NIKOLA JOKIC

DER DICKE JUNGE AUF DEM PFERD IST JETZT MVP

Es ist keine zehn Jahre her, da trank Nikola Jokic drei Liter Cola am Tag und nahm lieber an Pferderennen teil, als Basketball zu spielen. Heute ist der Koloss einer der besten Spieler der NBA, der Basketball-Fans rund um den Globus verzaubert. SPOX zeichnet die Geschichte eines früher übergewichtigen Jungen nach, der innerhalb weniger Jahre zum MVP-Favoriten der besten Basketball-Liga der Welt wurde und die serbische Antwort auf Dirk Nowitzki ist. Auch der frühere Draft-Flop Darko Milicic, der einst direkt nach LeBron James gezogen wurde, spielt dabei eine nicht unerhebliche Rolle.

Dicke Hamsterbacken und ein Schlafzimmerblick - das ist der kommende NBA-MVP Nikola Jokic, so schräg das auch klingt. In einer Liga voller Spektakel ist ein 2,11 Meter großer Center, der vor nicht einmal zehn Jahren als "fettleibig" eingestuft wurde und sich lieber Pferden widmete, die wahrscheinlich größte Attraktion der NBA. In Denver, Colorado. Am Fuße der Rocky Mountains, jenseits von Glitzer und Glamour der Metropolen New York, Chicago oder Los Angeles.

Fans rund um den Globus verfolgen nun schon seit Jahren die Nuggets und sehen ein unorthodoxes Team um einen unorthodoxen Superstar, der Spiel für Spiel Highlights am Fließband produziert. No-Look-Pässe über den Rücken, Fadeaways über das falsche Bein, einhändige Touchdown-Pässe über das ganze Feld - Jokic und die Nuggets sind League Pass Gold und spätestens seit dem märchenhaften Einzug in die Conference Finals nach zwei 1-3-Serienrückständen in der vergangenen Saison kein Geheimtipp mehr.

Selbst in der Mile High City, wo Football mit den Broncos King ist und die Nuggets hinter den Colorado Avalanche aus der NHL nur die dritte Geige spielen, ist ein Hype ausgebrochen. "Diese Stadt liebt Nikola Jokic über alles", sagt Chris Dempsey, der Sideline-Reporter der Nuggets für Altitude TV im Gespräch mit SPOX. "Selbst im Moment, wenn nur 4.000 Fans zugelassen sind, ist es bei seinen Post-Game-Interviews so laut, als ob die Hütte voll wäre."

Die Nuggets haben endlich wieder einen Superstar, nachdem die letzte Attraktion namens Carmelo Anthony vor über zehn Jahren einen Trade forcierte und Denver - trotz kleinerer Erfolge - wieder von der NBA-Landkarte verschwinden ließ. Nun hat Denver eine neue Nummer 15, den "Joker" und dieser hat Denver wieder relevant gemacht - auf seine Weise. So spektakulär er auf dem Feld ist, so ruhig ist er daneben. Es gibt keine Kampfansagen, stattdessen ist er "ein demütiger Superstar", wie es Dempsey beschreibt, ähnlich wie es Dirk Nowitzki über 21 Jahre in Dallas war.

Es ist schon erstaunlich wie viele Parallelen es zur deutschen Legende gibt. Auch Jokic glänzt nicht mit Athletik, vermutlich kann er nicht einmal über einen Kasten Bier springen. Und doch tanzt auf dem Feld alles nach seiner Pfeife. Wie Nowitzki besitzt er einen traumhaft sicheren Wurf, seit dem Deutschen war kein Big Man mehr solch eine Garantie für zwei Punkte in den entscheidenden Phasen des Spiels.

Wie Nowitzki wird auch Jokic immer wieder für seine Defense belächelt, auch wenn all seine Trainer diese Kritik vom Tisch wischen. "Sein Basketball-IQ in der Defense ist völlig unterschätzt", verteidigt unter anderem Jokics früherer Jugend-Coach Branislav Vicentic im Gespräch mit SPOX dessen Verteidigung. "Er hat schnelle Hände und liest das Spiel, das sind alles Pluspunkte."

