"Wir haben keine Angst vor Wasser"

Von Zusammengestellt von Jan-Hendrik Böhmer
Pirelli-Motorsportchef Paul Hembery (r.) mit Fürst Albert von Monaco beim Rennen im Fürstentum
© Getty

Pirelli ist angetreten, um die Formel 1 wieder spannender zu machen. Nach einem Drittel der Saison fragt SPOX gemeinsam mit der Community von mySPOX und Facebook: War es ein Erfolg? Motorsportchef Paul Hembery erklärt, wie seine Reifen für bessere Zweikämpfe sorgen, warum die Kritiker falsch liegen und warum man bei Pirelli keine Angst vor Regen oder Konkurrenz hat. Ein Zwischenfazit vor dem laut Vorhersagen ersten möglichen Regenrennen in Kanada (Training, Fr., 16 Uhr im LIVE-TICKER).

Anzeige
Cookie-Einstellungen

SPOX: Herr Hembery, das erste Saisondrittel ist vorbei. Wie lautet Ihre persönliche Bilanz?

Paul Hembery: Für mich war es am wichtigsten, dass wir unsere eigenen Vorgaben erfüllen. Wir sind angetreten, um das Überholen leichter und dadurch die Rennen spannender zu machen. Das haben wir mit höherem Reifenverschleiß und zusätzlichen Boxenstopps geschafft. Schon jetzt gab es einige großartige Rennen, bei denen bis zur letzten Runde um den Sieg gekämpft wurde. Und das nicht etwa in Fernduellen. Nein, Rad an Rad. Und nur so können die besten Fahrer der Königsklasse auch ihr gesamtes Talent zeigen.

SPOX: Sie sind also mit dem, was Ihre Reifen bisher geleistet haben, zufrieden?

Hembery: Wir sind glücklich, ja. Schließlich hatten wir einen sehr guten Start. Die meisten Fans und Experten sagen, dass sie auch dank uns sehr spannende und unterhaltsame Rennen gesehen haben. Darauf sind wir sehr stolz. Allerdings ist es ein Naturgesetz der Formel 1, dass man nie wirklich zufrieden mit dem ist, was man hat. Und deshalb arbeiten wir weiter hart an der nächsten Evolutionsstufe und daran, uns zu verbessern.

SPOX: Sie sprechen das Lob von Fans und Experten an. Hat Sie dieses positive Feedback überrascht? Schließlich war die Stimmung vor der Saison noch eine ganz andere...

Hembery: Überrascht? Nicht wirklich. Es ist nur menschlich, neuen Dingen skeptisch gegenüberzustehen. Besonders in einer Umgebung, in der man so unter Erfolgsdruck steht, wie in der Formel 1. Genau das haben wir vor dem Saisonstart erlebt. Wir selbst wussten aber durch unser Testprogramm, bei dem uns unsere Fahrer nach über 18.000 Kilometern genau das Feedback gaben, das wir erwartet hatten, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

mySPOX-User Manül: Dennoch ist die erste Saison sicher eine große Herausforderung. Was hat Sie auf dem Weg in die Formel 1 vor die größten Probleme gestellt?

Hembery: Wenn ich ehrlich bin, war eigentlich alles eine gewaltige Herausforderung. Aber wenn ich mich auf eine Sache festlegen muss, dann ist es der Zeitdruck. Wir haben uns im Juni des vergangenen Jahres mit der FIA auf eine Zusammenarbeit geeinigt - und bereits zwei Monate später war der Prototyp auf der Strecke. Nur vier Monate danach durften die Teams dann erstmals mit dem neuen Reifen testen, weitere vier Monate später stand in Australien bereits das erste Rennen an. Das ist eine unvorstellbar kurze Zeit für ein so kompliziertes Unterfangen. Dass wir es dennoch geschafft haben, ist ein tolles Zeugnis für das Talent und die harte Arbeit, die jeder Pirelli-Mitarbeiter in dieses Projekt investiert hat.

mySPOX-User Dr_D: Hätte sich dieser enorme Aufwand auch gelohnt, wenn es keinen Einheitsreifen, sondern, wie noch vor einigen Jahren, weitere Reifenhersteller geben würde?

