Bei den Seattle Seahawks ist das Ende einer großen Ära endgültig da: Mit dem Trade von Michael Bennett sowie der Entlassung von Richard Sherman endet das Kapitel der dominantesten Defense dieses Jahrzehnts. Für Seattle könnte jetzt eine schon fast ungewohnt holprige Übergangsphase bevorstehen - doch die war früher oder später notwendig und die Seahawks haben dafür den richtigen Zeitpunkt abgepasst. Eine Einschätzung von SPOX-Redakteur Adrian Franke.
Anhaltende Dominanz ist in der heutigen NFL ein nahezu unerreichbares Ziel. Das Draft-System und der Salary Cap sind voll auf Ausgeglichenheit ausgelegt, und das gelingt in den meisten Fällen eindrucksvoll gut. Deshalb schaffen Teams wie die Rams, Jaguars oder Eagles innerhalb kürzester Zeit einen bemerkenswerten Umbruch, die Browns versuchen in diesem Jahr aggressiv und endlich auch mit einem Quarterback, diesen Weg ebenfalls erfolgreich einzuschlagen.
Doch gibt es erfolgreiche Ausnahmen, denen es trotzdem gelingt, längerfristig erfolgreich zu sein. Die Patriots mit Brady und Belichick sind sicher das Paradebeispiel dafür, doch blickt man auf dieses Jahrzehnt, dann muss man in dieser Kategorie spätestens mit dem nächsten Atemzug die Seattle Seahawks nennen.
Auf dem Rücken einer historisch dominanten Defense, die über fünf Jahre das Maß aller Dinge war und nahezu komplett durch selbst gedraftete und entwickelte Spieler geprägt wurde, gehörten die Seahawks Jahr für Jahr in den Kreis der Titelanwärter. Seattle gewann einen Super Bowl und war ein Yard vor der Titelverteidigung.
Diese Zeit ist jetzt vorerst vorbei.
Seahawks: Der Umbruch war unvermeidbar
Seattle stand vor einem Umbruch, das war absehbar. Die gesundheitlich ungewisse Zukunft von Kam Chancellor und Cliff Avril auf der einen, die ebenfalls schwere Verletzung von Sherman in Kombination mit zahlreichen auslaufenden Verträgen (McDougald, Shead, Maxwell, Richardson) auf der anderen Seite brachten die Seahawks in eine recht eindeutige Situation mit zwei klaren Optionen.
Entweder nochmals alles in die Waagschale werfen, hoffen, dass die angeschlagenen Säulen voll zurück kommen und dass man finanziell die Räume schaffen kann, um Spieler wie Richardson zu halten und die Offensive Line zu verstärken. So wie im vergangenen Jahr, als man Richardson und Duane Brown via Trade noch holte. Oder jetzt den Umbruch einleiten.
Anders gesagt: Die Seahawks, denen durch die Trades ohne Zweit- und Drittrunden-Pick ein weiterer schwieriger Draft bevorsteht, haben entschieden, dass das Titel-Fenster für das dominanteste NFC-Team dieses Jahrzehnts geschlossen ist. Und sie haben damit Recht.
Zu viele schlechte Seahawks-Drafts
Für Seattle gab es hier kaum einen Zwischenweg, dafür ist auch der Kader schlicht zu dünn. Denn wo zu Hochzeiten eigene Draft-Picks auf günstigen Rookie-Verträgen glänzten, herrscht in Seattle seit einigen Jahren ein Mangel an Talenten.
Schlechte Trades (Percy Harvin, Jimmy Graham) aber vor allem mehrere katastrophale Drafts haben Seattle an diesen Punkt gebracht. Die Defense hat nicht mehr auf jedem Level Superstars in ihrer Prime und wenn die alternden Stars dann zu Fragezeichen werden und keine jungen, vielversprechenden Spieler nachkommen, geht das Titel-Fenster in der NFL schnell zu.
Das gilt in Seattles Fall umso mehr, wenn in der gleichen Division die Rams wie verrückt aufrüsten und das führt letztlich zu einer genauso wichtigen wie schwer zu beantwortbaren Frage: wann ist der richtige Zeitpunkt, um einen Umbruch einzuleiten? Sowie damit einhergehend, und das kann Teams letztlich Jahre der Aufräumarbeiten kosten, der Zusatz: wann hat man diesen Punkt verpasst?
