Kommendes Wochenende fährt die Formel 1 wieder in Italien, auf dem legendären Autodromo Nazionle di Monza. Dort ist die Tradition förmlich zu riechen. Und zu schmecken. Und zu tasten. Ein Ortsbesuch.
Es ist eine Wonne, im Morgengrauen, wenn der Boden noch etwas feucht und die Luft wunderbar klar ist, verträumt durch den königlichen Park von Monza zu schlendern. Baumstämme spalten die Strahlen der warmen Herbstsonne, zwischen dem Astwerk blinzelt sie in tausendfacher Ausführung hervor. Man ist von grünen Wiesen umgeben, eine Schneise tut sich auf, man beschreitet sie. Es dauert lange, bis das Gelände von Interesse naht, man geht und geht, ohne recht voranzukommen, als sollten Spannung und Vorfreude gezielt potenziert werden. Es ist nicht nötig.
Ich kann das erzählen, weil es Erfahrungen sind. Letztes Jahr war ich da. Mein erster Live-Besuch bei einem Autorennen, und ich muss sagen, dass es sicher ungeeignetere Länder gibt als Italien. Die Anlage ist vom alten Schlag, die Atmosphäre auf pures Racing ausgerichtet, die Tifosi emotionsgeladene Motorsportliebhaber, mit dem springenden Pferd am rechten Fleck. Das Leben wie es sein sollte?
Man spürt den Mythos. Immer, jederzeit. Hier wurden einige Rennfahrer zu Legenden und andere zu Grabe getragen. Ehrfurcht jetzt.
Das große Krabbeln
Das wirklich Schöne an Monza ist, dass es ein Gemälde skizziert, das an das Alte, das Verklärte, vielleicht das Ehrliche erinnert. Es gibt offenbar genau einen zentralen Eingang zum Fahrerlager, den alle passieren müssen, Teampersonal, Medienvertreter, wichtige Menschen und solche, die glauben, wichtig zu sein. Auch den Grand-Prix-Piloten steht kein unterirdischer Tunnel zur Verfügung, zwangsweise bahnen sie sich ihren Weg durch die drängelnde, schubsende, plärrende Meute. Wie geerdet so manch einer plötzlich im dichten Gedränge wirkt...
Wobei ich keinen verzerrtes Eindruck schaffen möchte. Der Umgang von Fahrern mit Fans ist vorbildlich, eigentlich ausnahmslos. Lewis Hamilton posiert für Erinnerungsfotos, Mark Webber schlendert gemütlich an den Heerscharen vorbei, der rechte Arm von Fernando Alonso wird von den Autogrammjägern fast so sehr strapaziert wie hernach im Rennauto. Kein Wunder - Alonso ist der ultimative Star in der Manege.
Samstags ist es noch Zufall, dass wir justament richtig stehen. Sonntags nicht. Ich bin alles andere als ein Verfechter des Personenkults, aber derartige Gelegenheiten gilt es zu ergreifen. Die viel gefragten Fahrer werden entweder vor das große Gittertor chauffiert oder bewältigen den schleppenden Stop-and-Go-Verkehr selbst, zum Teil, wie Michael Schumacher, auf dem Mofa. Ein rotes Meer verschluckt sie, irgendwann spuckt es die Helden wieder aus. Ringsum kreiseln Polizisten und Einweiser umher, die der Straßenverkehrsordnung - typisch italienisch - wenig Struktur verleihen können. Mächtigen Staturen, dunklen Sonnenbrillen und grellen Trillerpfeifen zum Trotz. Der Fahrerlagerzugang in Monza ist ein unorganisiertes Staugebiet, chronisch verstopft, unmöglich zu umfahren. Es herrscht das große Krabbeln.
Herkömmlicher Belag? Herkömmliche Bäume?