Jokic macht die fundamentalen Dinge so gut wie kaum ein anderer, darum ist er zurecht ein absoluter Superstar in einer Liga, in der athletische Freaks wie LeBron James, Kevin Durant, Giannis Antetokounmpo und in Zukunft Zion Williamson den Ton angeben. Was Stephen Curry seit einer knappen Dekade für die Guards ist, ist Jokic für die Center - die konsequente Evolution des Skill Balls in der NBA. Dass wir in absehbarer Zeit eine Kopie von einem der beiden sehen werden, ist unwahrscheinlich, gerade im Falle des Stars der Nuggets, der 2014 erst an 41. Position im Draft ausgewählt wurde.

Um das mal einzuordnen, seien hier die Namen von den vier 41. Picks der Vorjahre genannt: Jarvis Varnando, Darius Morris, Tyshawn Taylor und Jamaal Franklin. Keiner aus diesem Quartett ist mehr in der Liga, zusammengerechnet schafften sie 753 Zähler, Jokic hat schon jetzt über 8.000.

Seine Geschichte ist anders als die vom amtierenden MVP Giannis Antetokounmpo, für Jokic war Basketball kein Weg aus der Armut. Stattdessen war es der stetige Kampf gegen Kritiker, die offensichtliche Schwächen höher einschätzten als seine Stärken, auch in Denver. "Viele haben anfangs gar nicht verstanden, wie gut er ist, doch jetzt ist Nikola The Man in Denver", erinnert sich Dempsey. Inzwischen können sich alle Nuggets-Fans glücklich schätzen, Jokic im Team zu haben, denn dass aus dem heute 26-Jährigen überhaupt ein NBA-Spieler wird, dafür standen die Chancen erstaunlich schlecht.

SOMBOR - COLA, BUREK, DARKO MILICIC

Alles beginnt in Sombor, einer kleinen und etwas verschlafenen Stadt im Nordwesten der Republik im Dreiländereck zu Ungarn und Kroatien. In Serbien ist sie auch als Ravangrad (zu Deutsch: die flache Stadt) bekannt, eben weil es im kompletten Stadtgebiet keine nennenswerten Erhebungen gibt.

Der Nationalspieler und siebenfache Topscorer der damaligen jugoslawischen Liga, Radivoj Korac, wurde 1938 dort geboren. Nach einem tragischen Autounfall, der ihm im Alter von nur 30 Jahren das Leben kostete, wurde nach ihm ein neuer europäischer Wettbewerb benannt, der Korac Cup - Alba-Fans werden an dieser Stelle ins Schwärmen geraten.

Auch die Jokic-Familie ist verrückt nach Basketball. Nikolas ältester Bruder Strahinja spielte professionell in Europa, das mittlere Kind Nemanja ging in die USA und spielte dort für das kleine College Detroit Mercy. Das hatte einen einfachen Grund. Nemanja spielte in der Jugend in einem Team mit Darko Milicic. Jener Milicic, der im legendären Draft 2003 nach LeBron James, aber vor Carmelo Anthony, Chris Bosh und Dwyane Wade an Position zwei ausgewählt wurde.

Milicic nahm den mittleren Jokic mit in die Staaten, vornehmlich um einen Kumpel zum Feiern zu haben. Mit 18 Jahren kam für Milicic die NBA zu früh, der Druck war enorm und Spielzeit rar, da die Pistons ein Titelkandidat waren und schließlich auch im folgenden Jahr die ShaKobe-Dynastie beendeten. Milicic wurde als "Human Victory Cigar" hingegen zu einem Running Gag.

Der Jungstar suchte Zuflucht in Partys und schnellen Autos, dazu kaufte er sich neben einer Villa noch eine bewohnbare Yacht, auf welcher Milicic und Jokic eine Sause nach der anderen schmissen. "Ich selbst war das Problem”, erinnerte sich Milicic später. "Ich war mit mir selbst unzufrieden und begann, das Spiel zu hassen.” Der Ex-Top-2-Pick konnte sich nie durchsetzen, spielte in neun Jahren für sechs verschiedene Teams und war mit 27 Jahren raus aus der besten Liga der Welt.

