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Jeremy Linnnnnnn!!!

Von Florian Regelmann
Knicks-Point-Guard Jeremy Lin rockt derzeit die NBA
© Getty

Jeremy Lin rockt die NBA und sorgt für eine der unfassbarsten Storys der letzten Jahrzehnte. Aber wer ist dieser Tim Tebow der New York Knicks? SPOX über einen Spieler, der immer abgelehnt wurde, fast bei den Dallas Mavericks gelandet wäre und jetzt MVP-Sprechchöre bekommt. Außerdem: Lins Harvard-Comedy-Video.

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"At Guard. At 6'3 from Harvard. No. 17. Jeremy Linnnnnnn!!!!" Mike Walczewski ist seit weit über 20 Jahren der Hallensprecher der New York Knicks im Madison Square Garden. Und in diesen Tagen dreht er wie jeder New Yorker komplett am Rad.

Wegen dieses Jeremy Shu-How Lin. 23 Jahre alt. 1,91 Meter groß. Point Guard. Ein besonderer Point Guard. Einer, der "M-V-P"-Sprechchöre hört, wenn er in diesen Tagen im MSG an die Freiwurflinie schreitet.

Einer, für den nach dem Spiel "Jeremy" von Pearl Jam eingespielt wird, um ihm zu huldigen. Einer, für den ein eigener Rap-Song kreiert wurde. Einer, der zur Twitter-Sensation wurde. Und einer, der bei seinem Bruder Josh, Student der Zahnmedizin, auf der Couch schläft. Ja, so ist es, wenn du innerhalb kürzester Zeit von einem Niemand zur neuen NBA-Sensation wirst.

Mayweather sorgt für Lin-Eklat

Nicht mal eine eigene Wohnung

Lin wagte es einfach nicht, Geld für eine eigene Wohnung auszugeben, weil er bis letzten Dienstag keinen garantierten Vertrag (788.000 Dollar) bei den Knicks hatte und abwarten wollte, bis er mehr Sicherheit in seine Karriere gebracht hat. Er war schließlich nur der Nummer-vier-Point-Guard in einem Team ohne Point Guards. Er konnte ja nicht ahnen, dass er die NBA im Sturm erobern würde.

Es war sicher eine verständliche Entscheidung für jemanden, der in der gesamten Saison den Beruf des Bankwärmers ausgeübt hat, mehrmals in die D-League abgeschoben wurde und insgesamt nur 65 Minuten auf dem Parkett gestanden war. Bis sich vor fünf Spielen alles änderte.

Der Witz an der Story: Die Knicks waren schon wieder kurz davor, Lin gehen zu lassen und hatten sich schon nach Ersatz (Mike James, 36 Jahre alt) umgeschaut. Aber dann brachte Knicks-Coach Mike D'Antoni Lin im Spiel gegen die New Jersey Nets. Und der Rest ist Geschichte.

Dabei handelte D'Antoni im Prinzip aus purer Verzweiflung. Sein Job stand aufgrund des miesen Saisonstarts auf dem Spiel. Einen brauchbaren Guard hatte er in seinem Kader schon lange vergeblich gesucht. Darauf zu warten, bis der übergewichtige Baron Davis endlich fit ist, macht auch keinen Spaß. Also warum nicht einfach mal Lin aufs Feld stellen? Gesagt, getan.

Besser als alle Legenden

Mit einem Erfolg, den niemand auf der ganzen Welt vorhersehen konnte. Lin erzielte in seinen fünf letzten Spielen, die letzten vier als Starter, 25 Punkte und 7 Assists, 28 Punkte und 8 Assists, 23 Punkte und 10 Assists, 38 Punkte und 7 Assists, und 20 Punkte und 8 Assists.

Dabei hat er mal eben einen All-Star wie Deron Williams schwindlig gespielt, seinen ersten NBA-Dunk verbucht und als Krönung im MSG Kobe Bryant die Show gestohlen. On National TV. Mehr geht nicht.

Kein Spieler hat seit dem NBA-ABA-Zusammenschluss 1976-77 in seinen ersten drei Starts mehr Punkte erzielt als Lin. Keiner. Nicht Magic. Nicht Bird. Nicht Jordan. Nicht Bryant. Nicht Shaq. Nicht James.

Seine Zahlen sind auch in anderer Hinsicht LeBron-James-Zahlen. Wenn es zum Beispiel darum geht, eine Serie mit Spielen zu starten, in denen er mindestens 20 Punkte und 5 Assists erzielte und über 50 Prozent aus dem Feld schoss. Vier Spiele in Serie schaffte Lin dieses Kunststück - der einzige andere Spieler mit solch einer Serie ist in dieser Saison eben LeBron.