Hembery: Natürlich. Wir bei Pirelli lieben den Wettbewerb. Aber diese Frage stellt sich im Moment überhaupt nicht. Denn wir sind in der Formel 1, um den Teams zu dienen. Und aktuell wollen diese überhaupt keinen weiteren Hersteller. Das würde nämlich mehr Entwicklungsarbeit bedeuten - und die kostet Geld. Geld, das bei der aktuell angespannten Wirtschaftslage niemand hat. Vielleicht ändert sich das ja in Zukunft. Dann sind wir bereit. Aber aktuell kümmern wir uns nur um die Wünsche unserer Kunden.

SPOX-Leser Sebastian Pönicke (via Facebook): Auch die Fans sind ja irgendwie Ihre Kunden. Und unter den Zuschauern gibt es einige, die kritisieren, dass die neuen Reifen die Formel 1 zu künstlich machen. Sie nennen es ein Glücksspiel. Was sagen Sie dazu?

Hembery: Glücksspiel? Ich denke, das Gegenteil ist der Fall. Wir hatten die spannendsten Rennen seit langer Zeit. Wir hatten viele Stopps. Das stimmt. Aber es waren immer die besten Fahrer, die ganz vorne gelandet sind und dabei ihr Talent gezeigt haben. Ich könnte den Einwand verstehen, wenn plötzlich diverse Hinterbänkler-Teams gewinnen würden. Aber das ist nicht der Fall. Ganz im Gegenteil. Der amtierende Weltmeister hat fünf von sechs Rennen gewonnen. Daran ist nichts künstlich. Unsere Reifen haben den Sport nicht verändert, sie haben nur das Racing verstärkt und eine noch spannendere Show ermöglicht.

SPOX: Dennoch haben Sie selbst Ihre Reifen als "seltsames Ding" bezeichnet und erklärt, dass es "oft unmöglich" wäre vorherzusehen, wie sie sich auf einem neuen Kurs (wie jetzt in Montreal) verhalten. Das klingt irgendwie doch ein wenig nach Lotterie...

Hembery: Wir sind bescheiden genug, um uns einzugestehen, dass wir noch neu in diesem Geschäft sind. Dass es besonders in der ersten Saison Dinge gibt, die man erst dann lernt, wenn man sie macht. Monaco war eine große Unbekannte und Kanada ist wieder so ein ganz besonderer Kurs, den man unmöglich simulieren kann. Dazu gibt es zwölf verschiedene Autos, 24 verschiedene Fahrer und unbekannte Wetterbedingungen - da kann man unmöglich auf alles eine Antwort haben. Besonders nicht im Bezug auf die Reifen. Die verändern sich ständig und unterliegen dabei keinem vorhersagbaren Muster. Wir lernen also die ganze Zeit. Aber Glücksspiel? Nein. Alles, was wir tun, baut auf unseren Test-Erfahrungen auf.

mySPOX-User Manül: Test-Erfahrungen sind ein gutes Stichwort. Während Sie mittlerweile gute Erkenntnisse mit den Trockenreifen gewonnen haben, gelten die Intermediates und Full Wets weiterhin als unerprobt. Fürchten Sie das erste Regenrennen?

Hembery: Zugegeben, wir haben mit unseren Regenreifen noch nicht so viel Erfahrung wie mit den anderen Mischungen. Aber das heißt nicht, dass wir Angst vor Wasser hätten. Im Gegenteil. Beim Türkei-GP gab es eine nasse Trainingssitzung und dadurch viele wichtige Erkenntnisse. Seither freuen wir uns sogar auf das erste Rennen im Regen.

mySPOX-User Maksniang: Ein weiteres Problem, über das sich einige Fahrer zuletzt beklagt haben, sind die Gummireste neben der Ideallinie. Die würden das Überholen erschweren...