Und Nikola? Der kleinste Jokic wächst abseits dieses Lifestyles auf. Basketball ist zwar spannend, doch Nikola interessiert sich auch für Fußball, Wasserball und vor allem Pferderennen. Von allem ein bisschen, doch nichts so richtig. Jokic fehlt der Antrieb, die Disziplin. Stattdessen stehen drei Liter Cola, Burek und Cevape täglich auf der Speisekarte.

Und trotzdem nimmt Basketball einen immer größeren Platz in seinem Leben ein (Zitat Jokic: "Aufgrund meiner Familie hatte ich gar keine andere Wahl"). Auf dem Freiplatz spielt Jokic stundenlang mit seinen Brüdern, mit 14 Jahren schließt er sich der lokalen Nachwuchsmannschaft an, auch wenn er zunächst keinen Spielerpass hat und nur mittrainiert. Das Spiel über das ganze Feld ist ohnehin nicht sein Ding, weil er dort immer zurücklaufen muss.

Jokic präferiert stattdessen das Drei-gegen-Drei im Halbfeld. Weniger laufen, mehr schnelle Entscheidungen, mehr Platz für Kreativität, die er schon damals besitzt. Das Gewicht bleibt jedoch ein Problem, einer seiner späteren Coaches in Serbien bezeichnet Jokic gar als "fettleibig".

DER BESTE PASSING BIG MAN DER GESCHICHTE

Den übergewichtigen Nikola gibt es nicht mehr. Schon vor dem Re-Start im Sommer 2020 war der Hype um den deutlich erschlankten Jokic groß. Denn trotz des Gewichtsverlusts vor seiner NBA-Karriere waren die Pfunde stets ein Thema. Wie einst Shaq spielte sich Jokic erst im Laufe einer Saison in Form, was auch Nuggets-Coach Michael Malone nicht gerne sah.

Und dennoch: Jokic dominierte auch mit einigen Kilos zu viel auf den Rippen, eben weil sein Skillset so austariert ist, dass es bis zu einem gewissen Punkt keine Rolle spielte. Schon jetzt gilt Jokic als bester Passgeber der Geschichte von der Center-Position, durchschnittlich 6 direkte Vorlagen pro Spiel über eine gesamte Karriere gelangen außer Jokic niemandem. Es gibt keinen Pass, den der 26-Jährige nicht spielen kann. Ob es ein No-Look-Pass aus vollem Lauf ist, ein gut getimter Bodenpass in die Zone oder ein Zuspiel auf die andere Seite des Feldes unter Druck eines Double-Teams, Jokic hat sie alle in petto.

Gepaart mit seinem Flair und Spielwitz hebt ihn das von anderen überragenden Passgebern wie Bill Walton oder Arvydas Sabonis noch einmal ab. Es macht Jokic zu einem regelrechten Albtraum-Matchup, worauf nur die wenigsten Big Men eine Antwort haben. Jakob Pöltl kann dies bestätigen. Der Wiener hatte 2019 die Ehre, Jokic zu verteidigen, als dieser sein Playoff-Debüt feierte.

Pöltl machte seine Sache ordentlich, der Österreicher ist inzwischen einer der besten Verteidiger auf der Center-Position, doch stoppen konnte der Spurs-Fünfer Jokic nur in Phasen. "Er ist aktuell eine der schwierigsten Aufgaben, weil man sich als Defense so schwer auf ihn einstellen kann", sagt Pöltl im Interview mit SPOX.

"Er ist so ein überragender Passer, dass man nicht einfach ein Double-Team nach dem anderen schicken kann, wenn er heiß läuft, zumal er in Denver jede Menge gute Schützen um sich herum hat und diese problemlos findet. Und er hat den Wurf und die Post-Moves, das komplette Paket."

Und dieses komplette Paket hat den Nuggets dazu verholfen, wieder eine ernstzunehmende Gefahr im Westen zu sein. Mit einem jungen Team und Konstanz auf der Coaching-Position verbesserte sich Denver Jahr für Jahr und nach Jokics zweiter Saison gab es auch keine Zweifel mehr daran, dass er ab sofort das Gesicht der Franchise war.

