Der Countdown zu den Olympischen Spielen in London läuft. Am 27. Juli startet die Jagd auf Goldmedaillen. Zahlreiche Sportler sind auf dieser Jagd zu Legenden geworden, weil ihr Weg zu Gold besonders spektakulär, dramatisch oder kurios war. SPOX blickt in den kommenden Wochen auf die aus sportlicher Sicht zehn größten Momente der Olympia-Geschichte zurück. Teil 2: Die Jahrhundert-Sprints von Ben Johnson und Florence Griffith-Joyner 1988.
Seoul, 24. September 1988. Olympisches Finale über 100 Meter der Männer. Ben Johnson gegen Carl Lewis. Intimfeind gegen Intimfeind. Das Rennen des Jahrhunderts. Startschuss, Johnson explodiert wie immer, er hat Vorsprung, Lewis müsste nach 50 Metern kommen, aber er kommt nicht. Johnson blickt zur Seite, der Vorsprung ist riesig. Er reißt den Arm hoch - Sieg! Weltrekord! 9,79 Sekunden!
So schnell ist noch nie ein Mensch außer Johnson gelaufen. Nicht einmal annähernd. Lewis holt in Seoul Silber in 9,92 Sekunden - das ist die beste Zeit, die ein Mensch jemals erreicht hat, der nicht Ben Johnson heißt.
Zu dem Zeitpunkt ist diese Zeit für Lewis einen Dreck wert, denn er ist nur Zweiter, ausgerechnet von dem Mann geschlagen, der ihn schon ein Jahr zuvor bei der WM gedemütigt hat, ihn, den großen Carl Lewis - so das Selbstverständnis des als arrogant verschrienen neunfachen Olympiasiegers.
Johnson nimmt "diese Pillen vom Bodybuilding"
Zwei Tage später sind diese 9,92 Sekunden plötzlich Gold wert, kurz nach den Spielen sogar Weltrekord. Denn Ben Johnson war gedopt. Aus dem Rennen des Jahrhunderts wird der Dopingskandal des Jahrhunderts. Der erste große Sündenfall.
Er nehme "diese Pillen vom Bodybuilding", sagte Johnson kurz vor den Spielen noch naiv in einem ZDF-Interview. Keinem kam das verdächtig vor - es war eine unschuldige Doping-Zeit. Stanozolol hieß das anabole Steroid, das man damals in hoher Konzentration in Johnsons Urin fand. Ein Muskelaufbau-Präparat, passend zur innerhalb kurzer Zeit rasant angewachsenen Muskelmasse des Kanadiers.
Seit 1981 habe er regelmäßig gedopt, gestand Johnson wenig später ein, was ihn auch noch seinen WM-Titel 1987 und den dabei erzielten Weltrekord von 9,83 Sekunden kostete. Allerdings nicht mit Stanozolol, das beteuert er heute noch. Deshalb hält der mittlerweile 51-Jährige auch bis zum heutigen Tag die Behauptung aufrecht, er sei damals in Seoul betrogen, ihm das Steroid ins Bier gekippt worden. Belegen kann er das freilich nicht.
"Ist jemand gestorben? Schlimmer."
Ist auch für das Gesamtbild egal, denn gedopt hatte er auf jeden Fall. So wie viele seiner Gegner in diesem legendären olympischen Finale übrigens auch. Mit dem Amerikaner Dennis Mitchell und dem Briten Linford Christie wurden zwei seiner Gegner direkt des Dopings überführt.
"Als das Gerücht aufkam, dass ein sehr wichtiger Athlet aus diesem Finale positiv getestet sei, wollten die Briten eine Pressekonferenz einberufen, um zuzugeben, dass es Linford Christie war", erinnerte sich einst der ehemalige Chef der Welt-Antidoping-Agentur WADA, Richard Pound, an die kuriosen Umstände der Enthüllung.
Der damalige IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch sei laut einem Artikel des "Tagesspiegel" auf ihn zugekommen und habe gesagt: "Hast du gehört? Es ist furchtbar." Pound erwiderte: "Ist jemand gestorben?" Daraufhin Samaranch: "Schlimmer. Ben Johnson ist positiv getestet."
Lewis hätte nicht starten dürfen
Lewis übrigens auch. Wie erst später herauskam, hätte er in Seoul gar nicht starten dürfen, weil er schon im Vorfeld positiv getestet worden war. Der US-Verband, der damals überhaupt nichts vom Antidoping-Kampf hielt, ließ ihn trotzdem starten.
Die Tatsache, dass alle drei Medaillengewinner nachweislich gedopt waren, macht das Sprintfinale von Seoul, das im ersten Moment im positiven Sinne legendär war, zur legendärsten Schande der Olympia-Geschichte.
Johnson trainiert Maradona und Gaddafi
Während aber Lewis heute noch als Sportlegende gefeiert wird, kam "Bauernopfer" Johnson, so sieht er sich selbst, nie wieder auf die Füße. Ein Comeback-Versuch 1991 scheiterte zunächst an mangelnder Leistung. 1993 wurde er erneut positiv getestet und als Wiederholungstäter lebenslang gesperrt.