Man kann die Tradition riechen, schmecken, tasten. Die Historie inhalieren. Überall. Die verwitterten Steilkurven als Zeugnis der Natur, als monumentales Dokument der Geschichte. Monza ist keine heruntergekommene Ruine, dafür ein Rennplatz im eigentlichen Sinne. Er muss nicht klinisch rein sein, wahrscheinlich soll er das gar nicht. Oder darf es nicht? Monza ist nicht "perfekt", es gibt Schönheitsfehler und einige Ecken, die nach optischen Korrekturen schreien.
Wehe! Dies hier ist kein Ort für Chirurgen, sondern für den Motorsport.
Also setzten wir unsere Entdeckungsreise fort. Treppenstufen sind von Moos durchzogen, Gräser wuchern aus den Ritzen. An den Maschendrahtzäunen nagt der Zahn der Zeit, lange hat Rost angesetzt, er lässt sie gebrechlich erscheinen und dennoch rissfest - mit ein wenig Romantik. Man bewegt sich irgendwie demütig, obwohl das Quatsch ist, denn letzten Endes ist es ein herkömmlicher Belag zwischen herkömmlichen Bäumen. Aber man weiß: Auf diesem weitläufigen Areal wurden Geschichten und Geschichte geschrieben. Die Anlage lebt. Das Herz bebt.
Ich war nie in einer dieser Oasen der Sterilität, die den Formel-1-Kalender seit zehn Jahren besiedeln. Doch auch aus der Distanz wage ich ein persönliches Urteil fällen zu können. Die Monsterbauten in Asien, den Emiraten oder im Nahen Osten mögen futuristisch sein, vielleicht auch ästhetisch - für Kunstliebhaber. Als Rennfan erkennt man eine bessere Fata Morgana, sei es Bahrain, sei es Indien, sei es Abu Dhabi. Da ist nichts, was einen bindet, nichts, was Faszination hervorruft. Nichts, was einen fruchtbaren Nährboden für die Wurzeln der Formel 1 gewährt. Keine Bäume im königlichen Park.
Am Puls des Patienten
Es ist vermutlich zu viel verlangt, Portemonnaie und Seele ohne Streuverluste zu harmonisieren. Andererseits muss man nicht einmal Nostalgiker sein, um mit dem künstlichen Schwall an Hochglanzprodukten eine gepflegte Abneigung zu verbinden. Neue Märkte, neue Felder, neue (Geld-)Quellen, ewig lockt das Dollarzeichen, doch mit dem Drang zur Expansion geht die Gefahr einher, eine stabile Balance zu verlieren.
Klar ist, dass vielerorts unrentabel gewirtschaftet wird, und dass die Profitmaximierung deshalb zunehmend andere St(r)eckenpferde bedient. Die Relation muss stimmen. Eine gesunde Mixtur aus Tradition und Moderne, mehr ist es nicht, was es braucht. Nächstes Jahr soll in Russland gefahren werden, Österreich kehrt zurück. Höchst überraschend. Allerdings wurde in diesem Zusammenhang kolportiert, dass der GP Italien auf der Kippe steht. Italien! Ein Wackelkandidat?
Der Sport ist flügge geworden, aber er fußt in Europa. In Silverstone, in Spa, ganz besonders in Monza. Diese Reminiszenz an das Gewesene, die Verneigung vor den Heroen der frühen Jahre ist so beispiellos wie elementar. Wer in Monza weilt, hört den Pulsschlag pochen und den Patienten Formel 1 atmen. Anderswo röchelt er nur noch.
Lasst ihn nicht sterben.
Ich fürchte auch, dass ich Schuld bin. Er wird sich gedacht haben, jetzt ist der Typ auch noch glücklich, dass ich im Kreis gefahren bin, da kann ich beruhigt abtreten :-P
Ernsthaft, ich hatte Tränen in den Augen beim Lesen...
Dieser Text begeistert, rührt und demotiviert mich persönlich ein wenig...
@ spenser
Ich schau, was sich machen lässt...