"Im Tennis fehlen Reformer wie Klinsmann & Co."

Von dapd
Boris Becker kritisiert vor den US Open das deutsche Männer-Tennis
© Getty

Boris Becker sieht schwarz für die deutschen Tennis-Herren bei den US Open. Im Interview beschreibt der dreimalige Wimbledonsieger, der in Flushing Meadows 1989 triumphierte, was falsch läuft, was man vom Fußball lernen kann und warum er auf die heimischen Top-Spieler nicht mehr setzt. Auch dem Fernsehen liest Becker die Leviten.

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Frage: Was erwarten Sie von den deutschen Tennisspielern in New York?

Boris Becker: Sie spielen auf Unentschieden.

Frage: Wie meinen Sie das?

Becker: Sie haben schlicht und ergreifend eine andere Zielsetzung. Ihre Planung für das Jahr hat andere Schwerpunkte. Sie möchten tausend Punkte erreichen, um in der Weltrangliste gut dazustehen. Ob sie das in Halle oder Wimbledon, ob in Gstaad, Cincinnati oder in Flushing Meadows schaffen, ist ihnen egal.

Frage: Ist das eine gute Strategie?

Becker: Sicherlich nicht, um Grand-Slam-Turniere zu gewinnen und einen neuen Tennis-Boom auszulösen. Aber die Frage ist doch, warum es Philipp Kohlschreiber, Florian Mayer oder Philipp Petzschner nicht schaffen, große Turniere zu gewinnen. Sie haben die Qualität, sie schlagen übers Jahr Spieler, die in der Weltrangliste viel besser platziert sind. Und trotzdem verlieren sie bei den Grand Slams regelmäßig früh. Sie wollen lieber in Cincinnati oder Toronto ihr Viertelfinale machen und ihre Punkte holen. Und wenn sie dann müde zu den US Open kommen, ist ihnen das nicht so wichtig.

Frage: Wie haben Sie Ihre Saison geplant und sich vorbereitet?

Becker: Es war immer mein Ziel, bei den Grand Slams so gut wie möglich zu spielen. Im Idealfall eines zu gewinnen - oder zwei. Um das zu erreichen, musste ich auf dem jeweiligen Belag ein oder zwei Vorbereitungsturniere spielen. Und im Herbst musste ich noch Hallenturniere spielen, um mich fürs Masters zu qualifizieren. Dann kam noch der Davis Cup - also eine ganze Menge an Spielen.

Frage: Glauben die deutschen Spieler, dass sie nicht gut genug sind und schielen deshalb mehr auf die Weltrangliste als auf Siege?

Becker: Sicher treibt sie eine gewisse Angst, nicht genügend Punkte zu machen. Aber die Kohlschreibers, Mayers und Petzschners sind jetzt Mitte 20, haben einige Jahre auf der Tour hinter sich und sollten wissen, was sie können und dass sie nicht bei jedem Turnier Punkte machen müssen.

Frage: Müssen sich die Tennisfans abschminken, dass ein Deutscher in ein Grand-Slam-Halbfinale kommt wie Haas und Schüttler in Wimbledon?

Becker: Ich habe die drei immer wieder gesehen und wiederhole mich gerne: Es sind alles prima Tennisspieler. Die könnten mit einem richtigen Trainingsaufbau, einer richtigen Turnierplanung und einem richtigen Trainer in ein Halbfinale bei einem Grand Slam kommen. Sie könnten unter die ersten Zehn kommen - absolut. Aber ich habe das Gefühl, dass ich mehr Vertrauen in die Spieler habe als sie in sich.

Frage: Aber es ist doch Potenzial da. Warum liegt es brach?

Becker: Philipp Petzschner zum Beispiel ist unbedingt ein Spieler für die Top Ten. Der hat die Vorhand, der hat den Aufschlag, der hat das Ballgefühl, der kann auf fast allen Belägen sehr gut spielen, hat das als Wimbledonsieger im Doppel auch schon gezeigt. Warum es im Einzel hakt, warum es nicht höher geht, weiß nur er selbst.

