Wenn der VfB Stuttgart am 15. Dezember einen neuen Präsidenten wählt, könnte sich der Verein einer bemerkenswerten Transformation unterziehen. Ein Fanaktivist könnte die Nachfolge des nach der turbulenten letzten Mitgliederversammlung zurückgetretenen Wolfgang Dietrich antreten. Claus Vogt, Unternehmer und als Gründer des FCPlayFair! ein vehementer Kritiker der Überkommerzialisierung im Fußball, spricht im Interview mit SPOX und Goal über seine Kandidatur, verloren gegangene Identität und die Zukunftschancen des VfB.
Außerdem erklärt der 50-Jährige, wer sein persönliches VfB-Idol ist und warum er sich gerne auf einen einzigen Satz reduzieren lässt.
Herr Vogt, was ist Ihre größte Leidenschaft neben dem Fußball und dem VfB Stuttgart?
Claus Vogt: Menschen kennenzulernen. Wir leben in einer digitalisierten Welt, aber ganz zum Schluss kommt es immer darauf an, dass sich Menschen gegenseitig Vertrauen schenken. Egal, ob mit oder ohne Vertrag. Ich erzähle Ihnen eine kleine Anekdote.
Gerne.
Vogt: Ich war mal in einem Assessment Center. Ich war eine Woche da und am Ende kam eine Dame zu mir und meinte: Herr Vogt, Sie kann man auf einen Satz reduzieren. Ich war zunächst etwas enttäuscht und dachte mir: Was für eine Frechheit, mich auf einen Satz reduzieren zu wollen. (lacht) Aber dann meinte sie: Herr Vogt, für Sie gibt es keine Fremden, nur Freunde, die Sie noch nicht kennen. Ich muss sagen, auf diesen Satz lasse ich mich gerne reduzieren.
Welche Persönlichkeit würden Sie denn gerne mal kennenlernen?
Vogt: Ich hätte sehr gerne einmal Nelson Mandela getroffen. Er hat mich immer sehr fasziniert. Ich bin mir sicher, dass es eine spannende und für mich sehr befruchtende Unterhaltung geworden wäre. Nelson Mandela ist eine berühmte Persönlichkeit, ich liebe aber auch die kleinen Begegnungen im Alltag. Vor kurzem wurde ich an der Tankstelle von einem Mann angesprochen. Er meinte zu mir: "Ich drücke Ihnen die Daumen für die Präsidentschaftswahl. Endlich einer von uns." Das war ein schöner Moment, der mir sehr viel bedeutet hat.
Die Fan-Nähe ist sowohl bei Ihnen als auch bei Ihrem Konkurrenten Christian Riethmüller sehr groß. Ein Zeichen dafür ist auch, dass Sie zu Gast sein werden beim Fan-Podcast-Projekt der VfB-Viererkette.
Vogt: Ich bin ein großer Podcast-Fan und freue mich schon riesig darauf. Ich höre mir auch querbeet alle VfB-Podcasts an.
imago imagesClaus Vogt über die Probleme des VfB Stuttgart
Der VfB wird ab Mitte Dezember wohl einen Präsidenten und mit Thomas Hitzlsperger einen Vorstandsvorsitzenden haben, die sich beide auf Twitter mit den Fans austauschen. Das dürfte einmalig sein.
Vogt: Ich weiß nicht, ob es einmalig ist. Ich weiß nur, dass es wichtig ist, da mir die Meinung der Fans, der Blogger auf Twitter rund um den VfB sehr wichtig ist. Der VfB muss einen Präsidenten bekommen, der es schafft, den VfB zu einer großen Familie zu machen. Der VfB muss wieder ein Verein sein, bei dem man gerne dazugehört. Ich wünsche mir, dass die Fans traurig sind, wenn sie ein Spiel des VfB verpassen. Und ich wünsche mir, dass der VfB einen Präsidenten zum Anfassen bekommt. Einen Präsidenten, der im Hintergrund steht und Werte wie Ruhe, Verlässlichkeit, Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit verkörpert. Der aber nie im Mittelpunkt stehen will, im Mittelpunkt steht der VfB.
Was war denn aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahren das Problem des VfB?
Vogt: Ich glaube, dass nach der Ausgliederung einiges nicht richtig gelaufen ist. Die AG hat sich vom Verein entkoppelt, viele Mitglieder haben seither ein Gefühl der Spaltung. Dabei ist der Verein mit 70.000 Mitgliedern und 88 Prozent Anteilen an der AG der größte und wichtigste Anker-Investor. Das meine ich wirklich so. Daimler ist ein wichtiger strategischer Investor und versteht sich auch so. Unabhängig von AG, Vereinsorganen, Spielern, Mitgliedern oder Fans - die Kunst wird es sein, den VfB insgesamt wieder zusammenzubringen. Da ist jeder gefordert, da muss jeder seine Bereitschaft einbringen.