Jokic ist das entscheidende Puzzlestück eines Prozesses von vielen guten Entscheidungen, vor allem im Draft. Jokic, Gary Harris, Jusuf Nurkic, Jamal Murray, Michael Porter Jr., Malik Beasley, Juancho Hernangomez wurden alle unter General Manager Tim Connelly gepickt. Das ist eine starke Quote, erst recht, wenn man bedenkt, dass nur Murray ein Top-10-Pick (#7) war. So kann man schnell vergessen, dass Denver auch die heutigen Jazz-Stars Rudy Gobert und Donovan Mitchell draftete, sie aber noch am Draft-Abend jeweils nach Utah tradete.

Es ist selten, dass so ein Contender aufgebaut werden kann. Toronto gelang dies 2019, als die Kanadier keinen Lottery Pick im Kader hatten, dies ist aber eine Ausnahme und nicht die Regel. Gleiches gilt übrigens auch für MVPs. Giannis Antetokounmpo ist zusammen mit Steve Nash der bislang am niedrigsten gepickte MVP (#15), Jokic könnte auch hier Geschichte schreiben.

GEZWUNGEN ZUM GLÜCK

Als Misko Raznatovic vor knapp zehn Jahren an einem Sonntagvormittag die lokalen Zeitungen studierte, da ahnte er noch nicht, dass er an diesem Tag auf seinen wertvollsten Klienten stoßen würde. Raznatovic ist der Gründer von BeoBasket, der größten Berateragentur in Europa, welche so ziemlich jedes große Talent vom Balkan unter Vertrag hat. Mit KK Mega Soccerbet kontrolliert Raznatovic sogar einen Klub, der in der ersten serbischen und auch länderübergreifenden Adriatic League spielt.

An jenem Morgen wurde Raznatovic auf einen Jungen aufmerksam, der in einem Spiel über 30 Punkte und 20 Rebounds aufgelegt hatte. Und es sollte kein Einzelfall bleiben. Ein gewisser Nikola Jokic schien für ein Team aus der Region Vojvodina Woche für Woche Videospielzahlen aufzulegen. Raznatovic wollte mehr wissen, doch auch sein Scout Branimir Tomic hatte von diesem 17-jährigen Jokic noch nie etwas gehört.

Er solle sich doch diesen Burschen mal anschauen, ordnete Raznatovic an. Es könne schließlich sein, dass dieser Jokic den anderen einfach nur körperlich enorm überlegen sei. Doch Tomic kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus: "Es war großartig. Ich habe damals einen Basketballspieler gesehen, der alle Aufgaben während eines Spiels mit Leichtigkeit gelöst hat", berichtet Tomic SPOX. Am Körper könne man immer arbeiten, an Intuition oder Verständnis dagegen weniger.

Es ist ein wiederkehrendes Thema. Egal, mit wem man über Jokic spricht, irgendwann fällt das Wort "Naturtalent". So sehr die Ausbildung in Ländern wie Serbien gelobt wird, manchmal bringen Spieler eine Gabe mit, die sich nicht durch Coaching erklären lässt. "Das Wichtigste, was ich an diesem Tag gesehen habe, war die Freude und die Lust, die er während des Spiels gezeigt hat", erklärt Tomic weiter. "Natürlich hätte niemand ahnen können, dass er in der NBA so erfolgreich sein würde, aber ich war überzeugt, dass er ein hervorragender Spieler sein kann und auf hohem Niveau spielen würde."

Raznatovic vertraute der Einschätzung seines bestes Scouts, selbst wenn Jokic nicht einmal zu den besten 100 Talenten des Landes zählte. So wechselte der spätere Nuggets-Star zu Mega Vizura, so hieß das Team mit den markanten pinken Jerseys damals, ein Schritt, welcher sein bisheriges Leben komplett auf den Kopf stellte. Die Pfunde purzelten, nachdem Jokic durch ein rigoroses Fitnessprogramm geschickt wurde. Jokic hatte noch nie ein Fitnessstudio von innen gesehen, Liegestütze und Sit-Ups waren Fremdwörter für den Neuankömmling.

Doch die Verantwortlichen bei Mega sahen nicht nur das, was Jokic nicht konnte, sondern auch das, was er konnte. "Was sofort ins Auge stach, war der Umstand, dass er mit dem Ball keine Fehler machte", erinnert sich der damalige U19-Trainer bei Mega Vizura, Branislav Vicentic, der heute in Japans erster Liga coacht, im Gespräch im SPOX. "Er hatte mit dem Ball in der Hand eine Ruhe, die man nicht lernen kann, hinzu kam sein naturgegebenes Spielverständnis."