LeBron James vs. Jeremy Lin

LeBron James, The Chosen One, und Jeremy Lin, der Ex-Spieler der Reno Bighorns und Erie Bayhawks, in einem Atemzug - es klingt nach wie vor verrückt. Dass die Knicks alle fünf Spiele dank "Linsanity" gewannen, versteht sich fast schon von selbst.

"Ich fühle mich wie in einem Traum. Ich kann das alles noch nicht wirklich begreifen, was passiert ist. Ich bin immer noch in einem schockartigen Zustand. Ich denke nicht, dass das irgendjemand kommen gesehen hat, inklusive mir. Ich bin überwältigt", sagt Lin selbst zu seinem rapiden Aufstieg.

Seine größten Qualitäten: Lin ist unglaublich aggressiv, tough und furchtlos, penetriert ständig in die Zone, kann abschließen und versteht, wie man Pick-and-Roll spielt. Dazu verteidigt er gut und macht seine Mitspieler besser. Für die Big Men der Knicks ist er schlicht ein Segen.

"Er bringt uns genau das, was wir so sehr vermisst haben in unserem Spiel. Das Wichtigste ist, dass er die Mentalität eines Point Guards hat", erklärt D'Antoni. Während der Knicks-Coach jeden Abend Lin in sein Gute-Nacht-Gebet einschließen sollte, werden sich andere Teams schon ein bisschen ärgern, wenn sie Lin so aufspielen sehen.

Von allen großen Colleges abgelehnt

Was ist die Geschichte des Jeremy Shu-How Lin? Was ist der Grund, dass der Stern des ersten US-Boys in der NBA mit chinesischer oder taiwanesischer Herkunft erst jetzt aufgegangen ist?

Ganz einfach: Lin wurde übersehen. Sein ganzes Leben lang. Immer und immer wieder. Obwohl er auf der Palo Alto High School überragend spielte und sein Team zur California Championship führte, wollte ihm keines der großen Colleges ein Basketball-Stipendium geben. Selbst Stanford, seine Lieblings-Uni, wies ihn zurück.

Also ging er nach Harvard, wo man ihn mit offenen Armen empfing und einen Platz im Basketball-Team garantierte. Dort spielte er wieder dominant, aber wieder nahm es ihm irgendwie keiner ab.

"Wenn wir gesagt haben, dass er einer der besten Playmaker des Landes ist, wurden wir ausgelacht. Aber das ist Jeremy Lin. Er kennt keine Angst", sagte Harvard-Coach Tommy Amaker gegenüber "ESPN".

Taiwanesen aus Harvard werden nicht gedraftet

Lin spielte nur in der Ivy-League, der Liga der Elite-Unis. Dazu sein asiatischer Hintergrund. Kurzum: In der NBA werden per "Gesetz" keine Taiwanesen aus Harvard gedraftet. Die NBA-Teams zweifelten vordergründig an seinem Jumpshot, seiner Defense und fragten sich, ob er generell die Fähigkeit hat, mit der Spitze mitzuhalten.

Die Folge: Kein Team draftete den Harvard-Studenten vor zwei Jahren. "Wenn du hörst, 'ein Asiate aus Harvard', dann denkst du nicht, 'oh, ein NBA-Spieler'. Das verstehe ich. So ist es nun mal", zeigte Lin Verständnis.

Dennoch war es für Lin nicht immer einfach zu verstehen, warum ihm die Teams keine Chance gaben. "Es gab Workouts, bei denen ich sehr gut gespielt habe, aber es schien so, als ob es niemanden interessiert hat. Ich war manchmal sehr verwirrt. Aber tief in mir drin habe ich immer an mich geglaubt", machte Lin klar.

Seine Eltern Shirley und Gie-Ming wanderten in den 1970ern aus Tawain in die USA ein. "Vielleicht ist er ein Pionier. Er ist immer so was wie ein Underdog gewesen. Aber er arbeitet hart", erzählte Mutter Shirley in der "New York Times".

Lins Mavs-Vergangenheit

Ein Wendepunkt war die Summer League 2010, als Lin für die Dallas Mavericks im Einsatz war. "Donnie Nelson hat sich unglaublich um mich gekümmert. Ich sage das nicht nur so. Ich bin ihm sehr dankbar. Er sieht die Dinge etwas anders als die meisten Leute und er hat bei mir irgendwas gesehen, was ihm gefallen hat", erzählte Lin.

In der Summer League machte er auf sich aufmerksam, indem er unter anderem im direkten Matchup gegen No.1-Pick John Wall brillierte.

