Joe Thompson besiegt den Krebs und rettet Rochdale vor dem Abstieg: Am Ende der Welt

Von Jonas Rütten
Joe Thompson besiegte zwei Mal den Krebs und schoss den AFC Rochdale am Wochenende zum Klassenerhalt.
© twitter.com/jjl_thompson

Vor neun Monaten konnte Joe Thompson kaum gehen und hatte mehr als zwölf Kilo verloren. Die kräftezehrende Chemotherapie forderte ihren Tribut. Es war Thompsons zweiter Kampf gegen den Krebs - und wieder triumphierte er. Kurz vor Weihnachten kehrte er in den Kader des englischen Drittligisten AFC Rochdale zurück - und schoss den Klub am vergangenen Wochenende zum Klassenerhalt.

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5. Mai 2018: Das Spotland Stadium in Rochdale ächzt, keucht und stöhnt laut auf. Im Spiel gegen Charlton Athletic geht es um nicht weniger als den Klassenerhalt. Es läuft die 69. Minute am letzten Spieltag und der AFC Rochdale ist auf dem Vormarsch. Das 0:0 reicht "The Dale" nicht, um den Abstieg zu vermeiden. Eine Hereingabe von rechts sorgt noch einmal für reichlich Chaos im Charlton-Sechzehner und irgendwie kommt der frisch eingewechselte Joe Thompson an den Ball.

Mit der Annahme lässt er noch einen Charlton-Verteidiger stehen, legt sich die Kugel auf den eigentlich schwächeren linken Fuß und zieht ab. Ohne viel Tempo, aber präzise gegen die Laufrichtung von Charlton-Keeper Ben Amos schlägt der Ball unten rechts ein. Es ist ein Moment der kollektiven Erlösung und der Gefühlsexplosion - nicht nur für den AFC Rochdale, sondern auch für Thompson selbst. Ein Moment der völligen Ekstase, der alles Schlechte der Vergangenheit vergessen lässt.

"Wenn man so will, war das alles vorherbestimmt", sagte der überglückliche Siegtorschütze nach dem Spiel. Es sei Schicksal und harte Arbeit gewesen, die ihn an diesen Punkt geführt habe: "Es lief alles auf den heutigen Tag hinaus. Und das war es wert." Bis zu diesem 5. Mai 2018 musste Thompson allerdings einen harten Weg gehen. Einen Weg, den nicht jeder bewältigt bekommt, der gepflastert ist mit Zurückweisung, persönlichen Tiefschlägen und dunkelsten Tagen.

Thompson über die Krebserkrankung: "Das Ende der Welt"

24. Dezember 2016: Heiligabend in Rochdale. Joe Thompson sitzt zur routinemäßigen Nachuntersuchung bei seinem Arzt. Nachuntersuchung deshalb, weil Thompson ein ehemaliger Krebspatient ist, bei dem 2014 ein bösartiger Tumor des Lymphsystems festgestellt wurde (Hodgkin-Lymphom). Mithilfe einer Chemotherapie und getrieben von dem eisernen Willen, ja nicht aufzugeben, besiegte der damals 25 Jahre alte Mittelfeld-Allrounder in Diensten der Tranmere Rovers den Krebs.

"Es war ein Kampf, den zu gewinnen ich einfach bestimmt war", resümierte Thompson seine damalige Situation in einem Gastbeitrag für Four-Four-Two.com. Doch die Krankheit ließ Thompson nicht los. An jenem 24. Dezember bricht das Unheil erneut über Thompson herein, als sein Arzt ihm mitteilt, dass der Krebs zurück sei. "Ich war so wütend. Für mich war das das Ende der Welt. Ich wollte den kompletten Raum auseinandernehmen und einfach nur noch weg. Bei der ersten Diagnose war ich noch schockiert - aber beim zweiten Mal hatte ich Angst", erinnert sich Thompson.

Zum zweiten Mal musste Thompson den Kampf aufnehmen. Dieses Mal wollten die Ärzte auf Nummer sicher gehen und gingen noch aggressiver als im Oktober 2014 gegen die Krankheit vor. Eine Stammzellen-Transplantation nach der hochdosierten Chemotherapie sollte verhindern, dass sich der Krebs noch einmal einen Weg zurück bahnt. Vereinfacht ausgedrückt unterzog sich Thompson einem Reboot des Immunsystems. Die Konsequenz: Absolute Isolation. "Ich durfte nicht mal meine kleine Tochter sehen. Ich fühlte mich wie eine Laborratte", sagt Thompson im Rückblick über seine Zeit im Krankenhaus.