Hembery: Dazu wird es immer unterschiedliche Meinungen geben. Während das Überholen für einige zu schwer ist, gibt es viele andere, die sagen, dass es sogar zu einfach ist. Fakt ist, dass alle Reifen in der Formel 1, egal von wem sie hergestellt werden, während eines Stints gut eineinhalb Kilogramm Gummi verlieren. Und je mehr Reifen man benutzt, desto mehr Abrieb bleibt auf der Strecke liegen. So funktioniert Motorsport nun mal. Aber wenn das wirklich zum Problem werden sollte, haben wir die Chance, dem entgegenzuwirken. Für Barcelona haben wir den harten Reifen beispielsweise etwas härter gemacht. Das hat geholfen. Wenn die Teams also eine Veränderung wünschen, sind wir bereit.

mySPOX-User Campione: Könnte man auf der anderen Seite den harten Reifen schneller machen? Oder lässt man ihn im Gegensatz zur weicheren Mischung bewusst so abfallen?

Hembery: Ausschließen kann ich eine Veränderung des harten Reifens natürlich nicht. Aber der Abstand zwischen den einzelnen Mischungen wird definitiv immer gleich bleiben. Das gehört zu unserem Konzept. Wir wollen diesen Zeitunterschied, um dadurch nicht nur Überholmanöver, sondern auch kreative Rennstrategien zu fördern.

mySPOX-User Maksniang: Gibt es denn Ihrer Meinung nach ein Team, das mit diesen kreativen Strategien besonders gut zurechtkommt und dadurch Vorteile hat?

Hembery: Die ersten Rennen haben es gezeigt: Es gibt kaum Überraschungen. Die Teams, die man immer an der Spitze erwartet, fahren auch jetzt um den Sieg. Sie haben die größten Ressourcen und die meiste Erfahrung, um die neue Situation zu bewältigen. Daneben gab es aber einige Teams aus dem Mittelfeld, die ihre Ergebnisse dank einer ausgefeilten Reifenstrategie erheblich verbessert haben. Hier fällt mir besonders Sauber ein. Als kleines Team mit geringem Budget haben sie gezeigt, wie wichtig die Strategie ist und wie man damit die Konkurrenz überrumpeln kann. Und darauf kommt es doch im Rennsport an.

mySPOX-User Campione: Wäre es nicht auch interessant, den Teams für Qualifying und Rennen eventuell einen weichen Reifensatz mehr zur Verfügung zu stellen und stattdessen auf einen harten Reifensatz zu verzichten, um die Spannung im Rennen zu erhöhen?

Hembery: Auch das wäre natürlich eine Möglichkeit. Aber in naher Zukunft planen wir so etwas nicht. Wir werden nichts überstürzen und auch keine vorschnellen Entscheidungen treffen. Bevor wir etwas an unserem Konzept verändern, werden wir mit der FIA und allen Teams über die Vor- und Nachteile sprechen. Die Regeln in diesem Jahr unterscheiden sich nur minimal von denen der vergangenen Saison. Und wir wollen an diesem etablierten Konzept nur dann etwas ändern, wenn wir einen guten Grund dazu haben.

SPOX-Leser Christian Menath (via Facebook): Und wie sieht Ihr Plan für nächstes Jahr aus? Werden wir ähnliche Pneus sehen wie in dieser Saison - oder gibt es etwas komplett Neues?

Hembery: Zuerst einmal wird es die gleichen Mischungen geben wie bisher. Und ich hoffe, dass wir ähnlich spannende Rennen sehen, wie in dieser Saison. Allerdings arbeiten wir mit unserem parallel zur Saison stattfindenden Testprogramm daran, der Formel 1 eine spannende Zukunft zu bescheren. Mal sehen, was wir in den kommenden Jahren alles tun können.

Stand in der Fahrer- und Konstrukteurs-WM

Artikel und Videos zum Thema