Der ehemalige Bundesliga-Schiedsrichter und DFB-Schiedsrichter-Lehrwart Lutz Wagner verurteilt im Interview mit SPOX und GOAL den Becherwurf im Spiel des VfL Bochum gegen Borussia Mönchengladbach und spricht über mögliche Konsequenzen.
Lutz Wagner war einer der erfahrensten Schiedsrichter in der Bundesliga. Mit 197 Spielen und 99 Einsätzen in der 2. Bundesliga hat der heute 58-Jährige schon viel erlebt. Einen tätlichen Angriff noch nicht.
So zeigte sich Wagner auch im Gespräch mit SPOX und GOAL schockiert über die Ereignisse im Bundesliga-Spiel zwischen dem VfL Bochum und Borussia Mönchengladbach, als Schiedsrichter-Assistent Christian Gittelmann von einem Becher am Kopf getroffen wurde. Das Spiel wurde daraufhin abgebrochen. Der Kontrollausschuss des DFB ermittelt bereits. Wagner berichtet von seinem Gespräch mit Gittelmann und erklärt das genaue Vorgehen.
Herr Wagner, die wichtigste Frage vorweg: Wie geht es Christian Gittelmann?
Lutz Wagner: Zum Glück geht es ihm wieder gut. Ich habe mit ihm gesprochen: Er hat eine leichte Gehirnerschütterung, eine Schädelprellung und ein Schleudertrauma. Ich bin sicher, dass er die körperlichen Schäden in den nächsten Tagen wegstecken wird. Wichtig wird sein, dass er auch gefühlsmäßig alles verarbeitet. Man muss es sich vorstellen, dass man als Assistent dann wieder an der Seite steht und das Gefühl hat: "Gleich kommt wieder etwas von hinten geflogen." Das ist nicht zuträglich für die Konzentration. Aber Christian Gittelmann ist ein klasse Typ. Er wird damit umgehen können und auch wieder zurückkommen.
Man hatte in der Szene nicht nur das Gefühl, dass er Schmerzen hat, sondern auch sehr schockiert und enttäuscht war.
Wagner: Man muss sich vorstellen: Man steht da und rechnet überhaupt nicht damit. Das war ein voller Becher und das ist ein ganz heftiger Schlag. Das macht was mit einem und da kann man sich auch nicht kurz schütteln und sagen: "So, jetzt mache ich weiter."
Schiedsrichter Benjamin Cortus hat das Spiel abgebrochen. War das die einzig richtige Entscheidung?
Wagner: Der Spielabbruch war gerechtfertigt und die einzige Alternative für den Schiedsrichter. Benjamin Cortus hat das selbst erst gar nicht wahrgenommen und hat über Funk die Rufe gehört. Er hat dann das einzig richtige gemacht und ist in die Kabine gegangen. Wichtig ist, dass erst einmal der Schiedsrichter-Assistent ärztlich versorgt wird.
gettyMan wartet als Zuschauer währenddessen im Stadion oder vor dem Fernseher darauf, was passiert. Hatte der Schiedsrichter einen Spielraum? Hätte er theoretisch auch auf den Platz zurückkommen und weiterspielen lassen können?
Wagner: So wie der Fall in Bochum gelaufen ist, gab es für den Schiedsrichter keinen Spielraum. Es war eindeutig, denn der Schiedsrichter-Assistent war verletzt und musste ins Krankenhaus. Es ist dann auch nicht so, dass man sagt: "Wir machen weiter, es ist ja noch der vierte Schiedsrichter da." Der ist nur dafür da, wenn sich ein Schiedsrichter im Spiel verletzt, sich beispielsweise eine Zerrung holt. Aber wenn es ein Angriff auf den Assistenten gibt, ist es ein Angriff auf das gesamte Schiedsrichter-Team. Dann geht es nicht weiter.
Wie ist dann das weitere Vorgehen in den Katakomben?
Wagner: Er hat die Mannschaftsverantwortlichen inklusive Spielführer eingeschaltet und den Entschluss des Spielabbruchs offiziell mitgeteilt. Das wurde von beiden Mannschaften zu 100 Prozent so akzeptiert. Die Verantwortlichen von Bochum und Mönchengladbach haben das absolut genauso gesehen und mitgetragen. Man muss auch dazu sagen, dass ich selbst oft in Bochum Schiedsrichter war. Das ist ein toller und gut geführter Verein mit klasse Fans, aber da ist dann ein Chaot dabei. Und dies ist dann letztlich ein Chaot zu viel.
Von Bochumer Seite war die Reaktion auch sehr eindeutig. Vom Präsidenten bis hin zu den Spielern auf dem Platz wurde der Angriff scharf verurteilt.
Wagner: Christian Gittelmann hat auch heute Morgen gesagt, dass er sehr viel Zuspruch und aufmunternde Worte unter anderem aus Bochum bekam. Das zeigt, dass die Fußballfamilie intakt ist. Diejenigen, die den Fußball wirklich lieben, halten zusammen und das ist auch wichtig für unser Image. Es gilt für uns alle, die Chaoten von den Stadien fernzuhalten.
Kann man Maßnahmen ergreifen, um die Schiedsrichter noch besser zu schützen?
Wagner: Wir sind sehr froh, dass wir Fußballstadien ohne Netze, Barrieren oder Plexiglasscheiben haben. Wir dürfen nicht den Fehler machen, alle Fans generell dafür zu bestrafen, weil irgendwo etwas passiert ist. Wenn ich im Stadion bin und so einen Chaoten sehe, würde ich versuchen ihn mit Hilfe der anderen Fans festzuhalten und der Polizei zu übergeben. Wenn nun so ein Spiel abgebrochen wird, setzt hoffentlich eine Bewusstseinsänderung ein, und jeder merkt, dass es so nicht weiter geht. Für echte Fans ist Wegschauen keine Alternative und für den einzelnen Chaoten ist die Abschreckung hoffentlich so groß, dass er es sich zweimal überlegt, so etwas Idiotisches zu tun.
Der Kontrollausschuss des DFB hat die Ermittlungen übernommen. Es gibt den Präzedenzfall St. Pauli - Schalke 04 aus dem Jahr 2011, als Deniz Aytekin in einem ähnlichen Fall das Spiel abgebrochen hatte. Das Spiel wurde für Schalke 04 gewertet und St. Pauli musste mindestens 50 Kilometer außerhalb von Hamburg das nächste Heimspiel absolvieren. Können wir nun die gleichen Konsequenzen erwarten?
Wagner: Der Schiedsrichter hat zusammen mit seinem Assistenten einen Bericht verfasst und beide sind nun nur noch Zeugen. Er hat damit nun keinerlei Befugnisse mehr, was die Sportsgerichtsbarkeit angeht. Das ist auch gut so. Das ist wie im Staat mit der Gewaltenteilung: Exekutive, Legislative und Judikative. So ist es auch in diesem Fall. Da ich selbst öfters bei Sportgerichtsverhandlungen als Experte gehört werde, kann ich nur generell sagen, dass der Fall bei den Rechtsorganen des DFB in guten Händen liegt.
Ist Ihnen schon mal eine ähnliche Situation widerfahren?
Wagner: Ausschreitungen und Anfeindungen leider schon, aber dass körperlich jemandem aus meinem Team oder mir selbst etwas passiert ist, zum Glück noch nicht. Aber ich wusste immer, dass so etwas passieren kann und es gab auch schon grenzwertige Situationen. Daher kann ich mit den Kollegen mitfühlen.