Deutschland hat 3:0 gewonnen, nicht weiter bemerkenswert könnte man jetzt vielleicht denken. Drei Tore schießen wir doch eigentlich immer, wenn der Gegner nicht Spanien oder Italien oder in der Vorrunde Serbien oder Kroatien heißt. Also darauf kann man sich doch wohl verlassen. Wer war eigentlich der Gegner? Achja, Österreich, das sogenannte Bruderduell, doch der südliche Nachbar mit der glorreichen Ski-Tradition war gar nicht das große Thema im Vorfeld. Vielmehr ging es um die scheinbar chronische Abwehrschwäche der deutschen Elf denn so hieß es drei Tore kriegen wir immer. So hat nicht nur der ein oder andere Österreicher ein Unentschieden für möglich gehalten. Dabei hatte man allerdings auch vergessen, dass wir eigentlich auch immer gegen Österreich gewinnen. Mit diesem Phänomen jedoch können sich nun getrost unsere Nachbarn beschäftigen, ich lege meinen Fokus im weiteren Verlauf auf das Vermeiden des Wortes eigentlich und (wie langweilig und wie soll es auch anders sein) die deutsche Abwehr, samt ihrer Protagonisten im Zeitvergleich. Hierzu ziehe ich die Weltmeister von 1990 heran.
Vergleich mit den Weltmeistern von 1990
Gekommen ist mir diese Idee beim Kommentarstudium der Partie in der Nachbetrachtung. Immer wieder stieß ich auf sich ähnelnde Kommentare, hier ein Beispiel von Spiegel online:
Desolate Abwehr. Also die Abwehr ist eine Katastrophe. Früher das Herz des deutschen Fußballs und nun sein Krankenlager.
Nun bin ich zum einen zu jung, um Fußballgötter wie Buchwald und Kohler valide aus meiner Erinnerung auf ihre Nationalmannschaftstauglichkeit hin beurteilen zu können und zum anderen kein größer Fan nostalgischer Verklärungen. So beschloss ich, begeistert von der Vorstellung, endlich einmal richtige Verteidiger zu sehen, mir das WM-Achtelfinalspiel Deutschland gegen die Niederlande aus dem Jahre 1990 anzugucken. Schon allein die Aufstellung ließ mich wissen, hier bin ich richtig! Verteidiger so weit das Auge reicht: Reuter! Brehme!! Kohler!!! Augenthaler! Buchwald!! Und natürlich Thomas Berthold!!! Keiner kann stilvoller bei jedem Anlass betonen, dass es den heutigen Abwehrspielern an Klasse fehlt, von Weltklasse bräuchte man da gar nicht erst sprechen, eher schon so grundsätzlich mangele es an Substanz. Vor allem im Vergleich mit früher.
Also nichts wie rein in die gute alte Zeit! Statt Popcorn habe ich allerdings einen Notizblock in der Hand, nur so zur Sicherheit, falls doch mal ein kleiner Abwehrfehler über den Bildschirm flimmert. Kaum läuft die Partie, muss ich mich erstmal noch schnell von ein paar lieb gewonnenen Eigenarten des heutigen Fußballs verabschieden: Das Pressing wartet wohl noch auf seine Erfindung, Tiki Taka und schnelle Passkombinationen kann ich auch keine entdecken, und wo ist überhaupt das Mittelfeld, dieser viel beschworene Motor, das Schwungrad einer jeden Fußballmannschaft? Ach, mein Fehler, da war es ja, der Matthäus war nur mal eben aus dem Bild! Nein, Scherz beiseite, Matthäus stellte natürlich nicht alleine das Mittelfeld dar, laut Spielberichtsbogen macht er das zusammen mit Littbarski. Da man auch damals mit Torwart spielte und ich bereits sechs Verteidiger aufgezählt hatte und man erst nach 25 Minuten auf Rudi Völler verzichten wollte (Rot, weil er sich zweimal von Rijkaard bespucken ließ) und mit Klinsmann wenigstens einer vorne für Gefahr sorgen sollte, waren einfach nur noch zwei Plätze für Mittelfeldspieler offen... Die Folge war ein risikoloser Spielaufbau mit weiten, langen und vor allem hohen Bällen auf die Stürmer. Ein Spielstil, den beide Mannschaften mit der ihr eigenen Konsequenz durchzogen.