Frage: Ist es ein mentales Problem, eine Kopfsache?

Becker: Ich habe das Gefühl, sie treiben führungslos in hoher See. Sie segeln, aber das Segel ist nicht gespannt.

Frage: Ein Phänomen, über das schon viele Jahre nachgedacht wird.

Becker: Das stimmt. Und dann steht man sich auch noch selbst im Weg. Im Davis Cup beispielsweise: Man hat ein Heimspiel gegen Frankreich und zwei Spieler, Kohlschreiber und Petzschner, die in Halle im Finale auf Rasen standen. Und was machen die Deutschen? Sie wählen den besten Belag der Franzosen und spielen auf Sand. Zu meiner Zeit gab es nur ein Argument: Welcher Belag ist für uns am besten.

Frage: Wenn das Geld aber fehlt und der Auftritt auf dem Weissenhof billiger war als der in Halle?

Becker: Diese Milchmädchenrechnung geht doch nicht auf. Wenn wir gegen Frankreich gewinnen, sind wir im Halbfinale und verdienen doppelt Geld. Und ein kleiner Tennis-Boom geht wieder los.

Frage: Wirkt sich das Engagement der deutschen Spieler in der Bundesliga negativ auf ihre Erfolge auf der Tour aus?

Becker: Es ist Alltag, dass die besten deutschen Spieler es vorziehen, am Freitag und Sonntag Bundesliga zu spielen. Da verdienen sie möglicherweise viel Geld, aber sportlichen Wert hat das nicht. Das ist kontraproduktiv.

Frage: Wenn Sie einen Philipp Petzschner unter ihre Fittiche nähmen, was müsste er anders machen?

Becker: Ich würde ihn fragen: Wie gut bist du? Und dann würde ich ihn fragen, ob er nicht am Ende seiner Karriere sagen möchte: Ich habe alles meinem Tennissport unterworfen und bin die Nummer neun der Welt geworden. Wenn er mir dann sagen würde: Weißt du Boris, das ist der harte Weg, ich spiele lieber Bundesliga, bin die Nummer 40 oder 50 und verdiene auch weniger Geld, aber es ist leichter. Das wäre eine ehrliche Antwort, die ich respektieren könnte. Nur trainieren würde ich ihn dann nicht.

Frage: Klingt fast so, als hätte dieses Gespräch schon stattgefunden?

Becker: Hat es aber nicht.

Frage: Weil es ohnehin keinen Sinn machte?

Becker: Ich glaube, die momentan besten deutschen Spieler kann man nicht mehr ändern.

Frage: Glauben Sie denn wenigstens an den Nachwuchs - an Tobias Kamke, Julian Reister oder Cedrik-Marcel Stebe?

Becker: Generell kann ich keine professionellen Strukturen erkennen, die Grand-Slam-Sieger hervorbringen. Dabei sehe ich Tennis-Enthusiasten, ich sehe Sponsoren, und ich sehe ums Überleben kämpfende deutsche Turniere. Und ich sehe im Fernsehen nix mehr.

Frage: Ein gutes Stichwort: Sabine Lisicki stand in Wimbledon im Halbfinale, aber das war nur im Pay-TV zu sehen.

Becker: Beim Fernsehen heißt es immer: Ja, wenn da wieder ein Becker kommt. Was für ein Blödsinn! Wenn ich heute spielen würde, bekäme es ja auch keiner mit. Wenn Dart-Werfen wichtiger ist und was sonst noch mehr Einschaltquote bringt als Tennis - was ich übrigens nicht glaube - dann wird es schwer. Ich bin froh, dass wenigstens Sky übertragen hat. Aber das allein langt nicht.

Frage: Fußball steht über allem. Das muss man akzeptieren?

Becker: Ist das nicht übertrieben? Wir sollten uns alle mal die Frage stellen, ob all die Vorbereitungsspiele und die ganzen Freundschaftsspiele wirklich so wichtig sind, dass sie von A bis Z im Fernsehen gezeigt werden? Meines Erachtens nicht, und ich bin wirklich ein glühender Fußball-Fan.

