rigamonti, Giulio Schubert
FunktionäreRinaldo Agnisetta, Ippolito Civalleri, Ernest Egri Erbstein, Leslie Lievesley, Ottavio Cortina, Andrea Bonaiuti (Tour-Organisator)
CrewPierluigi Meroni (Kapitän), Cesare Biancardi (2. Pilot), Antonio Pangrazi (Flugingenieur), Celestino D'Inca (Flugingenieur)
JournalistenRenato Casalbore (Tuttosport), Luigi Cavallero (La Stampa), Renato Tosatti (Gazzetta del Popolo)

Il Grande Torino und Präsident Feruccio Novo: Der Architekt

Begonnen hatte diese Ära Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre. Obwohl sich Europa da schon inmitten des zweiten Weltkriegs befand, war Fußball in Italien noch immer eine Art Fixpunkt in der Gesellschaft. Etwas, woran sich die Menschen in unsicheren und blutigen Zeiten festhielten.

Zu dieser Ansicht kamen auch die Propagandaberater von Diktator Benito Mussolini, die den Machthaber vom großen Wert von Italiens besten Fußballern zur Unterhaltung des Volkes überzeugten. Zwei Jahre vor dem Kriegseintritt Italiens (1940) übernahm Feruccio Novo als frisch gewählter Präsident die Geschicke von Torino.

Dass der Klub da schon nicht mehr wie 1906 bei der Gründung Torino Calcio Football Club hieß, lag an einer 1936 auf Befehl der Faschisten erlassenen Anordnung, derzufolge italienische Klubs italienische Bezeichnungen und Kürzel tragen sollten. Also hieß der FC Torino fortan Associazione Calcio Torino und wurde unter der Leitung von Novo, der sich vom mittelmäßig begabten Jugendspieler zum Geschäftsmann hochgearbeitet hatte, peu a peu zum Maß aller Dinge im italienischen Fußball.

Novo scharte im Klub nach englischem Vorbild engste Freunde aus dem Torino-Umfeld um sich. Diejenigen, von denen er wusste, dass sie den Klub im Herzen tragen. Er baute Torino trotz der widrigen finanziellen Umstände nach dem Weggang von Unterstützer Marone Cinzano auf einem Fundament aus Vertrauen und Loyalität nach seinen Vorstellungen neu auf.

Verdiente ehemalige Spieler wie Antonio Janni und Giacomo Ellena erhielten ebenso tragende Rollen im Verein wie Roberto Copernico, Besitzer eines Bekleidungsgeschäfts im Herzen der Stadt, und Rinaldo Agnisetta, ein Transportunternehmer und guter Freund von Novo. Sportlich installierte der neue Präsident als Trainer den Ungarn Ernest Egri Erbstein, einen ehemaligen Spieler und Diplom-Physiker - und Sportwissenschaftler, der Novo durch seinen Aufstieg mit der AS Lucchese auf sich aufmerksam machte.

Il Grande Torino: Valentino Mazzola und Co. posieren 1948 für ein Mannschaftsfoto.
© FC Torino
Il Grande Torino: Valentino Mazzola und Co. posieren 1948 für ein Mannschaftsfoto.

Ernest Egri Ebstein und Il Grande Torino: Der Revolutionär

Novo und Erbstein, das passte auf Anhieb. Beide gelten noch heute als Fußballfunktionäre, die in puncto fußballerischer Weitsicht ihrer Zeit voraus waren und taktisch wie organisatorisch unter dem Einfluss des großen FC Arsenal der 1930er Jahre standen. Doch einer von ihnen passte nicht ins Bild der damaligen italienischen Gesellschaft.

Erbstein musste nur sechs Monate nach seiner Ankunft bei Torino aus dem Land flüchten, denn mit dem zweiten Weltkrieg begann auch die europaweite Verfolgung und Auslöschung der Juden. Sechs Jahre lang floh Erbstein mit seiner Familie durch Europa vor Krieg, Mord und Totschlag und hielt dabei dennoch Kontakt mit Novo.

"Nach Erbsteins Flucht saßen sechs verschiedene Trainer auf der Bank von Torino: Ignaz Molnar, Andras Kutik, Angelo Mattea, Tony Cargnelli, Antonio Janni und Luigi Ferrero", schrieb der Autor Dominic Bliss einst über die Seelenverwandtschaft zwischen Erbstein und Novo: "Alle trugen ihren Teil zur Entstehung von Grande Torino bei. Doch mit keinem verfügte Novo über eine solche Bindung wie mit Erbstein."

Nach Ende des Krieges kehrte Erbstein zum schon amtierenden Meister von 1945/46 zurück und änderte unter dem Einfluss des erlebten Grauens seinen Umgang mit den Spielern. Während viele seiner Kollegen einen autoritären Führungsstil hatten, pflegte Erbstein eine freundschaftliche, aber durchaus auch strenge Beziehung zu seinen Spielern.