Verteidigen gestern
Aber zurück zur Verteidigung und da geht es auch gleich rund in den ersten zehn Minuten. Ich kann nur jedem empfehlen, sich diese ersten zehn Minuten noch einmal anzusehen. Vor allem denen, die noch immer der Ansicht sein sollten, dass damals noch gute Verteidiger am Werk waren. Bei genauerer Betrachtung (was sich eigentlich nur grundlos beschönigend liest) hat dieses am Werk noch sehr viel mit werkeln und Holzarbeiten zu tun. Thomas Berthold lässt sich kurz nach Anpfiff naiv und (das muss ich leider so deutlich sagen) stümperhaft von Ruud Gullit am Sechzehner den Ball abluchsen. Der wiederum nur noch nach innen flanken braucht, wo Aron Winter kaum bedrängt verpasst. Glück gehabt. Kurz darauf wird über die linke Abwehrseite eine weitere Flanke herein gegeben, wieder verfehlt ein holländischer Angreifer nur knapp, Buchwald und Augenthaler stehen regungslos im Fünfer. So geht es dann auch weiter, die Anfälligkeit bei hohen Bällen bleibt ein Wiedererkennungsmerkmal, genauso wie technische Unzulänglichkeiten, Buchwald verursacht vor dem eigenen Strafraum eine unkontrollierte Kerze, bei deren Klärungsversuch sich gleich zwei Nationalspieler behindern, eine allgemeine Konfusion ist die Folge. Klingt wirr, ist es auch, ich habe genug und widme mich wieder den Dilettanten der Neuzeit. Obwohl, eine Anmerkung muss noch erlaubt sein, das Leben eines Verteidigers war damals noch wesentlich unbeschwerter, die Angriffe rollten nicht so schnell auf einen zu, die individuelle Klasse des Durchschnittsspielers war deutlich geringer, somit war er auch nicht so gefährlich im Eins-gegen-Eins und der Abwehrspieler hatte dank nicht vorhandenem Pressing mehr Zeit und Ruhe im Aufbauspiel, welches er jedoch trotzdem nur selten übernahm.
Verteidigen heute
Ja, die Skeptiker haben Recht, auch heute läuft nicht alles und jeder Verteidiger rund. Das zeigte sich auch gestern wieder. Schmelzer wurde nicht gefordert (was an der eklatanten Formschwäche von Arnautovic lag) und konnte trotzdem nach vorne keine Akzente setzen, weil ihm dafür mit den Worten eines Bertholds einfach die Klasse fehlt.
Boateng durfte sich endlich einmal in der Nationalmannschaft als Innenverteidiger ins Schaufenster stellen, reichte aber nicht an die souveränen Auftritte im Verein heran, er wirkte ein bisschen gehemmt, ließ jegliche Aggressivität vermissen (vielleicht eine Folge des besonderen und körperlosen Anforderungsprofils des Bundestrainers). Jerome Boateng war aber dennoch der wichtigste Mann in der Verteidigung und klärte auch immer wieder für schon geschlagene Mitspieler, wie Höwedes in der zweiten Halbzeit. Wenn wir schon mal bei Höwedes sind, kann man auch gleich festhalten, dass ihm ein linker Fuß für Flanken fehlt (trotz der konzentrierten Ablage zum 3:0). Per Mertesacker hat mich ein bisschen an die oben genannten Verteidiger von 1990 erinnert...
Und Lahm? Ja, sogar Lahm ist dreimal zu früh in ein Bodentackling gegangen und ließ sich überlaufen. Das hat Stefan Reuter im Spiel gegen die Niederlande in der Tat besser gekonnt.
Fazit
Mein Fazit eröffne ich in Form einer generationenübergreifenden Mannschaftsaufstellung:
Tor: Neuer
Abwehr: Reuter, Mertesacker, Boateng, Lahm
Mittelfeld (defensiv): Matthäus, Kroos
Mittelfeld (offensiv): Müller, Özil, Reus
Angriff: Klinsmann
Die Aufstellung ist natürlich mit einem Augenzwinkern versehen. Beinhaltet jedoch auch ein paar Beobachtungen, wie z.B., dass Miroslav Klose auch gestern nicht überzeugen konnte (trotz seines Billardtors). Er ist mittlerweile weder lauf- noch spielstark und gehört nun endgültig in Rente, schließlich hat er ja jetzt auch seinen kleinen Torrekord, ein guter Moment um abzutreten. Und Klinsmann machte im Achtelfinale gegen die Niederlande 1990 sein Spiel des Lebens. Khedira war gestern in manchen Szenen durchaus verbessert gegenüber vorherigen Auftritten, aber ist immer noch nicht in der Lage mal einen Doppelpass am gegnerischen Strafraum zu spielen. Müller war mit seinem enormen Laufeinsatz fast der wichtigste Mann gegen Österreich auf dem Platz. Özil spielt nach vorne einen wunderbaren und auch türöffnenden Fußball, aber nach hinten war das leider Arbeitsverweigerung und in der Form nicht tragbar, eigentlich bliebe ihm nur ein Platz auf der Bank, wenn ich konsequent wäre, denn gegen starke Gegner wird diese Spielweise bestraft, aber es ging ja nur gegen Österreich. Tja, und Mertesacker und Boateng sind nun wirklich nicht schlechter als Augenthaler, Kohler, Buchwald und Konsorten. Wer das nicht glaubt, den lade ich recht herzlich zu einer kleinen Zeitreise ein.