Thomas Hitzlsperger genießt extremes Vertrauen bei den Fans. Wie gut kennen Sie sich?
Vogt: Ich habe Thomas vor einigen Jahren im Rahmen des deutschen Fußballbotschafters kennengelernt. Ich schätze ihn sehr, für seine Fachkompetenz, aber vor allem als Menschen. Der VfB darf sich glücklich schätzen, dass er da ist. Sollte ich Präsident werden, werde ich alles dafür tun, um ihm bestmöglich den Rücken zu stärken und dafür zu sorgen, dass er möglichst lange hier ist.
Claus Vogt über sportliche Ziele und die VfB-Fans
Hitzlsperger hat kürzlich eine Art Realitätscheck gefordert. Einerseits ist es zwar für VfB-Fans gefühlt ewig her, dass der Verein regelmäßig international gespielt hat, auf der anderen Seite lauteten die Abschlussplatzierungen zwischen 2003 und 2012: 2, 4, 5, 9, 1, 6, 3, 6, 12, 6. Es scheint offensichtlich extrem schwer zu sein, sich in Stuttgart vom alten Anspruchsdenken zu verabschieden, oder?
Vogt: Das ist ein ganz zentraler Punkt, da stimme ich Ihnen absolut zu. Eine der wichtigsten Aufgaben des neuen Präsidenten wird es sein, die Erwartungshaltung zu managen. In der Vergangenheit wurde da nicht immer ein guter Job gemacht. Die Ansprüche waren zu hoch, der VfB konnte ihnen nicht gerecht werden, dementsprechend groß war dann auch die Enttäuschung und der Frust. Ich wünsche mir wie jeder andere VfB-Fan auch, dass wir in dieser Saison aufsteigen, dass wir uns dann in der Bundesliga halten und dann mal wieder dauerhaft eine gute Rolle spielen. Und dazu noch einen möglichst schönen Fußball bieten. Aber das wird nicht von heute auf morgen gehen. Das müssen wir uns jeden Tag hart erarbeiten.
Viele Fans wären glücklich, wenn der VfB aufsteigt und im nächsten Jahr eine an Langeweile nicht zu überbietende Saison spielt und Zwölfter wird. Cem Özdemir hat im SPOX-Interview nicht umsonst mehr schwäbisches Understatement gefordert.
Vogt: Cem spricht mir aus dem Herzen. Ein wenig Demut tut uns gut. Deshalb dürfen wir auch aktuell nicht alles infrage stellen, auch wenn es mal eine sportlich so schlechte Phase gibt wie zuletzt. Ich bin von der sportlichen Führung des VfB überzeugt, wir müssen ihr jetzt Rückendeckung geben und sie einfach konzentriert arbeiten lassen.
Dass es für den VfB schwer sein wird, noch einmal dahin zu kommen, wo er früher war, liegt auch daran, dass andere Vereine finanziell enteilt sind. Wie stehen Sie in dem Zusammenhang zur Verteilung der TV-Gelder?
Vogt: Ich bin weiterhin der Meinung, dass sich die Verteilung der TV-Gelder verändern muss. Die aktuelle Verteilung ist nicht gerecht und sorgt dafür, dass immer die gleichen Vereine an der Spitze stehen. Das ist kein spannender Wettbewerb und daran kann auch die DFL kein Interesse haben. Und wenn ich höre, dass unsere Top-Klubs die Einnahmen brauchen, um international mitzuhalten, dann frage ich mich, warum dann nicht jedes Jahr ein Premier-League-Team die Champions League gewinnt. Es ist in meinen Augen kein zulässiges Argument.
Der VfB hat in der 2. Liga einen Schnitt von über 50.000 Zuschauern, es gab gleich zum Auftakt einen Gänsehaut-Moment, als das Stadion den jungen Maxime Awoudja nach seiner Gelb-Roten-Karte gefeiert hat. Es gibt aber auch nach wie vor Pfiffe von der Haupt- und Gegentribüne, wenn es ein VfB-Spieler wagt, einen Rückpass zum Torwart zu spielen, auch wenn es zum Spielstil von Tim Walter gehört. Ist das einfach typisch VfB?
Vogt: (lacht) Vielleicht liegt das Bruddeln in den schwäbischen Wurzeln, ich weiß es nicht. Ich hatte mir fest vorgenommen, das Wort Champions League in diesem Interview nicht in den Mund zu nehmen, aber jetzt mache ich es schon zum zweiten Mal. Wenn beim VfB etwas Champions-League-Format hat, dann sind es unsere Fans. Der VfB ist ein großer Verein, der uns alle unglaublich emotionalisiert. Ich bin jemand, der genauso gerne mit seinem Sohn in der Fan-Kurve steht als mit Geschäftspartnern im Business-Bereich. Ich mag beides gleich gerne. Und wenn die Leute pfeifen, dann ist das auch nur ein Spiegelbild der Gesellschaft. Es ist ein Ventil für sie, es ist auch ihr demokratisches Recht, sich dann so zu äußern. Wir als Verein müssen diese Pfiffe ertragen.
