Aufbruch ins Gewisse

Markus Gisdol will mit der TSG kommende Saison nach Europa
© getty

Die TSG Hoffenheim verliert vor der kommenden Spielzeit ihren Kapitän und den unersetzbaren Star der Mannschaft. Trotzdem lebt der Traum von Europa - weil man bei 1899 nicht nur in Sachen Transfers überragende Arbeit leistet, sondern neue Wege einschlägt. Ein großes Fragezeichen bleibt dennoch.

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Fleißig waren sie im Kraichgau, was das Personal angeht, das muss ihnen lassen. Da, wo manche Klubs gerade die ersten Transfers in trockene Tücher gebracht hatten, durfte man bei 1899 schon eine ganze Hand voll Pressemitteilungen in die Welt schicken.

Und die Hoffenheimer haben ihre Lieblingsvokabeln, wenn es darum geht, von ihren Neuzu- oder Abgängen zu berichten. "Bestätigung für die hier geleistete Arbeit" ist so ein Satz, der gerne fällt. "Vielumworbene Spieler" seien Pavel Kaderabek und Co. gewesen. Und trotzdem haben sie sich für den Weg in den Kraichgau entschieden. Dort könne man sich schließlich ideal "entwickeln".

Im ersten Moment mag das nach Selbstbeweihräucherung klingen. Doch kann man, so sehr sich der ein oder andere Fußballromantiker auch gegen den Mäzen-Klub stemmen mag, der TSG nicht absprechen, dass der Weg, der dem Beinahe-Exitus 2012 folgte, in eine mehr als positive Richtung geht - und in der bevorstehenden Saison endlich nach Europa führen soll. Trotz aller vermeintlicher Widrigkeiten.

Identitätskrise? Fehlanzeige!

Andreas Beck wird Hoffenheim verlassen. Der Kapitän, eine absolute Identifikationsfigur, geht von Bord. Er unterschrieb für drei Jahre bei Besiktas. Auch der größte Star der Truppe von Coach Markus Gisdol, Roberto Firmino, schnürt in Zukunft seine Fußballschuhe nicht mehr in Sinsheim. 30 Millionen Euro plus eventuelle Bonuszahlungen überweist Liverpool an 1899, wie die Reds offiziell mitteilten.

Von einer Identitätskrise oder gar Panik ist in Hoffenheim aber nichts zu spüren. Vielmehr herrscht Aufbruchsstimmung - hauptsächlich dank der vorausschauenden Kaderplanungen.

"Wir sind jetzt acht Jahre in der Bundesliga", sagt Gisdol über den nötigen Umbruch, in dessen Zuge auch Veteran Sejad Salihovic den Verein verlassen wird. "Nach solch einer Zeit ist es ganz normal, dass man das Gesicht der Mannschaft verändert." Bei anderen Bundesligisten sei das normal, dort hätte man diesen Prozess schon oft hinter sich. "Bei uns ist es das erste Mal in dieser Form."

Nachdem mit Kevin Vollands Verlängerung die wohl wichtigste Personalie unter Dach und Fach war, sicherte sich die TSG mit Fabian Schär aus Basel die Dienste eines weiteren Spielers, der die Kraichgauer einem international vertretenen Verein vorzug. Jonathan Schmid vom SC Freiburg, der junge Brasilianer Joelinton aus Recife, Stürmer-Shootingstar Mark Uth aus Heerenveen und der heftig umworbene Pavel Kaderabek komplettieren die - vorläufige - Liste an neuem Personal für die anstehende Spielzeit.

"Eingefahrene Strukturen aufbrechen"

Es sind keine Übertransfers. Wechsel, die die Fußballwelt in ihren Grundfesten erschüttert hätten. Doch schickte die TSG damit durchaus Ausrufezeichen an die Konkurrenz. Nach einem derart radikalen Umbruch schon so früh in der Saison so weit zu sein, dass könnte in der Vorbereitung noch Gold wert sein. "Entwicklungsfähig und hungrig" nennt Gisdol seine Neuen.