Deutschlands Weg ist grundsätzlich der richtige, wobei natürlich nicht alles perfekt ist. Dass man so viele Gegentore erhält, ist ein Problem, das es zu beheben gilt. Dennoch wird dieses Problem überbewertet.
Das vergangene CL-Finale ist ein positiver Beleg für den guten Weg. Der überwiegende Teil der N11 spielte entweder für den BVB oder die Bayern. Beide Trainer sind Deutsche (kein englisches Toppteam hat einen englischen Coach). Wer von der N11 erwartet, dass sie einen Titel gewinnt, gleichzeitig aber ihren "schönen" Spielstil kritisiert, muss sich im Klaren sein, dass genau das wieder zu einer EURO 2000 führen kann. Wer schlechte Spiele ohne Gegentore sehen will, läuft Gefahr, bald Spiele zu sehen, in denen wieder gerumpelt wird.
Außerdem - auch da stimme ich dem Autor des Blogs zu - wurde damals mitnichten besser verteidigt. Zudem muss man bedenken, dass bis auf Klinsmann und Völler keiner der damaligen Protagonisten noch eine wichtige Position im heutigen Fußball innehat. Das hat berechtigte Gründe.
Die Kritiker Löws vergessen, dass wir auch mit Rumpelfussball noch kein Spiel gegen Italien gewonnen haben, bei einem Turnier.
Außerdem stand bei den letzten Turnieren eine spanische Mannschaft vor uns, die wahrscheinlich das beste Nationalteam aller Zeiten ist.
wenn also die heutige manschaft so viel besser ist, müsste doch bald ein titel folgen.
mertesacker soll also besser sein kohler?
kohler gehörte seinerzeit zu den absolut besten uv der welt. mertesacker ist ganz ok, aber besitzt nicht die individuelle klasse von kohler.
brehme müsste auch in diese elf, auf außen zu seiner glanzzeit klar besser als reuter.
gomez ist am ball viel stärker als klinsmann es gewesen ist, ein blick auf die torquote erübrigt sich da schon.
"Das war vor mehr als 20 Jahren noch ganz anders, als Tempo, Strategie und Taktik noch auf einem überschaubaren Niveau waren. Heißt im Ergebnis: heute wird besser verteidigt unter wesentlich schwierigeren Bedingungen. "
-die athletik hat sich stark verbessert.
"Von denjenigen, die sagen, früher wurde besser verteidigt, wird völlig außer Acht gelassen, dass genau diese Auffassung zum Rumpelfußballdesaster von 2000 führte. Indem der deutsche Fußball den schlechten Spielstil mit Erfolgen rechtfertigte,"
-unter erich ribbeck gabs erfolge?
-als trainer zur damaligen zeit eine sehr schlechte lösung.
" Nach der EURO 2000 hat Dtl. einen neuen Weg eingeschlagen; einschlagen müssen. Und Löw hatte seit 2004 entscheidenden Anteil daran. "
-hat löw etwa die ganzen spieler hervorgebracht? nein, er profitiert davon.
"Die Kritiker Löws vergessen, dass wir auch mit Rumpelfussball noch kein Spiel gegen Italien gewonnen haben, bei einem Turnier."
-zu dumm, dass das 54, 72, 74, 80, 90 und 96 keinem gestört hat.
"Die Athletik hat sich stark verbessert." - Und sonst nichts?!
Habe ich gesagt, dass es unter Ribbeck Erfolge gab? Davon mal abgesehen: Wenn du sagst, Löw profitiert von den gut ausgebildeten Spielern, musst du gegenüber Ribbeck fair sein und sagen, dass er damals nur auf schlecht ausgebildete Spieler zurückgreifen konnte. Aus diesen Leuten hätten auch Tuchel, Klopp, Mourinho oder Pep keine Weltklasseelf geformt.
Joachim Löw hat unter Klinsmann das ballorientierte Verteidigen derart in die A-Nationalelf gebracht, dass wir taktisch endlich mit der internationalen Spitze mithalten konnten. Er hat ein festes Konzept integriert und dieses stetig weiterentwickelt. Ohne ihn wäre die WM 2010 niemals so gut gelaufen; vor allem spielerisch. Er hat in der Nachwuchsarbeit den Fokus auf eine fundierte Ausbildung gelegt und war somit zusammen mit Sammer nicht ganz unschuldig an den Erfolgen der U-Teams von 2008-09.