In den folgenden Jahren machte er in unterschiedlichsten Rollen Schlagzeilen. Er bestritt Charity-Rennen gegen Autos und Pferde, spielte American Football und arbeitete als Fitnesscoach für Diego Armando Maradona und den Sohn von Libyens Ex-Machthaber Muammar al Gaddafi, Al-Saadi.
Teil 2 der Sprinterstory: Florence Griffith Joyner
Teil 2 der großen olympischen Sprinterstory von Seoul ist tot. War Ben Johnson vor seinem positiven Doping-Befund der Mann der Spiele, dann war sie die Frau: Florence Griffith-Joyner. Die bis heute mit Abstand schnellste Sprinterin der Welt starb 1998 an einem epileptischen Anfall. Sie wurde gerade mal 38 Jahre alt.
10,49 Sekunden und 21,34 Sekunden. Diese beiden Fabelzeiten stehen seit nunmehr 24 Jahren wie in Stein gemeißelt. Es sind die Weltrekorde von Griffith-Joyner über 100 und 200 Meter. Keine Frau hat diese Marken seitdem auch nur annähernd erreicht, nicht einmal die nachweislich gedopte Marion Jones.
Glamour-Girl mit ellenlangen Fingernägeln
Griffith-Joyner war eine der schillerndsten Figuren der Leichtathletik-Geschichte, ein echtes Glamour-Girl. Attraktiv, immer stark geschminkt, immer mit langen wallenden Locken, immer mit schriller Kleidung - und immer mit diesen ellenlangen und kunterbunten Fingernägeln.
Man wunderte sich, wie sie es schaffte, beim Start nicht mit diesen Nägeln hängen zu bleiben, oder wie sie es bei Staffeln schaffte, den Stab zu halten. Aber sie konnte es. Und sprinten konnte sie sowieso besser als alle anderen. Viel besser.
Bis heute nie erreichte Fabelzeiten
Sie gewann die 100 Meter in Seoul in 10,54 Sekunden, 0,39 Sekunden vor der Zweiten Evelyn Ashford. Den Weltrekord war sie mutmaßlich bei zu viel Rückenwind bei den US-Trials gelaufen. Da die Windanzeige aber 0,0 m/s Rückenwind anzeigte, gilt der Rekord noch heute.
Den 200-m-Weltrekord knackte "Flo-Jo", so lautete ihr Spitzname, dann in Seoul. 21,34 Sekunden bedeuteten 0,38 Sekunden Vorsprung auf die Zweite Grace Jackson. Zudem gewann sie Gold über 4x100 Meter und Silber über 4x400 Meter.
Die USA feierten ihren großen Star und tun das zu einem großen Teil auch noch heute. Anlässlich ihrer Beerdigung sagte der damalige Präsident Bill Clinton über Griffith-Joyner: "Wir waren betört von ihrer Geschwindigkeit, eingenommen von ihrem gesegneten Talent und gefangen von ihrem Stil."
Doping: Nie bewiesen, aber höchstwahrscheinlich
Dabei bestehen heute erhebliche Zweifel daran, dass sie nicht auch gedopt hatte. Ihre Trainingspartnerin Lorna Booth erklärte nach ihren Tod: "1987 habe ich eine Krankenschwester getroffen, die in einem kalifornischen Hospital arbeitete und mir bestätigte, dass Flo-Jo regelmäßig mit anabolen Steroiden und mit Testosteron behandelt wurde."
Auch wenn sie niemals offiziell positiv getestet wurde, musste man schon ein gehöriges Maß an der damals üblichen Betriebsblindheit an den Tag legen, um "Flo-Jos" Leistungen ohne flaues Gefühl im Magen zu bestaunen.
Sie hatte 1988 von einem Jahr auf das andere wesentlich an Muskelmasse zugelegt und ihre Bestzeiten, die davor jahrelang konstant gewesen waren, auf einen Schlag um 0,47 (100 Meter) und 0,62 (200 Meter) Sekunden verbessert.
Damit würde heute niemand mehr durchkommen, ohne sich unzählige eindeutige Fragen nach Doping anhören zu müssen.
Fluch und Segen für die Leichtathletik
So sind die legendären Rennen von Ben Johnson und Florence Griffith-Joyner für die Leichtathletik Fluch und Segen zugleich. Auf der einen Seite brachten sie das Thema Doping auf die Weltbühne und sorgten dafür, dass endlich entschlossener kontrolliert wurde.
Das auf der anderen Seite entstandene Dilemma in heutiger Zeit, wenn man zum Beispiel einen Usain Bolt Weltrekord laufen sieht, beschreibt Richard Pound treffend: "Jedes Mal, wenn du eine bemerkenswerte Leistung siehst, fragst du dich: Ist die echt?"