Überhaupt müsse man "eingefahrene Strukturen aufbrechen". Das gilt allerdings nicht nur für die Mannschaft. Vielmehr hat Hoffenheim einen Kurswechsel genommen, was das Gebaren im kompletten Klub angeht. Es sollen 350 Millionen Euro sein, die Mäzen Dietmar Hopp bislang in seine große Liebe investiert hat. Ein Geldfluss, der möglichst bald enden soll. Der Klub muss auf den eigenen Beinen überlebensfähig sein.

"Gerade in Zeiten des Financial-Fair-Play", sagte Hopp im Zuge des Transfers von Firmino nach England, sei es "immer wichtiger, junge Talente zu entdecken und zu entwickeln, um sportlich wie wirtschaftlich auf einem hohen Niveau überleben zu können." Firmino war da nur der bislang größte Fisch im Tümpel.

Der intensive, neue Weg

Weg von bezuschussten Millionen-Deals, hin zur nachhaltigen Jugendarbeit im Stile eines Ausbildungsvereins. Das ist der Weg, den Hoffe nicht nur gehen will, sondern schon seit längerem eingeschlagen hat - und der, so Hopp, noch "intensiviert" werden müsse. So stellt die TSG bereits jetzt mit sieben Youngstern in den Endrunden der U-Turniere in diesem Kalenderjahr die meisten Spieler für den deutschen Nachwuchs.

"Wir sind eine richtig gute Adresse geworden, ich glaube für ganz Deutschland", sagte Gisdol gegenüber dem Kicker. Die Arbeit der letzten Jahre "schlägt nachhaltig durch, und diese Früchte ernten wir jetzt", so Gisdol über die Jugendarbeit. "Wir haben da etwas Tolles geschaffen, davon werden wir auch in den nächsten Jahren im Profibereich sehr stark profitieren, da bin ich ganz sicher."

Ein Förderprogramm internationaler Talente, das den Hoffenheimern die Dienste der direkt wieder verliehenen Rohdiamanten Inhyeok Park, Christoph Martschinko und Marko Maric sicherte oder die Kooperation mit einem Jugendförderprogramm in Indien - Hoffenheim macht ernst, was den Generalkurswechsel im Verein angeht.

Das Fragezeichen Firmino bleibt

Und trotzdem: Eine Minderung der eigenen Ambitionen soll das alles nicht darstellen. Vielmehr soll so endlich ein Platz auf europäischem Parkett herausspringen. "Die bestmögliche Position hinter den großen Sechs" müsse laut Gisdol die grundsätzliche Aufgabe sein, wenn die Hoffenheimer am 15. August in die neue Bundesligasaison gegen Bayer Leverkusen starten. Konsequenterweise hieße das Platz sieben und die Qualifikation für die Europa League. Mindestens.

Doch bleibt trotz aller kluger Transfers und dem neuen Weg - von dem Hoffenheim gewiss profitieren wird - ein großes Fragezeichen. Inwiefern kann die Mannschaft den Abgang von Firmino tatsächlich kompensieren? Dieses Team, das mit 24,3 Jahren im Durchschnitt das zweitjüngste nach Hannover ist.

Eine "brutal junge Mannschaft" hat Gisdol da unter seiner Führung ausgemacht. "Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Stärke der Mannschaft schwer einzuschätzen. Deshalb sollten wir uns auch alle Optionen offenhalten, wie der Kader am Ende aussieht", ließ der Coach die Möglichkeit offen, dass sich noch der ein oder andere Spieler in den Kraichgau verirrt.

Gisdols ungebrochenen Optimismus dürfte das dann auch nicht schmälern. "Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir etwas Gutes zusammenbauen können", sagt der Coach, der sein Team mit mehr Konstanz als im letzten Jahr endlich weiter nach oben führen will. "Wir haben viele Dinge verändert und neu gemacht. Das wird spannend. Aber wir wollen unseren Weg gehen. Es herrscht eine unglaubliche Vorfreude."

1899 Hoffenheim in der Übersicht

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