Niemand sagt, dass Löw all die Spieler hervorgebracht hat. Das waren/sind die Jugendtrainer (Tuchel, Streich). Sie bilden die Spieler hervorragend aus und Löw profitiert davon. Dabei wird aber unterschätzt, dass er ihnen überhaupt die Chance gibt, in der Nationalmannschaft zu spielen. Frag mal die Iren, wie Trapp das handhabt.
Löw gibt ganz klar vor, was er in der A-N11 erwartet. Und diese Vorgaben entsprechen den momentanen Anforderungen des internationalen Spitzenfußball (siehe: niemals schlechter als Platz 3 bei EM und WM). Es ist leicht, jemanden zu kritisieren, wenn er keine Titel gewinnt. Aber Löws Leistungen sind sehr wertvoll gewesen; selbst dann, wenn der DFB mit ihm keinen Titel gewinnen sollte. Er hat schon jetzt sehr viel positives hinterlassen.
Und ja, das Pressing in seiner Idee war bereits erfunden, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Deutschland es 1990 nicht praktiziert hat. Vor allem nicht in der von uns heute bekannten Form.
Tja, und Kohler mag vielleicht einer der besten Verteidiger seiner Zeit gewesen sein, aber das spricht dann eindeutig nicht für seine Altersgenossen...
Der hätte heute wirklich Probleme für seine Fähigkeiten Geld zu bekommen (überspitzt formuliert), na obwohl, in der heutigen österreichischen Verteidigung könnte er noch eine erhebliche Qualitätssteigerung bedeuten.
Was ich aber vor allem bemerkenswert finde, ist, dass viele Spieler wohl keine Chance mehr in der heutigen Elf hätten, aber ein Matthäus in der damaligen Form (Dynamik und technische Fähigkeiten!) könnten wir trotz des quasi Überangebots an guten Mittelfeldspieler sehr gut gebrauchen. Man stelle sich den mal statt Khedira vor.
- ich bin mit vielen Einwänden in den Kommentaren einverstanden, aber die wichtigste Regeländerung wurde dennoch nicht erwähnt: die Rückpassregel wurde von der FIFA 1992 installiert. Sie hat den Fussball revolutioniert, und das heutige Pressing erst möglich gemacht.
Der bespielbare Raum ist mitnichten größer geworden. Im Gegenteil. Die Regeln waren damals derart gestaltet, dass ein Pressing kaum möglich war, weil man einfach zum TW zurückspielen konnte, der dann den Ball in die Hände nahm. Das bedeutet kaum Gegnerdruck im eigenen Aufbauspiel. Daraus ist zu folgern, dass man insgesamt mehr Platz zum spielen hatte, als das ab 1992 der Fall ist. Lies mal Der Ball ist rund, … von Ch. Biermann. Da zitiert er aus der Zeitschrift Fußballtraining zur EM 1996: "Die Spielräume um den Ball wurden schnell eng gemacht, der Spielraum in die Tiefe durch gekonntes Spiel auf Abseits derart verkürzt, dass sich die meisten Aktionen im Mittelfeld (…) in einem Raum von oft nur 30m Tiefe abspielen konnten." Diese Eindrücke haben sich seitdem weiter verstärkt. Der Raum wird immer enger, die Intensität steigt stetig an und dennoch gibt es mehr Pässe und Zweikämpfe als früher.
Um auf deine Frage zum Abschneiden der heutigen N11 zu antworten, verweise ich einfach auf Flattermann.
Das war vor mehr als 20 Jahren noch ganz anders, als Tempo, Strategie und Taktik noch auf einem überschaubaren Niveau waren. Heißt im Ergebnis: heute wird besser verteidigt unter wesentlich schwierigeren Bedingungen.
Von denjenigen, die sagen, früher wurde besser verteidigt, wird völlig außer Acht gelassen, dass genau diese Auffassung zum Rumpelfußballdesaster von 2000 führte. Indem der deutsche Fußball den schlechten Spielstil mit Erfolgen rechtfertigte, wurde jede Innovation schon verhindert, bevor sie überhaupt versucht wurde.
Frankreich und Spanien arbeiteten währenddessen an neuen Wegen. Die Erfolge waren für sie zu jener Zeit nicht vorhanden, aber die Früchte dieser Arbeit konnten sie später ernten; Frankreich zur Jahrtausendwende, Spanien seit 2008. Nach der EURO 2000 hat Dtl. einen neuen Weg eingeschlagen; einschlagen müssen. Und Löw hatte seit 2004 entscheidenden Anteil daran.