Die großen Klubs wie Crvena Zvezda oder Partizan meldeten sich dagegen nicht, auch nicht, als Jokic U19-MVP in Serbien wurde und mit der Juniorennationalmannschaft Silber hinter den USA gewann. "Sie sahen in ihm alle nur diesen dicken Jungen und übersahen dabei, welch großes Talent er hatte", erklärt Vicentic.

Und so entwickelte sich Jokic bei seinem Ausbildungsklub prächtig, auch eine Stufe höher. Raznatovic beorderte Bruder Strahinja nach Sremska Mitrovica, dem Spielort von Mega Vizura, er solle auf den Jungen aufpassen und dafür sorgen, dass er sein Talent nicht wie Nemanja oder Milicic verschwenden würde.

Auch in der ersten Mannschaft vertraute Coach Dejan Milujevic dem Joker und ließ den Hochbegabten einfach machen - und Jokic lieferte ab. 2013/14 spielte Jokic in seiner ersten Saison bereits 25 Minuten im Schnitt. Genug, um zum Hoop Summit, dem jährlichen Treffen der hoffnungsvollsten NBA-Prospects, eingeladen zu werden.

Dort spielte Jokic zwar nur 16 Minuten - übrigens an der Seite eines gewissen Jamal Murray - überraschte aber in den Trainingseinheiten mit einigen punktgenauen Pässen zum Big-Man-Kollegen und dem späteren Top-Pick von 2015, Karl-Anthony Towns. Spätestens zu diesem Zeitpunkt deutete sich an, dass Jokic tatsächlich eine Zukunft in der NBA haben könnte.

WEN INTERESSIERT SCHON
DER DRAFT?

Als die Nuggets Jokic draften, schläft dieser. Der Draft? So wirklich interessierte das den Big Man nicht. Bruder Nemanja, der in New York vor Ort ist, klingelt diesen aus dem Bett. Nikola nimmt es zur Kenntnis und legt sich danach wieder hin, erst als er aufwacht, versteht der Teenager die Dimension, nachdem sein Smartphone voller Nachrichten und verpasster Anrufe ist.

Aber Jokic ist nicht der Einzige, der den Moment verpasst. Als Commissioner Adam Silvers rechte Hand, Mark Tatum, den Pick verkündet, ist ESPN gerade in der Werbung und zeigt lieber Taco-Bell-Anzeigen als jeden einzelnen Zweitrundenpick. Fans der Nuggets wussten also auch nicht, dass das Team gerade den Franchise-Spieler der Zukunft gezogen hat.

Auch im Front Office ahnt man es noch nicht. "Tim Connelly gefielen seine Anlagen und sie waren überzeugt, dass in ihm ein NBA-Spieler steckt", erklärt Reporter Dempsey gegenüber SPOX. "Tim sagt mir immer wieder, dass er nicht er nicht einmal im Traum daran gedacht hätte, das aus Nikola ein Franchise Player werden kann. Deswegen weigert er sich auch, die Lorbeeren für diesen Pick einzuheimsen."

Auf diesen müssen sie in Denver nach dem Draft noch ein wenig warten. Jokic bleibt noch ein weiteres Jahr bei Mega Bemax (ein neues Jahr, ein neuer Sponsor), trotz des Drafts glaubt der inzwischen 19-Jährige noch nicht recht an die Verwirklichung seines NBA-Traums. Vielmehr arbeitet Raznatovic an einem anderen Deal. Jokic entwächst in seiner zweiten Saison der Balkan-Liga ABA und wird zum MVP gewählt, auch wenn sein Team mit einer Bilanz von 11-15 nur Zehnter von 14 Mannschaften wird.

In der serbischen Liga, die parallel zur ABA stattfindet, wird Jokic fünfmal in Serie als MVP des Spieltags ausgezeichnet, so etwas spricht sich auch bis nach Barcelona herum. In einem Interview mit dem Magazin Nedeljnik verriet Raznatovic vor einigen Jahren, dass ein unterschriftsreifer Dreijahresvertrag bereits auf dem Tisch lag, bevor "unglückliche Umstände" den Deal platzen ließen.