Durch den FCPlayFair! e.V., einen Verein für Integrität im Profifußball, ist Ihre Fan-Nähe schon seit Jahren dokumentiert. 2018 haben Sie im SPOX-Interview gesagt, dass die Fans merken, wenn Sie ausgepresst werden wie eine Zitrone und dass dies endlich sei. Ist es das wirklich? Manchmal hat man den Eindruck, der Fan macht für seinen geliebten Fußball nahezu alles mit.
Vogt: Wenn man in Stuttgart ins Stadion geht, bekommt man nicht das Gefühl, dass es endlich ist. Da stimme ich zu. Aber schauen wir uns doch mal jetzt wieder die traurigen Zuschauerzahlen der Länderspiele an. Ich weiß auch, dass die Warteliste auf Tickets bei den Bayern zum Beispiel nicht mehr so lang ist, wie sie es schon war. Der Fan merkt sehr gut, ob er als Fan angesehen, oder dann doch nur als Konsument wahrgenommen wird. Der FCPlayFair! hat erst vor ein paar Wochen erneut den Antrag eingereicht, dass die Fußball-Fankultur immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe werden soll. Der Verein bleibt da beharrlich am Ball, weil wir davon überzeugt sind, dass unsere Fußball-Fankultur ein schützenswertes Gut ist. Es wäre ein wichtiges Zeichen, wenn der Antrag diesmal durchgeht.
Sie haben gerade den DFB erwähnt. Das neue DFB-Trikot kostet schlappe 130 Euro.
Vogt: Die Frage ist da natürlich immer, wer die Schuld trägt. Derjenige, der es verlangt. Oder derjenige, der es bezahlt. Um es an dieser Stelle nochmal zu betonen: Ich bin nicht grundsätzlich gegen Kommerzialisierung, das wäre für mich als Unternehmer ja auch hanebüchen. Ich bin gegen eine Überkommerzialisierung, die Geld über den Sport stellt. Wenn man den Bogen überspannt und die Fans unterschätzt, geht es einem wie der Nationalmannschaft, dann laufen selbst einem viermaligen Weltmeister die Fans weg. Und wenn das der Nationalmannschaft passieren kann, müssen auch alle Vereine sehr aufpassen.
imago images"Es tut sehr weh, Timo Baumgartl in Eindhoven zu sehen"
Sie haben mit dem FCPlayFair! im Zuge der Gespräche mit der DFL auch eine Bachelorarbeit geschrieben, wie man einen Fanvertreter in einem Profiverein integrieren kann. Was war das Ergebnis?
Vogt: Als wir bei unserem Termin mit der DFL über bestimmte Lizenzauflagen diskutierten, wurde uns gesagt, dass ein demokratisch gewählter Fanvertreter in einem Vereinsorgan aus diesen und jenen Gründen nicht möglich wäre. Das hat unseren Ehrgeiz geweckt, also haben wir uns das mal genauer angeschaut. Mit dem Ergebnis, dass es bei 35 von 36 Pofivereinen sehr wohl möglich ist. Nur ein Verein hat seine Satzung so konstruiert dass es tatsächlich ausgeschlossen ist: Der FC Bayern.
Der VfB hat mit Dr. Bertram Sugg seit 2017 einen Fanvertreter im Aufsichtsrat. Reicht das?
Vogt: Wir können schon stolz darauf sein, aber nein, mir reicht das noch nicht. Ich würde mir wünschen, dass wir es schaffen, ähnlich wie bei Mainz 05 eine richtige Fanabteilung zu installieren, in der sich unsere Mitglieder noch mehr engagieren und frische Ideen einbringen können. Der e.V. und die AG kommen dadurch mehr zusammen.
Fans wünschen sich natürlich vor allem auch Identifikation. Sie kennen Timo Baumgartl sehr gut. Wie weh tut es Ihnen, wenn Sie ihn jetzt im Eindhoven-Trikot sehen?