Seattle hat nach dem finalen Versuch in der Vorsaison den genau richtigen Zeitpunkt gewählt. Statt einen letzten verzweifelten Run mit diversen - aus gesundheitlicher Sicht - Risiko-Spielern zu versuchen, wird man jetzt jungen Spielern die Chance geben, sich zu beweisen und sich zu entwickeln. Zu häufig wählen Teams in der NFL den ersten Weg, kaum einmal ist das von Erfolg gekrönt. Und Seattle ist bestens positioniert, um genau jetzt den Umbruch einzuleiten.
Russell Wilson und die Vorteile des Franchise Quarterbacks
Die Seahawks haben mit Russell Wilson einen Franchise-Quarterback, einen ligaweiten Top-10-QB. Dass per se ist das stärkste Gegenargument für den jetzt so aggressiv vorangetriebenen Umbruch, schließlich will man die Jahre, in denen man einen solchen Quarterback hat, bestmöglich ausnutzen. Paradoxerweise ist es aber auch ein gutes Argument dafür.
Ein Franchise-Quarterback macht alles in der NFL einfacher, inklusive eines Umbruchs. Wilson, der durch die Abgänge der unumstrittenen Leader Bennett und Sherman jetzt als Anführer noch stärker im Mittelpunkt stehen wird, macht die Seahawks konkurrenzfähig. Auch während das Team den Umbruch vorantreibt.
Russell Wilsons Vertrag im Überblick:
Jahr | Base Salary | Cap Hit | Dead Cap bei Entlassung |
2018 | 15,5 Millionen Dollar | 23,7 Millionen Dollar | 21,4 Millionen Dollar |
2019 | 17 Millionen Dollar | 25,2 Millionen Dollar | 8,2 Millionen Dollar |
2020 | UNRESTRICTED FREE AGENT |
Seattle ging, inklusive Cap-Rollover aus vergangenen Jahren, mit einem Salary Cap in Höhe von 177,7 Millionen Dollar in die Offseason. Der fünftniedrigste Wert aller Teams. Erst durch die Entlassung von Sherman und den Bennett-Trade kletterte Seattle in puncto Cap Space auf 30 Millionen Dollar und damit in Richtung Liga-Durchschnitt (34,3 Millionen), hat Stand heute aber auch die wenigsten Spieler für 2018 unter Vertrag (44, so viele wie Jacksonville).
Den Kader jetzt günstiger zu machen und sich so für die nächsten Jahre in eine bessere Position zu bringen - Wilsons Vertragsverlängerung steht immerhin ebenfalls nächstes Jahr bevor, der Vertrag von Frank Clark läuft ebenfalls aus - macht also fraglos Sinn.
Seattle kombiniert das durch den klaren Schnitt, beispielsweise eben auch durch den Trade von Michael Bennett, mit einem internen Wachwechsel. Wilson, Bobby Wagner und Earl Thomas dürften jetzt die klaren Chefs innerhalb des Teams sein.
Gelingt den Seahawks ein sanfter Umbruch?
Diese drei Personalien sind gleichzeitig ein erster Fingerzeig darauf, dass Seattle mitnichten jetzt mehrere Jahre brauchen muss, um wieder angreifen zu können. Wilson, Wagner, Thomas, K.J. Wright, Doug Baldwin, Shaquill Griffin, Frank Clark, Jarran Reed - die Seahawks haben noch immer einen Kern an Spielern, um den sie viele Teams beneiden. In Person von Griffin, Clark, Reed sowie Defensive Tackle Malik McDowell werden jetzt auch selbst gedraftete, junge Spieler das Bild prägen.
Kein Team kann sich in der NFL auf vergangenen Erfolgen ausruhen, denn während man selbst auf dem Höhepunkt sein mag, ist ein anderes Team gerade dabei, sich mit einem Umbruch für die nächsten Jahre auszurichten. Die Seahawks waren lange das Team, das gejagt wurde - ab sofort befindet sich Seattle zumindest vorerst wieder in der Jäger-Position.
Head Coach Pete Carroll brachte es am Rande der Combine vor einigen Tagen so auf den Punkt: "Wir gehen jede Offseason auf die gleiche Art und Weise an: Wir wollen so gut es geht mithalten, wenn es darum geht, unsere Jungs in die bestmögliche Position zu bringen, die richtigen Entscheidungen zu treffen und mit Blick auf das, was in der Liga abgeht, auf der Höhe zu bleiben. Manchmal muss man schwierige Entscheidungen treffen, um das hinzubekommen."