Die Mavs waren so beeindruckt, dass sie Lin einen garantierten Einjahresvertrag anboten und sicher waren, dass er sich für Dallas entscheiden würde. Lin könnte also jetzt theoretisch im Mavs-Trikot spielen, hätte er sich dann nicht doch für sein Hometown-Team entschieden: die Golden State Warriors.

"Wir mochten ihn. Es war ähnlich wie bei J.J. Barea. Es war ein Kampf zwischen den Warriors und uns. Bei J.J. haben wir gewonnen, bei Jeremy haben wir den Kürzeren gezogen. Wir halten immer noch sehr viel von ihm. Er ist ein sehr, sehr guter junger Spieler. Wer weiß, was passiert? Wir haben nächste Saison viel Platz unter dem Salary Cap", scherzte Nelson.

Wenn auch noch der Dreier fällt...

Vielleicht hätte sich Lin besser für die Mavs entschieden. In der letzten Saison bekam er in Golden State kaum Spielzeit, im Dezember wurde er dann vor die Tür gesetzt.

Es folgte ein kurzes Intermezzo bei den Houston Rockets, bevor die Knicks ein gewisses Potenzial erkannten und am 27. Dezember 2011 einfach mal zugriffen. Und damit vielleicht den Jackpot geknackt haben.

Jahrelang suchten die Knicks ihren Point-Guard der Zukunft. Und dann sitzt er bei ihnen ganz am Ende der Bank und niemand wusste es? Ob Lin, der aufgrund des Hypes in den US-Medien und aufgrund seiner ähnlich gelagerten Religiosität schon zum neuen Tim Tebow gemacht wurde, langfristig seine Leistungen bestätigen und wirklich ein Star werden kann, bleibt abzuwarten.

Aber eigentlich hat Lin spätestens mit seiner Gala gegen die Lakers alle offenen Fragen beantwortet. Sein Dreier, der als große Schwäche galt, fiel dort auch. Es war schon ein wenig beängstigend. Erst im Matchup mit Ricky Rubio hatte Lin, der zweifellos auch etwas müde geworden war, zum ersten Mal Probleme.

Lin verändert die kompletten Knicks

Es ändert aber nichts daran, dass es inzwischen schon soweit ist, dass sich nicht Lin anpassen muss, wenn Carmelo Anthony nach Verletzungspause zurückkommt. Vielmehr herrscht das Gefühl vor, dass sich Melo an die "Jeremy Lin Knicks" anpassen muss.

"Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Es ist unglaublich, was er macht. Seine Persönlichkeit hat auf das komplette Team abgefärbt", sagt D'Antoni.

Lin hat aus den Knicks ein völlig anderes Team gemacht - nebenbei ist er ein Volksheld für die asiatische NBA-Fangemeinde geworden. Sorgen, dass er abheben könnte, muss man sich nicht machen. Spieler, die so bescheiden und realistisch sind, dass sie sich selbst mit Goran Dragic vergleichen, neigen nicht zum Abheben.

"Ich weiß, dass es viele Versuchungen gibt im NBA-Lifestyle. Ich sage nicht, dass ich besser bin als alle anderen, aber ich werde versuchen, mein Leben so weiterzuleben, wie ich es immer gemacht habe. In der Minute, in der Sportler selbstgefällig werden, beginnen die Probleme."

"Besorg Dir eine Brille!"

Wir hören einen reifen jungen Mann. Aber auch einen sehr sympathischen und lustigen Jungen. Wie er mit seiner Harvard-Vergangenheit umgeht, ist comedy-reif. Sein Ex-Warriors-Teamkollege David Lee bezeichnet Lin im Spaß als "dümmsten intelligenten Typen, den ich kenne".

Und in einem speziellen YouTube-Video erklärte Lin während des Lockouts höchstpersönlich, wie man es nach Harvard schafft: "Weil ich kein Leben und keinen Job habe, habe ich mich entschieden, ein kurzes Video zu machen und die fünf wichtigsten Schritte zu erklären, wie Ihr es auch nach Harvard schafft. Punkt 1: Besorg Dir eine Brille. Wenn Du schon eine hast, besorg Dir eine größere."

Der Humor scheint in der Familie zu liegen. "Er hat seine eigene Couch", witzelte Bruder Josh noch jüngst. Jetzt hat Lin aber angekündigt, dass er demnächst in seine eigene Bude ziehen werde.

Zeit wird's. Denn eines steht fest: Er ist aktuell der Star in der World's Most Famous Arena. New York City liebt ihn, diesen Jeremy Linnnnnnn!!!

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