ROLF MILLER

"Thomas Tuchel ist der Rudi Dutschke des Fußballs"

Bundesliga, oder? heißt es in der neuen SPOX-Interviewreihe, bei der ausnahmsweise keine Sportler und Funktionäre zu Wort kommen, dafür aber Musiker, Künstler oder Politiker. Wir sprechen mit ihnen über die schönste Nebensache der Welt und all den Wahnsinn, den der Sport sonst zu bieten hat.

Im zweiten Teil der Serie haben wir uns mit Rolf Miller unterhalten, der seit dutzenden Jahren als Satiriker auf der Bühne steht - lediglich mit einem Stuhl und einer Wasserflasche bewaffnet. Ende des Jahres folgt mit "Obacht Miller!" sein viertes Programm. Der 50-Jährige ist großer Fußball-Fan und selbst ein sehr passabler Kicker.

Das Interview

SPOX: Herr Miller, der Fußball ist ständiges Thema in Ihren Programmen. Sie sehen sich als Satiriker und behaupten, die Scham sei das Hauptantriebsmittel für Satire. Ohne Scham würde Ihre Figur auch nicht funktionieren. Gibt es Momente der Scham, wenn Sie als leidenschaftlicher Fan Fußballer reden hören?

Rolf Miller: Man würde über die Fußball-Teile in meinem Programm nicht lachen, wenn es den Leuten dabei nicht auch so gehen würde und da kein Fremdschämen wäre. Peinlichkeit und Scham spielen beim Humor die gleiche Rolle. Gerhard Polt stellt zum Beispiel auch Figuren dar, die sich schämen müssten, wenn sie denn kapieren würden, was sie von sich geben.

SPOX: Die Frage, ob die Figuren es mitkriegen, was sie machen, dürfte entscheidend sein?

Miller: Genau. Dieses unfreiwillige Produzieren von Humor ist etwas, das nur Figurenspieler darstellen können. Harald Schmidt kann so etwas beschreiben, aber er ist nicht peinlich, weil er allwissend und perfekt ist und über dem Ganzen steht. Bei Olaf Schubert oder Oli Dittrich merken die Figuren auf der Bühne nicht, was sie produzieren. Schwierig wird es bei Zwischenfiguren, bei denen man sich denkt: Da stimmt etwas nicht, das ist nicht glaubwürdig. Der Spezialfall wäre Mario Barth. Da glaubt man nur, er würde eine Figur spielen, die es nicht kapiert.

SPOX: Die meisten Fußballer scheinen eher vom Schlage Rolf Miller als Harald Schmidt.

Miller: Ich sage aber auch in der Zugabe meines Programms ganz klar: Ein Fußballer muss nicht reden können, er muss nur Fußball spielen. Sätze wie "Ich nehme mich selbst nicht so wichtig, wie ich bin" oder "Wir haben den Gegner nicht unterschätzt, wir haben nur nicht gedacht, dass er so gut spielt" sind Sätze einer Figur, die die eigene Peinlichkeit nicht bemerkt - und deshalb kann ich sie exakt so übernehmen. Es gibt auch Zwischen- oder Grenzfälle, bei denen man nicht weiß, ob es derjenige ernst gemeint hat oder nicht. Der Satz "Ich nehme mich selbst nicht so wichtig, wie ich bin" war ja auch ein absichtlicher Witz von Thomas Berthold. Hätte das Lothar Matthäus gesagt, wäre es kein Witz gewesen. Ich sage nur: "Wäre, wäre, Fahrradkette."

SPOX: Wie unterschiedlich muss man dann mit diesen Bedingungen umgehen?

Miller: Was ganz wichtig ist: Wenn die Figur nicht merkt, was sie produziert, darf sie böser sein - weil man es ihr verzeiht. Deshalb kann Gerhard Polt auch immer böser sein als Harald Schmidt, da jemand wie Schmidt schnell zum Sadisten wird. Bei Polt wird in der gleichen Nummer nicht die Grenze überschritten, die Schmidt überschreiten würde, weil Polts Figur nicht auf ein Opfer herunterschaut, sondern selbst ein Opfer ist.

SPOX: Sie haben einmal gesagt, dass Kabarettisten viel mit Philosophen gemein hätten. Wie viel Philosophie steckt für Sie im Gerede von Fußballern?