So führte er als einer der ersten seiner Zunft Vorbereitungs- und Ernährungspläne ein, ließ Abwehr und Angriff separat trainieren und die Spieler vor jedem Spiel ein spezifisches Aufwärmprogramm durchlaufen. Wer sich nicht an die Regeln hielt, musste 50 Lira in die Mannschaftskasse bezahlen.

Fußball war für Erbstein nicht bloß Spiel, sondern moralische Verpflichtung. Es ging ihm nicht nur ums Gewinnen, sondern darum, dass seine Mannschaft mit Stil auftrat, sich auf keine Provokationen des Gegners einließ - sprich: sauberen, eleganten Fußball spielte. Unter Erbstein wurde eine bis 1945 sehr gute Mannschaft zu einer Macht im Weltfußball.

Ort des Unglücks: Die Basilica di Superga auf dem Gipfel des 675 Meter hohen Berges vor den Toren von Turin.
© getty
Ort des Unglücks: Die Basilica di Superga auf dem Gipfel des 675 Meter hohen Berges vor den Toren von Turin.

Wie Torino zur Nummer eins in Italien wurde: Das WM-System

Anders als sein späterer Erfolgstrainer profitierte Novo - so makaber es auch klingen mag - von den Unruhen des Krieges. Sie begünstigten ihn darin, eine kluge Transferstrategie zu fahren. Während rivalisierende Klubbesitzer in Italien von größeren Investitionen in Spieler absahen, sah Novo die Chance, kostengünstig an personellen Stellschrauben in seiner Mannschaft zu drehen.

1941 kam in Romeo Menti und Franco Ossola die später gefürchtete Flügelzange zu Torino. Besonders Ossola galt schon in jungen Jahren als kommender Star. Gleiches galt auch für Guglielmo Gabetto, der gemeinsam mit Felice Borel vom Erzrivalen Juventus kam. Und obwohl jener Borel lediglich ein Jahr bei Torino blieb, ist sein Name aufs Tiefste mit der Geschichte von Grande Torino verwurzelt.

Als Borel im Mai 1939 mit der italienischen Nationalmannschaft in Mailand gegen England antrat, überraschten die Three Lions die Squadra Azzurra mit einer für damalige Verhältnisse revolutionären Formation, dem sogenannten WM-System, das Herbert Chapman mit dem FC Arsenal in den 1930er Jahren so erfolgreich entsonnen hatte.

In dieser 3-2-2-3-Formation bildete die Defensive mit drei Verteidigern und zwei defensiven Mittelfeldspielern ein großes W. Umgekehrt bildeten die zwei offensiven Mittelfeldspieler mit den Flügeln und dem Stoßstürmer ein M. Einerseits versprach das WM-System mit einem zentralen Verteidiger und zwei Außenverteidigern, die die gegnerischen Flügelstürmer decken konnten, mehr defensive Stabilität. Andererseits brachte sie die individuellen Stärken der Offensivspieler besser zur Geltung.

Borel war beeindruckt, galt das klassische 2-5-3 - genannt Metodo - doch schon damals als leicht ausrechenbar. Doch weil nun mal jeder in Italien so spielte, hatte keine Mannschaft dadurch einen Vorteil. Als Borel zu Torino wechselte, erzählte er dem für Innovationen stets offenen Novo von dieser neuen Art, Fußball zu spielen. Nach stundenlangen Diskussionen in der Nacht zum 18. Dezember 1941, die bis in die Morgenstunden angedauert haben sollen, lenkten Novo und Roberto Copernico ein.

Torino wurde Vizemeister hinter der AS Rom und Novo rüttelte nur noch ein einziges Mal an dieser Taktik. Weil Italiens Nationalmannschaft nach wie vor im 2-5-3 spielte (immerhin wurde Italien damit 1934 und 1938 Weltmeister) und die Torino-Spieler eine immer gewichtigere Rolle in der Squadra Azzurra spielten, ließ sich Novo von Nationaltrainer und Ex-Torino-Meistertrainer Vittorio Pozzo ins Gewissen reden und stellte um.

Die ersten zwei Saisonspiele 1942/43 gingen verloren, doch das dritte konnte, durfte und wollte Novo nicht verlieren - schließlich war es das Derby gegen Juve. Gegen den Klub, der den italienischen Fußball eine Dekade zuvor dominiert hatte. Also vertraute er wieder dem WM-System und Torino fegte mit 5:2 über den Stadtrivalen hinweg. Das Derby markierte die endgültige Umkehrung der fußballerischen Machtverhältnisse in Turin.