NBA

Der Tajmanian Devil dreht auf

Von Philipp Dornhegge
Taj Gibson stellt in den letzten Wochen zunehmend seinen Wert für die Bulls unter Beweis
© getty

Kaum ein NBA-Profi spielt mit einer solchen Intensität und Leidenschaft wie Taj Gibson. Dank dem Forward haben die Chicago Bulls fünf Spiele in Folge gewonnen. Jetzt steht der sechsmalige Champion vor der ultimativen Prüfung: Einem Auswärtsspiel bei den Miami Heat (So. um 21.30 Uhr im LIVE-STREAM).

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Es ist rund zweieinhalb Wochen her, da bekam die heile Welt der Chicago Bulls Risse. In einer Franchise, wo seit Jahren Trainer und Team bedingungslos an einem Strang ziehen, waren Carlos Boozers Kommentare nicht unbedingt hilfreich.

Nach einer 70:99-Klatsche gegen die Sacramento Kings ließ Boozer seinem Frust freien Lauf und wetterte: "Ich sollte im letzten Viertel spielen, aber der Trainer trifft die Entscheidungen, nicht ich. Seit ich bei den Bulls bin, hat er mich ziemlich oft im letzten Viertel nicht eingesetzt. Manchmal gewinnen wir, aber häufiger eben nicht. Aber es ist seine Entscheidung."

Der 32-Jährige hielt nicht damit hinterm Berg, dass der Frust mit der Zeit immer größer werde: "Manchmal habe ich ein super Spiel, bin richtig gut drauf. Und als Sportler will man natürlich weitermachen. Ich glaube, dass ich meiner Mannschaft in engen Spielen helfen kann. Aber dann darf ich eben nicht. Mir bleibt dann nichts anderes übrig, als die Jungs anzufeuern."

So sehr Boozer auch die Schuld bei Coach Tom Thibodeau suchen mag, so sehr muss er sich selbst aufgrund seiner Defensivschwächen in die Verantwortung nehmen. Haupt-"Schuldiger" aber ist derzeit Taj Gibson.

Gibson "verantwortlich" für Boozers Leid

Denn Boozers Backup ist in der Form seines Lebens und einer der Gründe, warum die Bulls fünf Spiel in Folge gewinnen konnten und trotz der schweren Verletzung von Derrick Rose und nach dem Trade von Luol Deng weiter auf Playoffkurs sind.

Mit 12,9 Punkten, 6,6 Rebounds und 1,5 Blocks bei 29,3 Minuten Einsatzzeit pro Spiel absolviert der 28-Jährige gerade die beste Saison seiner Karriere. Thibodeau sagt dazu: "Ich habe zwei Spieler, die Starter auf der Vier sein müssten. Taj steckt zurück, indem er freiwillig von der Bank kommt. Und Carlos muss akzeptieren, dass er manchmal eben am Ende nicht auf dem Court steht."

Thibs' Zuneigung zu Spielern, die leidenschaftlich und technisch sauber verteidigen, ist bestens bekannt. Jimmy Butler ist ein weiteres Beispiel für einen unterschätzten Youngster, der sich über seine Defense ins Herz des Trainers spielte.

"Manchmal muss man seine eigenen Interessen denen des Teams unterordnen", führt Thibodeau weiter aus. "Und das liebe ich an Taj. Er ist vielleicht sauer, dass er nicht starten darf. Aber er lässt sich nichts anmerken."

Hinten grandios, vorne immer besser

Mit seiner präzisen Fußarbeit, seiner guten Antizipation, dem taktischen Verständnis und starker Athletik sollte Gibson in Sachen Defense ein Vorbild für jeden Power Forward sein. Doch inzwischen ist es mehr als die Verteidigung, die Gibson unverzichtbar macht.

In einem Team, das zu oft Probleme mit dem Scoring hat, hat sich Gibson zu einem Lichtblick entwickelt. Der 2-Meter-5-Mann war immer schon einer, der gern aus der Mitteldistanz geworfen hat, jetzt trifft er seine Schüsse zunehmend gut.

Dazu hat er sich einige Moves im Low Post angeeignet, für Garbage-Punkte war er mit seinem unermüdlichen Einsatz beim Offensivrebounding ohnehin schon bekannt. Bessere Leistungen von Gibson und schlechtere von Boozer haben dazu geführt, dass der eigentliche Reservist im Februar 33 Minuten pro Spiel auf dem Court steht - im November waren es noch 24,6. Seine Würfe hat er von unter zehn pro Partie sukzessive auf mittlerweile 14 gesteigert, ohne dass die Quote nennenswert gelitten hätte (46,8 Prozent statt 47,2).

Und immer wieder garniert er seine Leistungen mit spektakulären Dunks.

Gibson: "Ich muss selbst lächeln"

"Mein Selbstvertrauen ist derzeit sehr groß", sagt Gibson selbst. "Jedes Mal, wenn ich Punkte mache, muss ich lächeln, weil ich selbst nicht glauben kann, was ich alles auf dem Court veranstalte. Ich habe so viel dazugelernt. Früher habe ich nie darüber nachgedacht, wie manche Teams in bestimmten Situationen verteidigen. Aber unser Coaching Staff hat mich da enorm weitergebracht. Ich habe dieses Jahr richtig viel Spaß."

In Gesprächen über die Vergabe mehrerer Auszeichnungen fällt inzwischen immer häufiger Gibsons Name. Sixth Man of the Year? Most Improved Player? All-Defensive Team? "Für alle drei kommt er in Frage", lobt Thibodeau. "Er hat so viel an sich gearbeitet, ist mit Abstand unser bester Trainingsspieler. Und er kann sich immer noch verbessern."