Miller: Viele Spieler trauen sich nicht mehr, extrem zu sein und eine Meinung zu vertreten, weil sie Angst haben, dass es ihnen falsch ausgelegt wird. Früher waren die Spieler sprachlich unbeholfener, haben aber ganz klar Position bezogen und dadurch polarisiert - und dann wurde es auch spannend. Es braucht als Gegenpol einfach Leute wie Mario Basler, die auch mal draufhauen, ohne dass es ein totaler Stammtisch wird. Aktuell laufen im Fernsehen viele Sendungen über Fußball, die nicht anschaubar sind. Bei denen wäre es schön, wenn es ein Stammtisch wäre, aber stattdessen ist es unterste Schublade. Wobei es natürlich auch ein Problem ist, dass man mittlerweile überhaupt so viele Sendungen füllen muss.

SPOX: Fehlt Ihnen die Tiefgründigkeit in der Berichterstattung?

Miller: Die Menottis, Valdanos, und Socrates' sind und waren immer in der Minderheit. Es hat uns ja schon gestört, dass ein Günter Netzer scheinintellektuell, aber zu ernst war. Da war er für viele schon ein Kotzbrocken, aber natürlich waren die Analysen solcher Leute besser. Es waren nämlich tatsächliche Analysen und nicht nur Allgemeinplätze wie "Wir haben unsere Chancen vergeben" oder "Der Gegner war besser".

SPOX: Die Frage ist, ob sich eine richtige Analyse noch verkaufen lässt?

Miller: Ich kenne viele Leute, die nah am Fußball dran sind und denen es vollkommen egal ist, was da vorher und nachher geredet wird. Viele von denen schalten selbst den Kommentator aus. Andererseits wollen sich diejenigen, die sich dieses Gerede anhören, auch darüber aufregen. Das Problem ist: Wenn ich eine Massenproduktion wie den Fußball habe, kann ich wenig Qualität produzieren. Ein Jürgen Klopp wird bei der Masse immer beliebter sein als Thomas Tuchel. Der ist für mich der Rudi Dutschke des Fußballs, weil er den Leuten zu ernst ist.

SPOX: Sie sagten einmal, es mache Sie wahnsinnig, wenn Leute öffentlich falsch und eindimensional dargestellt werden.

Miller: Nehmen wir als Beispiel den Leichtathleten Dieter Baumann und seine Dopingaffäre mit der Zahnpasta im Jahr 2000. Wäre das angebliche Doping mit Hilfe eines isotonischen Getränks passiert, hätte niemand gelacht. Wenn er es aber mit der Zahnpasta zu sich nimmt, ist es plötzlich lustig, obwohl es der gleiche Manipulationsakt ist. Doch ab dem Witz mit der Zahnpasta wurde überhaupt nicht mehr richtig hingehört, was da wirklich passiert ist. Baumann hatte keine Chance mehr, das ist ein klarer Fehler in der öffentlichen Darstellung - obwohl er ja sogar freigesprochen wurde! Die Möglichkeit, dass er nicht gedopt hat, muss man ihm lassen. Wenn in dubio pro reo nicht mehr gilt, ist das eben Populismus. Dann hilft es auch wenig, wenn es in der Berichterstattung heißt "Der mutmaßliche so und so...", weil er ja trotzdem den Schaden hat.

SPOX: Apropos Populismus: Besonders rechtsextreme Gruppen nutzten zuletzt verstärkt das Fußballstadion als Ort, um ihre Propaganda an den Mann zu bringen. Inwiefern sehen Sie eine Politisierung des Fußballs?

Miller: Latent war das vor 20 Jahren auch schon da, aber mittlerweile trauen sich diese Leute einfach mehr. Die Schmährufe beim DFB-Spiel gegen Tschechien oder der Vorfall in Dortmund gegen die Leipziger Fans zeigen, dass die Schamgrenze gesunken ist. Es wird gar nicht mehr überlegt, ob man einen Straftatbestand erfüllt. Oder es ist diesen Menschen egal. Ich kann nicht sagen, ob das jetzt einfach ausbricht, aber trotzdem schon immer da war. Das ist die Suche nach nationaler Identität und dem Wunsch, sich dadurch abgrenzen zu wollen.

SPOX: Bei der WM 2006 wurde dieser "Fußball-Patriotismus" noch bejubelt.

Miller: Wobei ich aber denke, dass auch 2006 viele ein komisches Gefühl hatten. Die Deutschen haben ein ganz großes Identitätsproblem, weil Deutschland für immer das schlechte Gewissen hat, Menschen nicht nur getötet, sondern auch ausgegrenzt zu haben. Wenn sich jetzt eine Person überlegt, wie man beispielsweise die Asylproblematik lösen kann und dann weggeht vom einfachen "Wir schaffen das", ist derjenige ruckzuck als potenzieller Nazi in eine falsche Ecke gestellt. Vielleicht ist die Tatsache, dass die Politik diese Probleme nicht löst beziehungsweise nicht einmal richtig anspricht, ein Grund, warum im Stadion dann Extreme ausbrechen und gehetzt wird.

