Mainz 05: Der Container der Träume

Haruka Gruber
18. Juli 201123:49
Das Nachwuchsleistungszentrum des FSV: Von der Rückseite eher funktional denn imposantspox
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Der Mainz-Nachwuchs hat keinen Glamour und kaum Geld, dafür eine Anziehungskraft auf Talente, die die Big Player neidisch macht. Mittlerweile spielen über 15 Jugend-Nationalspieler für den FSV - und mit Shawn Parker steht das nächste Juwel bereit. Aber was ist das Geheimnis? SPOX schaute sich um.

Sie hat den Charme einer Baustelle. Keine Glasfassaden, vielmehr dominieren Blech und Funktionalität. Die Container-Landschaft hinter dem Mainzer Bruchweg-Stadion ist, was sie ist: eine Container-Landschaft. Aber sie ist eben auch die Zukunft des Bundesligisten, der sich bei aller Bescheidenheit ein ambitioniertes Ziel gesetzt hat.

Der FSV Mainz 05 soll zu der "Adresse für Nachwuchsspieler bis 23 Jahre" werden, wie es Trainer Thomas Tuchel formuliert - und entscheidend für das Gelingen wird sein, ob in den Containern weiterhin so erfolgreich gearbeitet wird wie in den vergangenen Jahren.

Denn das ursprünglich als Provisorium gedachte Gebäude ist die Heimat des Mainzer Nachwuchsleistungszentrums, eines der besten Deutschlands und vom DFB mit der höchsten Kategorie von drei Sternen ausgezeichnet.

Thomas Tuchel im SPOX-Interview: "Ein absoluter Meilenstein"

Mainz überholt Hoffenheim und Frankfurt

"Nein, nein", sagt Volker Kersting und schüttelt den Kopf. Mit einem freundlichen Lächeln, aber auch mit Bestimmtheit sagt er: "Das ist doch ausgelutscht." Seine Mitarbeiter des Nachwuchsleitungszentrums sind anderer Meinung und hängten aus Jux, aber auch mit etwas Stolz im Container-Büro eine Zeitungsseite auf, die nur Kersting gewidmet ist: "Er ist der Tuchel-Entdecker."

Sie wissen, dass der Titel des Artikels stimmt, denn ohne Kerstings Gespür wäre Erfolgstrainer Tuchel wohl nie aus Augsburgs U 23 in Mainz gelandet, wo er als Coach der A-Jugend begann und wenig später das Profi-Team übernahm.

Sie wissen aber auch, dass Kersting davon nichts mehr hören will und sich lieber mit seinen anstehenden Aufgaben als Jugendkoordinator beschäftigt.

Gemeinsam mit dem sportlichen Leiter Stefan Hofmann verantwortet er die Jugendförderung des FSV und ist in Zusammenarbeit mit Tuchel und Manager Christian Heidel maßgeblich daran beteiligt, dass Mainz trotz überschaubarem Budget die finanzstärkeren Anrainerklubs aus Hoffenheim und Frankfurt überholt hat.

Die Talente wollen nach Mainz

"Beim Einsatz finanzieller Mittel liegen wir im unteren Bundesliga-Drittel. Dafür ist das Verhältnis herausgebrachter Talente und Juniorennationalspieler außerordentlich hoch", sagt Kersting, weswegen sich in diesem Sommer weitere Talente zu einem Wechsel nach Mainz entschlossen.

So kamen die Eltern der 17-jährigen Zwillinge Nico und Marcel Seegert (Hoffenheim) von sich aus wegen eines Transfers auf den FSV zu. Neu in Mainz sind auch der von Manchester United umworbene 14-jährige Patrick Pflücke (Dresden) sowie Florian Schmidt, 16 Jahre alt und vormals bei Werder Bremens Jugend die größte Sturmhoffnung.

Von der U 15 bis zur U 21 wurden in den letzten Monaten insgesamt 16 Mainzer in den DFB-Mannschaften berücksichtigt, hinzukommen Jared Jeffrey (U 20 der USA) und Jaineil Hoilett (U 20 Kanadas) sowie der nach Frankfurt verliehene deutsche U-21-Nationalspieler Stefan Bell.