Frage: Fußball könnte ein Vorbild sein mit den vielen Top-Talenten. Warum haben die Fußballer, was den Tennisprofis hierzulande offenbar fehlt?

Becker: Ich werde es mal so formulieren: Ich esse gerne gut; aber ein kompliziertes Menü selbst zubereiten, könnte ich noch lange nicht, da ich keine Ahnung davon habe. Wenn ich aber einen zwölfjährigen Nachwuchs-Tennisspieler anschaue, kann ich sofort sagen, was der machen muss, um Weltklasse zu werden.

Frage: Im Tennis wirken also die falschen Leute?

Becker: Der deutsche Fußball hatte einen Umbruch, als Jürgen Klinsmann, Jogi Löw und Matthias Sammer kamen. Drei relativ junge Männer haben dem DFB gesagt: So, was früher war, ist nun Vergangenheit. Profi-Fußball wird jetzt anders gemacht. Ich erinnere mich an die Kritiker und Neinsager, die alles beim Alten belassen wollten. Das Abschneiden alter Zöpfe war ein Vabanque-Spiel. Heute sind wir mit Spanien auf einer Stufe, was die jungen Spieler angeht. Bei uns im Tennis fehlen Reformer wie Klinsmann & Co.

Frage: Gibt es zu viele Bedenkenträger, oder ist es Eitelkeit?

Becker: Ich meine einfach, dass der Knall nicht gehört und der Schnitt nicht gemacht worden ist. Patrik Kühnen bewegt als Davis-Cup-Kapitän einiges. Nur bräuchte das deutsche Tennis noch mehr solcher Persönlichkeiten.

Frage: Zurück zu den deutschen Spielern: Hätte sich Tommy Haas sein Comeback nach der schweren Hüftoperation ersparen sollen?

Becker: Ich glaube, es ist richtig, wenn er es bis zum Ende des Jahres versucht. Es ist ja auch eine Lebensentscheidung. Er hat mit sechs Jahren angefangen, Tennis zu spielen, und hatte immer ein Ziel vor Augen und es bis auf Platz zwei geschafft. Ein Grand-Slam-Turnier hat er zwar nicht gewonnen, aber er hat fast alle großen Spieler geschlagen. Dann den richtigen Moment zu finden und zu sagen, so das war's, ist keine leichte Sache.

Frage: Was machen Petkovic, Lisicki, Görges besser? Ist es nur Glück, dass sich bei den Damen gleich ein Trio in den Fokus gespielt hat?

Becker: An Glück und Zufall glaube ich nicht. Vielleicht liegt es an Barbara Rittner. Sie ist seit ein paar Jahren verantwortlich - und irgendetwas hat sich verändert. Man muss die richtigen Personen finden, die richtigen Trainingssysteme, die Leidenschaft der Spieler erkennen - dann geht es. Es ist kein Hexenwerk.

Frage: Spielt der Sport, oder eine Funktion im Sport in Ihrer mittel- oder langfristigen Lebensplanung überhaupt noch eine Rolle?

Becker: Ich bin dem Tennis nach wie vor leidenschaftlich verbunden. Ich kommentiere die größten Tennisturniere der Welt. Seit über zehn Jahren bin ich im englischen TV in Sachen Tennis unterwegs und freue mich, dass ich mein Wissen nun auch in deutsche Wohnzimmer bringen kann. Die Verantwortlichen von Sky waren mit meinem Job in Wimbledon zufrieden, wir sprechen über einen Ausbau der Zusammenarbeit.

Frage: Sie sollen auch Kontakt zum englischen Verband haben?

Becker: Ja, ich habe ganz gute Verbindungen zum englischen Verband. Mit Andy Murray ist da ja auch kein ganz schlechter unterwegs. Aber ich bin natürlich dem deutschen Tennis näher als dem englischen.

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