Die SPOX-Redakteure Jochen Tittmar und David Kreisl trafen Rolf Miller in München

SPOX: Darf der Fußball politisch sein?

Miller: Das Fußballstadion ist ein Querschnitt der Bevölkerung. Jeder hat eine politische Meinung, ob er Ahnung hat oder nicht. Doch es ist natürlich ein gewaltiger Unterschied, ob sich ein Mario Basler oder ein Ewald Lienen äußert. Wobei Basler ja unerwarteterweise Alexander Gauland nach seinen Aussagen über Jerome Boateng Kontra gegeben hat. Da sieht man noch Lichtblicke. Vielleicht gibt es - frei nach Heraklit - ja doch die Hoffnung, dass die innere Einsicht im Volk da ist.

SPOX: Besonders im Profifußball ist immer deutlicher eine Übersättigung der Zuschauer zu beobachten. Sehen Sie denn eine Gefahr für sich, eines Tages sozusagen eine Überdosis Fußball zu erwischen?

Miller: Ich musste lernen, nicht jedes Spiel anzuschauen. Denn wenn ich ein Spiel einschalte, muss ich es auch zu Ende sehen. Es ist mittlerweile alles inflationär geworden, bis zu dem Punkt, an dem plötzlich viel zu viele Mannschaften bei einer WM mitspielen. Mich wundert eher, dass das ganze Gebilde selbst dann noch funktionieren würde, wenn die Stadien leer wären und das Spiel live übertragen wird. In Frankreich kommen kaum Zuschauer ins Stadion, aber dort spielt der teuerste Spieler der Welt.

SPOX: Bereiten Ihnen diese Entwicklungen Bauchschmerzen?

Miller: Es war schon immer so, dass die besten Spieler bei ein paar wenigen europäischen Vereinen gelandet sind. Selbst zu Paul Breitners Zeiten, als noch keine irrsinnigen Summen gezahlt wurden. überhaupt: Die sollen ruhig 600 Millionen Euro zahlen! Irgendwann wird das eh zu einer eigenen Währung, weil das Geld doch nur dafür verwendet wird, neue Spieler zu kaufen und ihnen ein zu hohes Gehalt zu zahlen. Mich interessiert die B-Note und das Spielerische ohnehin mehr als das Ergebnis.

SPOX: Aber Sie können es nachvollziehen, dass diese Sichtweise nicht die eines jeden Fans ist?

Miller: Ich glaube, die Fans sind heute wesentlich besser dran als früher, da sie näher am Spiel sind und alles serviert kriegen. Der Fußball wird weiter konsumiert werden, weil er einfach so interessant ist. Natürlich würde es etwas bewirken, wenn man sich kollektiv abwendet und nicht nur im Stadion mit dem Rücken zum Spiel steht. Der Bogen ist aber noch nicht überspannt genug, es gibt keinen Massenboykott.

SPOX: Sie zumindest schauen Fußballspiele, boykottieren aber sonst das allgemeine Fernsehen.

Miller: Richtig, ich habe auch kein TV-Gerät zu Hause. Sie könnten mir einen Fernseher ins Zimmer stellen, ich würde ihn nicht einschalten. Dafür ist mir die Zeit zu schade. Da spiele ich wie aktuell zum Beispiel lieber Tennis, das habe ich gerade angefangen.

SPOX: Eine neue Passion?

Miller: Das war schon immer ein Traum! Ich mache das bei einem sehr guten Trainer und hätte sofort aufgehört, wenn es am Anfang nicht zumindest ein bisschen geklappt hätte. In den ersten zwei Stunden hat er mir die gröbsten Fehler rausgeprügelt. Jetzt, nach acht, neun Stunden, sind das Welten. Tennis ist richtig gespielt so anstrengend wie Squash oder Badminton, man glaubt es nicht. Diese abrupten Bewegungsabläufe, die man beim Zuschauen gar nicht bemerkt oder wie die Cracks bei jeder Vorhand und Rückhand dastehen: Du hast permanent dieses Abstoppen und dann ein paar Meter Sprints. Die Verletzungsgefahr ist sehr hoch. Ich mache ja auch Fallschirmspringen, aber Tennis ist viel gefährlicher.

SPOX: Warum haben Sie so spät damit angefangen?

Miller: Als Kind war es schwierig, weil es in den 1970ern noch ein sehr elitärer Sport war. Als ich 13 war, habe ich live im TV den legendären Wimbledon-Tiebreak zwischen Björn Borg und John McEnroe gesehen. Danach bin ich zum Tennisplatz gegangen und habe hinter dem Zaun Bälle eingesammelt. Ich wollte unbedingt da rein. Das hat jetzt halt über 30 Jahre gedauert. (lacht)