Vogt: Es tut sehr weh, Timo in Eindhoven zu sehen. Timo ist ein super Typ, er war einer der letzten jungen Identifikationsfiguren, aber wir haben ihn verloren. Genauso wie wir Timo Werner oder Serge Gnabry verloren haben. Diese Liste ließe sich ja unendlich fortsetzen. Umso wichtiger ist es, dass wir es schaffen, unser Nachwuchsleistungszentrum wieder zum besten in Baden-Württemberg zu machen. Die besten Talente muss es zum VfB ziehen, nicht nach Hoffenheim oder Freiburg. Und wir müssen diesen Jungs dann auch im Profikader eine Perspektive geben. Ich glaube schon, dass unsere Spieler am Sonntag gemerkt haben, was das Spiel gegen den KSC für alle VfB'ler bedeutet. Aber ich würde mir natürlich wünschen, dass wir mehr Spieler auf dem Platz haben, die bei uns verwurzelt sind. Bei denen kein argentinischer Spielerberater auf der Tribüne sitzt, sondern die Familie, die Freunde, der Nachbar. So entsteht auch wieder mehr Identifikation. Wir brauchen Jungs, die für den VfB brennen, Fans haben ein sehr feines Gespür dafür.
Claus Vogt über VfB-Idole und seine eigene Fußballerkarriere
Ein weiteres ungelöstes Problem beim VfB ist die fehlende Integration der Legenden. Stichwort: Guido Buchwald oder Jürgen Klinsmann. Wie wollen Sie das angehen?
Vogt: Ich werde das angehen, keine Frage. Es ist schade, dass der VfB vielen wichtigen Spielern aus der Vergangenheit nicht genügend Wertschätzung entgegengebracht hat. Die Folge war, dass sich diese Legenden enttäuscht abgewendet haben. Wenn ich zum Beispiel auch sehe, dass ein Giovane Elber Botschafter des FC Bayern ist, dann frage ich mich: Warum ist Giovane Elber kein VfB-Botschafter? Warum laden wir unsere Legenden nicht viel mehr zu Spielen ein? Hier müssen wir definitiv handeln und alle zurück ins Boot holen.
Wer ist denn Ihr persönlicher VfB-Held?
Vogt: Mein erstes Trikot war von Asgeir Sigurvinsson, die Nummer 10. Er war mein Idol. Auch er ist übrigens jemand, den wir als Botschafter einbinden müssten.
Woran ist Ihre Fußballerkarriere eigentlich gescheitert? Sie waren ja mal Stürmer. Am fehlenden Talent?
Vogt: (lacht) Das muss ich entschieden zurückweisen. Ich hatte nur schlechte Trainer und Mitspieler - und dann habe ich auch noch Verletzungsprobleme bekommen. Im Ernst: Für mich war Fußball alles in der Kindheit. Für meinen Bruder und mich gab es nichts anderes. Heute muss man die Kinder ja vom Handy weg nach draußen zerren, bei uns war es noch so, dass einen die Eltern im Dunkeln von irgendeinem Bolzplatz nach Hause pfeifen mussten. Und schön war's.
Claus Vogt: "Ich rede nicht nur über Werte, ich setze mich für sie ein"
Zum Abschluss: Angenommen Sie werden VfB-Präsident und bleiben es auch einige Jahre. Was muss in diesen Jahren passieren, damit Sie mit Ihrer Amtszeit zufrieden sind?
Vogt: Der VfB muss dauerhaft eine gute Rolle in der Bundesliga spielen und für attraktiven Fußball stehen. Die jetzt handelnden Personen sollten immer noch im Amt sein. Und der VfB muss insgesamt ein Verein geworden sein, der alle mitnimmt und sein Bild nach außen zum Positiven verändert hat.
Ihr Gegenkandidat Christian Riethmüller will sicher Ähnliches. Ein Diskussionspunkt ist daher etwas die fehlende Unterscheidbarkeit zwischen den Kandidaten. Wo unterscheiden Sie sich denn Ihrer Meinung nach?
Vogt: Ich kann nur über mich sprechen. Ich würde sagen, dass ich jemand bin, der seit Jahren nicht nur über Werte redet, sondern sich auch für sie einsetzt. Mit Zeit. Mit Energie. Mit Nerven. Mit Geld. Mit dem FCPlayfair! Ich hoffe, das macht mich ein Stück weit glaubwürdig. Ich bin ein Weiß-Roter in der vierten Generation. Ich bin sehr gut vernetzt, sei es beim DFB oder bei der DFL. Aber vielleicht das Wichtigste: Ich bin Familienmensch und Unternehmer. Eines von beiden würde nicht reichen, die Mischung ist entscheidend. Zuletzt hat jemand mal gesagt: Fritz Keller DFB-Präsident und Claus Vogt VfB-Präsident - das wäre ein guter Tag für den deutschen Fußball. Wenn ich so etwas höre, oder wenn meine Frau beim Bäcker zwei ältere Damen trifft, die tuscheln, dass ihr Mann jetzt vielleicht VfB-Präsident wird und das gut wäre für unseren Klub, dann macht mich das stolz. Es spornt mich an, mich mit allem, was ich habe, für den VfB einzusetzen.