Unglückliche Umstände bedeuteten in diesem Fall, dass Jokic vor den Augen der Barca-Offiziellen ein grottenschlechtes Spiel machte. "Ich hatte 4 Punkte, 3 Rebounds und spielte fürchterliche Defense", sagte Jokic später. Die Katalanen bekamen kalte Füße und legten die Gespräche auf Eis. Tief in seinem Inneren wollte Jokic auch gar nicht gehen, zu sehr hing er an seiner Heimat Serbien.

Die Nuggets hatten aber ihren Draft-Pick nicht aus den Augen verloren und nahmen Notiz von Jokics Dominanz in der ABA. Vor allem Arturas Karnisovas, damals Assistant GM in Denver und heute Chef bei den Chicago Bulls, drängte bei der Franchise aus der Mile High City darauf, diesen Youngster endlich über den großen Teich zu holen. Am 9. Juni 2015 machte Jokic sein vorerst letztes Spiel auf Vereinsebene in Europa. Er legte 23 Punkte und 8 Rebounds auf, Mega Bemax scheiterte dennoch im Playoff-Halbfinale an Crvena Zvezda mit 89:90.

BRUDERKAMPF MIT DEM BOSNISCHEN BIEST

Als Jokic in der Folge erstmals wieder in Europa auflief, war er bereits mehr als nur ein Geheimtipp. Die Nuggets und die Indiana Pacers waren im Rahmen der London Games in der englischen Metropole zu Gast und es war nicht etwa Pacers-All-Star und NBA2K-Coverathlet Paul George, der das Publikum begeisterte, sondern dieser junge 2,11 Meter große Center der Nuggets.

Denver überrollte die Pacers mit 140:112 und Jokic legte 22 Punkte, 10 Rebounds sowie 8 Assists auf, heutzutage eine klassische Jokic-Statline. Doch vor allem die Assists sorgten für Staunen: Ein No-Look-Alley-Oop-Zuspiel mit dem Rücken zum Korb oder aber ein solcher Touchdown-Pass über das komplette Feld zum Ende der ersten Halbzeit, welche er schon bei seiner Ankunft bei Mega Vizura spielte. Jokic war angekommen, ab diesem Moment war der Hype nicht mehr zu stoppen.

"Es war so, als ob er in diesem Spiel den Lichtschalter angeknipst hätte", erinnert sich Dempsey, der das Spiel vor Ort begleitete. "Es war unglaublich. Wir haben uns alle angeschaut und uns gefragt, warum er das nicht schon viel früher gemacht hat. Von da an lief alles wie von selbst und er brauchte nur noch die Wiederholungen und Erfahrungen der NBA."

Zuvor pendelte Jokic in seinem zweiten NBA-Jahr zwischen Starting Five und Bank. Denn die Nuggets hatten noch einen anderen talentierten Big Man in ihren Reihen, auf den sie große Stücke hielten und den sie ebenfalls im Draft 2014 gezogen hatten - Jusuf Nurkic. Der Bosnier war mit seinem massiven Körper umgehend bereit für die NBA und hatte so ein Jahr Vorsprung.

"The Bosnian Beast" plagte sich aber immer wieder mit Verletzungen herum, sodass Jokic auch als Center ausreichend Spielzeit bekam. 2016/17 waren aber beide fit und Coach Malone beantwortete die Frage Nurkic oder Jokic mit Nurkic UND Jokic - doch es funktionierte nicht. "Nikola wollte sich Nurkic anpassen und hielt sich deswegen zurück", erklärt Dempsey. "Nurkic war dagegen sehr dominant und hat den Ball für sich beansprucht, er ist ein komplett anderer Typ Spieler als Nikola."

Doch Jokic bekam auch Chancen, alleine zu glänzen, weil sich Nurkic immer wieder mit kleineren Wehwehchen herumplagte. Bereits zu Beginn des Jahres 2017 deutete sich ein Wechsel in der Hackordnung an, in London spielte der Bosnier nur noch sieben Minuten. Aus Jokic und Nurkic war Jokic ODER Nurkic geworden - und die besseren Karten hatte inzwischen der Serbe. "Ich bin nicht hier, um auf der Bank zu sitzen", polterte Nurkic zu dieser Zeit.