Joe Thompson und sein Weg zurück: "Ich werde wieder Fußball spielen"

Eine Zeit, die er als "die dunkelsten Tage mit Depressionen am Tiefpunkt" bezeichnet. Am 14. Tag der Stammzellen-Behandlung behielt Thompson das erste Mal sein Essen bei sich. Der massive Gewichtsverlust von mehr als zwölf Kilogramm bereitete den Ärzten Sorgen, also war das immerhin ein erstes kleines Erfolgserlebnis. Vier Tage später verließ er das Krankenhaus: "Ich konnte zwar kaum laufen, aber mein Immunsystem war stark genug, um es mit der Welt da draußen aufzunehmen. Der Krebs war weg und ich wieder in Remission."

Mit dem Gedanken an ein Karriereende habe sich Thompson nicht befasst: "Für mich war klar, dass ich wieder Fußball spielen werde." Unterstützer, die ihn wieder zurück auf den Weg in den Profifußball halfen, hatte er genug. Thompson erhielt Genesungswünsche von Danny Wellbeck und Danny Drinkwater, mit denen er gemeinsam in der Jugend bei Manchester United spielte. Sogar Pep Guardiola wünschte ihm alles Gute und auch der AFC Rochdale stand zu ihm.

"Als ich meinem Trainer von meiner Diagnose erzählt habe, habe ich angefangen zu weinen. Doch er sagte mir: 'Mach dir keine Sorgen. Wir bekommen das hin'", berichtete Thompson im Interview mit der BBC im Sommer 2017. Diesen Rückhalt hatte er bei seiner ersten Krebserkrankung nicht. Damals verzichteten die Tranmere Rovers auf eine Vertragsverlängerung mit Thompson:"Sie gaben mir nicht einmal die Chance, weiter mit dem Team zu trainieren, um wieder fitter zu werden."

Thompson bei Manchester United: Der Schmerz der Ablehnung

Es war nicht die erste schallende Ohrfeige, die Thompson in seiner Karriere vom Business "Profifußball" erhielt, aber die wohl nachhaltigste. "Es veränderte meinen Blick auf den Fußball. Ich realisierte, was für ein rücksichtsloser Sport das ist", beurteilt Thompson seine damalige Trennung von den Rovers. Sie weckte Erinnerungen an seine Jugendzeit bei Manchester United. Die Red Devils hatten den neun Jahre alten Thompson während eines 5-gegen-5-Turniers entdeckt.

Damals sah sich Thompson selbst eher als 800-Meter-Läufer in der Leichtathletik. Fußball war für ihn bis dahin nur Mittel zum Zweck, um sich in seiner neuen Heimatstadt Rochdale, einem Außenbezirk von Manchester, besser zurechtzufinden und zu integrieren. "Fußball machte mich vom Außenseiter zu jemandem, der anerkannt wurde", doch das habe Thompson auch arrogant werden lassen. Warnungen seiner Lehrer, dass er es vielleicht doch nicht schaffen würde und daher auch in der Schule aufpassen sollte, schlug er in den Wind.

Doch als Thompson 16 wurde, teilte ihm der angesehene Premier-League-Klub mit, dass er keinen weiteren Vertrag bekomme. Aus Probetrainings beim FC Liverpool und in Blackburn wurde nichts und so heuerte er in der Jugend des AFC Rochdale an, einem Viertligisten ohne große Perspektive. Doch das kümmerte ihn zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr: "Ich realisierte, dass es völlig egal ist, für wen ich mal gespielt habe." Vier Jahre später wechselte er als 21-Jähriger zu den Tranmere Rovers in die dritthöchste englische Liga.

Thompson beim AFC Rochdale: Ans Ende der Welt und wieder zurück

Nachdem ihn der Verein nach seiner ersten Krebserkrankung fallen ließ, verschlug es Thompson zum FC Bury, Southport FC und Carlisle United, ehe er im August 2016 nach Rochdale zurückkehrte. Dort habe er sich zum ersten Mal wieder wie der Spieler gefühlt, den er von früher kannte: "Ich habe Abläufe wieder automatisiert und nicht mehr ständig über meine nächste Aktion nachgedacht."

Doch dann kam die erneute Krebsdiagnose, die Joe Thompson zurück an das Ende der Welt katapultierte. Am 23. Dezember 2017, also fast genau ein Jahr nach der Rückkehr des Tumors, fand Thompson von dort einen Weg zurück. Beim 1:1 gegen den FC Walsall stand er zum ersten Mal wieder auf dem Platz. Es folgten weitere Kurzeinsätze und Mitte April sogar das Startelf-Comeback.

Das Datum, das sich aber wohl für immer in Thompsons Gedächtnis einbrennen wird, ist der 5. Mai. Der Tag, auf den - wie er es selbst sagte - alles in seinem Leben hinauslief und der all den Entbehrungen und den persönlichen Rückschlägen einen Wert gibt. Mit seinem goldenen Tor gegen Charlton Athletic machte sich Thompson beim AFC Rochdale unsterblich. Doch er selbst weiß am besten, das er das nicht ist: "Fußballer sind nicht kugelsicher."

Diese Erfahrung hat Thompson im Leben zur Genüge gemacht.

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