"Insbesondere nach dem Gewinn der A-Junioren-Meisterschaft 2009 haben wir gemerkt, dass unter vielen jungen Talenten eine hohe Bereitschaft da ist, zu uns zu kommen", sagt Tuchel, damals als Trainer der Vater des Triumphs.

Start bei den 18- bis 23-Jährigen

Aber nicht nur Nachwuchskräfte, die sich die bestmögliche Ausbildung versprechen, entscheiden sich für Mainz. Der FSV genießt einen derart guten Ruf, dass er mittlerweile auch im Spielersegment zwischen 18 und 23 Jahren mit den Arrivierten konkurrieren kann.

Maxim Choupo-Moting (22, Hamburg), Zoltan Stieber (22, Aachen), Nicolai Müller (23, Fürth) und Deniz Yilmaz (23, FC Bayern II) gaben trotz zahlreicher Angebote dem FSV die Zusage, genau wie aus dem Ausland der österreichische Nationalspieler Julian Baumgartlinger (23) und der Nigerianer Anthony Ujah (20), der in Norwegen die Torschützenliste anführt. Sie sind allesamt Kandidaten für die Stammelf.

U-19-Nationalspieler Yunis Malli, 19-jähriger Neuzugang aus Mönchengladbach, wird schrittweise herangeführt.

Tuchel: Die gelebte Verzahnung

All die Neuzugänge sollen jedoch nicht den Blick verstellen: Dem FSV ist die Förderung des eigenen Nachwuchs und die Durchlässigkeit zu den Profis ein zentrales Anliegen. "In vielen Jahren als Jugendtrainer habe ich erleben müssen, dass die Verzahnung zwischen Profi- und Jugendabteilung leider oft nur auf dem Papier Bestand hatte", sagt Tuchel im SPOX-Interview.

"Deshalb ist es mein Anspruch, dass wir diese Verzahnung hier in Mainz leben, weil dies auch zur Philosophie des FSV gehört."

Entscheidend dafür ist die Zusammenarbeit mit Kersting, der als Jugendkoordinator im ständigen Austausch mit Tuchel und Heidel steht. Kersting: "Wenn Spieler wie Schürrle und Lewis Holtby den Verein verlassen, ist doch klar, dass der Verein etwas machen muss. Die Transfers stehen in keinem Widerspruch zu unserer Nachwuchspolitik."

Hier geht's zu Teil II: Die drei Säulen der Nachwuchsarbeit

In der kommenden Saison sollen die eigenen Talente den nächsten Schritt gehen. Allein zehn Jugendliche werden in die U 23 befördert, die in der Regionalliga spielt. Einer von ihnen ist U-19-Nationalspieler Shawn Parker, ein begnadeter Offensivspieler mit "herausragenden Qualitäten", wie Kersting sagt. Aber: "Er muss lernen, diese konstant abzurufen und sich 90 Minuten lang auch am Spiel gegen den Ball zu beteiligen."

Dass Kersting dies so explizit anspricht, verwundert nicht. Bei allem Talent: Jeder Spieler muss sich dem FSV und seinem Fußball-Dogma unterwerfen. Der sportliche Leiter Stefan Hofmann ist dafür zuständig, dass dieser von allen Spielern, aber auch von allen Jugendtrainern umgesetzt wird. Hofmann nennt es die "Mainzer Prinzipien".

Ausgehend von Wolfgang Franks Vision, der Mitte und Ende der 90er zweimal den FSV trainierte (Kersting: "Er war der Ursprung des professionellen Mainz 05"), über dessen Schützling Jürgen Klopp und nun Tuchel entwickelte sich ein Fußball-Verständnis, das sich mit einigen Schlagwörter zusammenfassen lässt: "Früh nach vorne verteidigen, aktiv sein, Flachpassspiel, Direktspiel", sagt Hofmann.

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Die drei Säulen der Nachwuchsarbeit

Daher wird den Jugendtrainern ein Katalog an Übungen an die Hand gegeben, um genau das trainieren zu lassen. So mache es wenig Sinn, Elf- oder Zwölfjährige mannschaftstaktische Inhalte zu vermitteln, aber Dreieckübungen seien prädestiniert, um beispielsweise das Direktspiel zu erlernen.

