„Verdammt, Kevin. Warum warst du am 11. Oktober 2008 so dumm? Ich könnte dir in den Hintern treten. Und mir gleich dazu."

Ob Bundestrainer Jogi Löw jeden Tag mit diesem Gedankengang aufwacht? Es würde mich nicht wundern.

Kuranyi befindet sich wenige Monate vor der WM in Südafrika in der Form seines Lebens. Trifft und trifft und trifft – im Gegensatz zu unseren anderen Nationalstürmern übrigens. Wäre da nicht dieser vermaledeite 11.10.08, Kuranyi wäre gesetzt. Hundertprozentig.

Doch die Realität sieht anders aus. Nach seiner eigenmächtigen Flucht aus dem Stadion beim WM-Quali-Spiel gegen Russland hatte Löw den Schalker für immer aus der Nationalelf verbannt. Ein Exempel statuieren nennt man so etwas wohl. Kein Bitten und Betteln seitens der Fans, keine Entschuldigung des Geächteten, kein hartnäckiges Nachfragen der Journalisten konnten Löw bislang umstimmen. Im Gegenteil. Darauf angesprochen wiederholte der Bundestrainer immer wieder aufs Neue: „Für Kevin ist die Tür zu." Punkt. Aus.

Aber ist es für Löw nicht an der Zeit, dem Land zuliebe zurückzurudern? Zugegeben, der Schatten, über den er springen müsste, könnte größer kaum sein. Doch der Druck auf Löw wächst mit jedem einzelnen Treffer.

Selbst unter den Bundesliga-Trainern werden immer mehr Stimmen laut, Kuranyi müsse mit nach Südafrika. Bei Felix Magath ist das kein Wunder, ist er doch Kuraynis Coach. „Als Trainer muss man ab und zu Entscheidungen wieder zurücknehmen und verändern. Es geht dann immer darum, wie die Mannschaft am besten spielen kann. Dem hat sich der Trainer unterzuordnen", sagte Magath im DSF-Doppelpass. Doch er hat Recht – auch wenn ihm sicherlich die nötige Objektivität fehlt.

Noch mehr zum Nachdenken dürfte Löw jedoch eine Äußerung des Leverkusen-Trainers Jupp Heynckes bringen. "Er ist ein sehr guter Spieler, der in dieser Saison sehr stabil spielt, normalerweise ein Nationalspieler. Ich denke, dass es Jogi Löw vielleicht nochmal überdenkt, denn so reichlich bestückt sind wir vorne auch nicht, wenn man sieht, wie andere Nationalspieler momentan spielen." Wohl gemerkt: Heynckes plädiert für Kuranyi, obwohl er weiß, dass dadurch die Einsatz-Chancen seines Schützlings Stefan Kießling, enorm sinken würden.
Laut Magatht soll es ja zu einem "zufälligen" Treffen zwischen Löw und Kuranyi gekommen sein. Man habe sich ausgetauscht. Ob eine mögliche Rückkehr tatsächlich besprochen wurde?

Was würde passieren, wenn Löw mir nichts dir nichts plötzlich doch noch umkippt? Wäre es eine große menschliche Geste, eine scheinbar in Zement gemeißelte Entscheidung zu revidieren und somit das Wohl der Mannschaft über eigene Eitelkeiten zu stellen. Oder würde Löw innerhalb des Teams an Glaubwürdigkeit und Autorität verlieren und damit die Institution des Bundestrainers zu einem ungünstigen Zeitpunkt schwächen? Wäre es ein Freibrief für alle Nationalspieler, sich hier und da mal gewaltig daneben zu benehmen, in der Annahme, Löw sei ja sowieso nicht standhaft? Wäre dem Chaos und der Anarchie im DFB-Team Tür und Tor geöffnet?

Ich möchte und kann diese Fragen nicht beantworten. Ich bin froh, dass ich nicht in Löws Haut stecke. Als Fan würde ich mich über eine Rückkehr Kuranyis freuen, zumal er den Eindruck erweckt, auch menschlich gereift sein und seine Lektion gelernt zu haben. Doch ob Löw bereit ist, seine Machtstellung zugunsten irgendeines aufmüpfigen Fußballers zu opfern, halte ich doch für sehr, sehr fraglich.