Es war nur konsequent, dass die Nuggets Nurkic gut einen Monat später nach Portland tradeten, auch wenn Denver sogar noch einen Erstrundenpick drauflegen musste, um im Gegenzug in Mason Plumlee einen neuen Backup für Jokic zu bekommen. Der Deal wurde teils heftig kritisiert, im Nachhinein war er nachvollziehbar. Die Nuggets hatten endgültig alle Chips in die Mitte geschoben - für Nikola Jokic.

DER ETWAS ANDERE MVP

Über vier Jahre ist das nun her, seitdem ist jede Menge passiert. Denver ist kein Lottery Team mehr, stattdessen galten die Nuggets in der laufenden Saison bis zur Verletzung von Murray nach dem Trade für Aaron Gordon als Geheimfavorit auf den Titel. Jokic ist inzwischen dreifacher All-Star, war einmal im All-NBA First Team, einmal im All-NBA Second Team vertreten und hat mit dem "Sombor Shuffle" die serbische Antwort auf den Flamingo-Wurf von Dirk Nowitzki geliefert.

Aus dem schüchternen Hünen ist ein Anführer geworden, auf seine Art und Weise. "Er wollte nicht im Rampenlicht stehen, er wollte kein Leader sein. Aber genau das ist er jetzt. Er sagt, was auf dem Feld zu tun ist. Er nimmt sich seine Mitspieler zur Seite", sagt Dempsey über die Entwicklung des Centers. Über vier Jahre und fünf teils hart umkämpfte Playoff-Serien hat sich der Joker bewiesen, er zählt ohne Zweifel zu den absoluten Superstars. Und er ist sich seinem Status auch bewusst.

"Er ist inzwischen mit sich selbst im Reinen", findet auch Dempsey. "Ich glaube, dass seine erste All-Star-Nominierung wirklich geholfen hat. Die besten Spieler der Welt sind auf ihn zugegangen und haben ihn mit offenen Armen empfangen. Das hat ihm sehr geholfen, seitdem zeigt Nikola ein ganz anderes Selbstverständnis auf dem Feld." Große Ansagen wird man vom Serben dennoch nicht hören. Während Joel Embiid, Stephen Curry oder James Harden sich öffentlich als MVP sehen, schweigt der Nuggets-Star und lässt Abend für Abend auf dem Feld Taten sprechen.

Am ehesten ähnelt er hier Clippers-Star Kawhi Leonard, der in der Öffentlichkeit ebenfalls wenig spricht und ebenfalls kein Twitter, Instagram oder andere soziale Medien nutzt. Womöglich ist es das, der Standort plus seine Herkunft, weswegen Massenmedien wie ESPN vor allem in den sozialen Netzwerken lieber polarisierende Charaktere wie LeBron James oder eben Embiid pushen.

Jokic ist eben auch ein Sonderling, dieser riesige Mensch, dessen harter serbischer Akzent stets allgegenwärtig ist, der für die US-Medien nicht wirklich zu greifen ist. Ihm selbst dürfte nichts weniger stören als das. Denver ist inzwischen seine Heimat fernab der Heimat, dort lebt er mit seiner Frau, die er 2020 in Sombor heiratete, und mit seinen beiden Brüdern.

Vieles deutet darauf hin, dass auch Jokic wie Nowitzki sein Team nie verlassen wird. "Ich glaube, dass er ein familiäres Umfeld möchte, in welchem er sich wohlfühlt", sagt Dempsey. "Dazu will er gewinnen und er will eine Chance auf den Titel haben, die Möglichkeit bieten ihm die Nuggets." 2023 läuft der Vertrag aus, dann winkt dem Center ein ähnlicher "Supermax"-Vertrag, wie ihn Giannis Antetokounmpo von den Milwaukee Bucks im Dezember 2020 unterschrieb (5 Jahre, 228 Millionen Dollar).

Für Dempsey gibt es deswegen nur ein Szenario, warum Jokic die Nuggets den Rücken kehren möchte: "Wenn Nikola Denver verlässt, dann deswegen, weil er nicht mehr Basketball spielen wird. Er wird nach Serbien zurückkehren und wir werden ihn nie wieder sehen."