Neben der fußballerischen Ausbildung ruht die FSV-Nachwuchsarbeit auf zwei weiteren Säulen: schulische Erziehung und Charakterlehre - was miteinander einhergeht.

So ist es eine Vorgabe beim FSV, dass jeder Jugendspieler die Schule mit dem Abitur, Fachabitur oder einer berufliche Ausbildung abschließen muss. Wer abbricht, wird aussortiert. Kersting drückt es etwas diplomatischer aus: "In so einem Fall werden wir intensivste Gespräche führen und erklären, was wir als Gegenleistung für unseren Einsatz von ihm erwarten."

Es klinge zwar wie ein Klischee, aber Kersting meint es ernst, wenn er sagt: "Die Eltern eines Spielers geben ihr Kind in unsere Obhut. Wir sind quasi Ersatzeltern. Daher haben wir einen klaren Auftrag, der über den Fußball hinausgeht."

Kolpinghaus statt Internat

Und dazu gehört, einen Nachwuchsspieler bei der Mannwerdung nicht nur als Fußballer und als Schüler, sondern als ganzheitlichen Menschen zu verstehen und ihm einen Weg durch die Adoleszenz zu zeigen.

Es gibt unter den Jugendlichen zwei Gruppen: Jene, die wie Schürrle aus dem Umkreis von Mainz stammen und daher pendeln können. Und solche, die in Mainz übernachten müssen, weil die Eltern zu weit weg wohnen.

Für die zweite Gruppe konzipierte der FSV ein Modell, das einzigartig sein dürfte in Deutschland. Statt wie die anderen Bundesligisten ein eigenes Internat zu betreiben, leben die Teenager im sogenannten Kolpinghaus. Kolpinghäuser sind über ganz Deutschland verteilte Wohneinrichtungen, in denen Auszubildende und Schüler untergebracht sind. In Mainz aber eben auch einige Fußballer.

Zwar sei diese Lösung etwas teurer, so Kersting, aber sie würden einen unersatzbaren Vorteil mit sich bringen: "Die Jungs werden als Mensch und nicht als Fußballer gesehen." So wäre es für den Werdegang eines Leistungssportlers unabdingbar, sich nicht nur auf dem Vereinsgelände aufzuhalten, sondern auch den "Blick für das Leben an sich" zu schärfen.

"Die Spieler sollen die reale Welt erleben - auch Mädchen"

Deswegen ist es eine bewusste Entscheidung des FSV, seinen Nachwuchsspielern mehr Freiheiten zu geben als andere Klubs. Sie müssen sich zwar selbst um die Wäsche oder das Putzen der Küche kümmern, andererseits wohnen sie weitestgehend ohne Kontrolle der Vereins in ihren Apartments, häufig auf einem Stockwerk mit den weiblichen Bewohnern des Kolpinghauses.

"Wir würden nie unangekündigt auftauchen und die Zimmer inspizieren. Sie sollen die reale Welt erleben - mit allem, was dazu gehört, auch Mädchen. Wie sollen Fußballer selbstständig auf dem Platz sein, wenn sie in ihren vier Wänden nicht selbstständig sein dürfen?", sagt Kersting.

Verbleib im Container

Über allem steht ein Wort: Bescheidenheit. Die Zimmer im Kolpinghaus sind genauso funktional möbliert wie Kerstings Büro im Container. Luxus sei auch nicht nötig, viel wichtiger wäre die Atmosphäre: "Viele Eltern schenken uns das Vertrauen, weil man sich bei uns zuhause fühlt. Das Familiäre und Gemütliche ist entscheidend."

Nicht überraschend, dass das Nachwuchsleistungszentrum in seiner behelfsmäßig anmutenden Behausung bleibt, obwohl die Profis aus dem benachbarten Bruchweg-Stadion ausziehen und zukünftig in der modernen Coface-Arena spielen.

Obwohl der Gesamtetat des Vereins von 34 auf 54 Millionen Euro ansteigt. Und obwohl die Container-Landschaft den Charme einer Baustelle hat. "Wir haben doch alles, was wir brauchen", sagt Kersting. "Wir bieten zwar kein Schickimicki, aber ein Gesamtpaket, für das wir uns nicht zu schämen brauchen."

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