Dass speziell Gibsons Defense einem Fanatiker wie dem Bulls-Coach feuchte Träume beschert, ist an sich bemerkenswert: "Ganz ehrlich: Es gibt nicht einen Aspekt an seiner Defense, der fehlerhaft ist. Ob Low Post, Pick'n'Roll, Switchen, Shotblocking und so weiter: Er kann einfach alles. Für uns ist er unbezahlbar."

Tradegerüchte um Gibson

Dabei ist "unbezahlbar" das entscheidende Stichwort: Gibson verdient in diesem und den nächsten drei Jahren insgesamt noch 33 Mio. Dollar. Nicht wenig für einen Bankspieler, aber ein scheinbar angemessener Preis für einen Mann wie Gibson.

Aber denkt auch das Front Office so? Während Thibs aus seiner Zuneigung zu so manchem Spieler keinen Hehl macht, scheinen Trainer und Management zuletzt nicht immer einer Meinung zu sein, was die Richtung des Teams anbelangt.

Der Trade von Luol Deng schmeckte dem Coach (und den meisten Spielern) überhaupt nicht, war aus finanziellen Gründen aber wohl unvermeidlich. Mit rund 63 Mio. Dollar Gehalt würde Chicago allerdings auch im nächsten Jahr über dem Salary Cap liegen. Um flexibel zu sein und signifikante Verbesserungen vornehmen zu können, müsste also wenigstens noch ein Großverdiener gehen.

Und so kam es, dass ausgerechnet Gibson, wie Deng einer von Thibodeaus absoluten Lieblingsspielern, bis zur Trade Deadline immer wieder Gegenstand von Gerüchten war. Letztlich durfte er wohl aus zwei Gründen bleiben: Erstens bot kein Team einen angemessenen Gegenwert, zweitens wäre Thibodeau wohl endgültig Amok gelaufen.

Thibs contra Bulls-Management

Intern soll sich Thibs bis zuletzt schon gegen den Deng-Trade gewehrt haben, einige Gazetten schrieben bereits davon, dass der Coach trotz laufendem Vertrag im Sommer Reißaus nehmen könnte.

Mitch Lawrence von den "New York Daily News" hatte bereits den Deng-Deal vorab angekündigt und berichtete unlängst, dass Thibodeau sich mit den Knicks einig geworden sei. Thibodeau wies das vehement zurück, doch die Gefahr, einen der besten Coaches der Liga zu verlieren, dürfte dem Bulls-Management damit sehr deutlich vor Augen geführt worden sein.

"Ich liebe mein Team, ich liebe unseren Kampfgeist, nur das zählt für mich", sagte Thibodeau damals. Und die Verkörperung des Kampfgeists heißt Taj Gibson, der Power Forward, der aufgrund seiner Spielweise "Tajmanian Devil" genannt wird.

Mit dem Verstreichen der Transferfrist ist auch die unmittelbare Zukunft des Reservisten sicher. Gibson hat seinen Wert in den letzten Wochen unter Beweis gestellt. Stattdessen scheint es unausweichlich, dass es im Sommer einen anderen Spieler erwischen wird: Carlos Boozer.

Wird Boozer entlassen?

Der Starter kann per Amnesty-Klausel entlassen werden und würde den Bulls in 2014/2015 satte 16,8 Mio. Dollar ersparen. Je nachdem, zu welchem Betrag Boozer von einem anderen Team geholt wird, müssten die Bulls zwar weiterhin die Differenz zum aktuellen Kurs begleichen, allerdings wären diese Kosten nicht für den Salary Cap relevant.

Chicago wäre auf einen Schlag wieder unter der Gehaltsobergrenze - und denkt schon über den nächsten Power Forward nach. Nikola Mirotic gilt als aktuell bester Spieler in Europa, die Bulls halten die Draftrechte an dem aus Montenegro eingebürgerten Spanier.

Und wieder würde sich Gibson unter Umständen damit anfreunden müssen, dass ein anderer Spieler mehr Presse bekommt, gebauchpinselt und vielleicht sogar starten wird.

Kein Problem für Gibson, glaubt Thibodeau: "Taj beschwert sich nie, er akzeptiert die Dinge, wie sie sind. Was man von ihm verlangt, das macht er. Statt Worten lässt er Taten sprechen."

Im Gedenken an die Freunde

Angetrieben wird er dabei vom Gedanken an seine Freunde, denen er vor jedem Spiel einen Gruß sendet. Es war im Sommer 2010, Gibson hatte gerade seine erste Saison als NBA-Profi absolviert, als ihn innerhalb weniger Wochen drei Verluste heimsuchten: Zwei seiner Freunde wurden in Brooklyn erschossen, ein dritter verschwand spurlos.

"Ich bete, und ich sage ihnen, dass ich sie vermisse", erklärte Gibson sein Pregame-Ritual. "Und dann bitte ich sie, mir beizustehen, mir Inspiration zu geben." Im Februar 2011 verlor Gibson auch noch seinen Großvater nach dessen Kampf gegen Lungenkrebs. Einen Großvater, den er aufgrund einer komplizierten Familiensituation lange Zeit kaum gekannt hatte.

"Ich hatte das vorher nie erlebt, dass jemand so redet wie mein Opa", erinnert sich Gibson. "Er hatte solche Schmerzen, dass er nur noch sterben wollte." Gibson brauchte eine Weile, um die Todesfälle zu verdauen. Doch inzwischen bezieht er aus diesen Verlusten seine größte Motivation.

Das Leben - und die NBA-Karriere - ist zu kurz, um nicht jede Chance zu ergreifen. Und so ehrt Gibson seine Freunde und seinen Großvater, indem er sich durch die Saison kämpft, kratzt und beißt, als wäre jedes Spiel sein letztes.

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