Er ist erst 20 und schon der unumstrittene Alleinherrscher über einen ganzen Fußballkontinent: Gerade wurde Neymar da Silva Santos Junior zum zweiten Mal in Folge von Sportjournalisten zum "König Amerikas" gewählt. Zweifellos ist er einer der begabtesten Spieler seiner Generation und der Mann, der 2014 für Brasilien die Weltmeisterschaft im eigenen Land gewinnen soll. Doch seine Macht reicht weit über das Fußballfeld hinaus. Denn obwohl er noch nie in Europa gespielt hat, ist Neymar mittlerweile der wichtigste Markenartikel der gesamten Sportwelt.
Ist Luis Alvaro de Oliveira nun ein gewitzter Marketingstratege? Oder hört er sich nur gerne selbst reden? Vermutlich trifft beides irgendwie zu. Ein begabter Erzähler aber ist der 69-Jährige mit den schlauen Augen und dem weißen Vollbart allemal. Im November 2011 war der Präsident des FC Santos zu Gesprächen nach Spanien aufgebrochen, das brasilianische Wunderkind Neymar sollte bei Real Madrid unterschreiben. Er kam unverrichteter Dinge wieder zurück - doch er hatte immerhin eine gute Geschichte im Gepäck.
"Die haben sich dort aufgeführt wie Kolonialherren", schimpfte Alvaro de Oliveira nach seiner Rückkehr und erklärte im Detail, weshalb der geplante Wechsel am Ende doch geplatzt war: "Mourinho hat von Neymar verlangt, dass er sich die Haare schneidet, wenn er zu Real kommt!" Und so kam er eben nicht zu Real. Stattdessen verlängerte Neymar wenige Tage später seinen Vertrag beim FC Santos bis ins Jahr 2014. In Madrid rümpfte man die königlichen Nasen und sprach von einem abgekarteten Spiel. Ohnehin sei Alvaro de Oliveira nur ein Preistreiber und ein Schwätzer.
Volksheld und lebende Legende
Doch selbst wenn dessen Geschichte nicht wahr sein sollte, so ist sie doch immerhin sehr gut erfunden. Denn die vermeintlich aufsässige Geste gegen den Dünkel der Madrilenen strickte weiter an der Legende des Volkshelden, zu dem der damals 19-jährige Neymar in seiner Heimat schon zuvor geworden war. Und ganz nebenbei erfuhr die Öffentlichkeit auch noch, dass der größte Fußballklub der Welt offiziell am Goldjungen aus Santos interessiert war - und dass der es sich sogar leisten konnte, das Angebot locker auszuschlagen. Seiner Frisur zuliebe! Einem blondierten Irokesenschnitt.
Außerdem zeugt die Anekdote auch vom neuen Selbstbewusstsein im brasilianischen Fußball, der sich zusehends aus der Abhängigkeit vom europäischen Markt emanzipiert. Die heimische Wirtschaft boomt, der Sport boomt mit, finanziell hatte Neymar bei dem Manöver nicht viel zu verlieren. Mit einem Jahresgehalt von rund 6,5 Millionen Euro gehört er ohnehin zu den Topverdienern im Weltfußball. Und am entsprechenden Selbstvertrauen mangelt es auch ihm keineswegs. Als er schließlich seine Unterschrift unter den neuen Vertrag beim FC Santos setzte, trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift: "It's good to be the king".
Ein Selbstverständnis, das ihm kaum jemand verübelt. Gerade wurde Neymar von der uruguayischen "El Pais" zum zweiten Mal in Folge zum "König Amerikas" gekürt. Und schon einige Wochen zuvor war es der große Pelé selbst, der ihm die Krone aufsetzte, als er sagte: "Wenn Lionel Messi der beste Fußballer aller Zeiten sein will, dann muss er erst einmal besser werden als Neymar."
Vergleiche zwischen ihm und Messi sind seither eine regelmäßige Rubrik im medialen Rummel um den hofierten Jungstar; sie bieten sich schon aufgrund der ähnlichen Fähigkeiten an. Allerdings ist Neymar längst mehr als nur ein spektakulär schneller Dribbelkünstler mit Torinstinkt und souveränem Abschluss. Mehr auch als nur Torschützenkönig und Sieger der Copa Libertadores und mehr als nur Südamerikas Fußballer des Jahres. Er ist nationales Heiligtum, Popstar und Politikum. Doch vor allem ist er eine perfekt inszenierte Marke.
Die erfolgreichste Marke der Sportwelt
Dass zu dieser Marke auch ein unförmiger Haarschnitt gehört, weiß man inzwischen in Madrid und auch im Rest der Welt. Dafür hat Alvaro de Oliveiro persönlich gesorgt. Neymar ohne Iro, das wäre wie Meister Proper mit Dauerwelle - ein Desaster für das Marketing. Ein Fehler, den sein Umfeld sorgfältig zu vermeiden weiß. Denn immerhin, so sagt sein Vater und Manager Neymar senior: "Mein Sohn ist eine Firma. Und ich bin ihr Vorstandsvorsitzender."
Wie erfolgreich er diese Firma führt, zeigt nicht zuletzt die neue Rangliste von "SportsPro". Das marktführende Londoner Business-Magazin wählte Neymar 2012 zum "am besten vermarktbaren Sportler" der Welt. Weit vor Athleten wie LeBron James, Usain Bolt oder Cristiano Ronaldo. Und auch vor Lionel Messi. Acht große Verträge mit persönlichen Sponsoren sichern Neymar schon heute ein "Zusatzeinkommen" von rund 20 Millionen Euro. Im Sommer verkaufte er außerdem seine Bildrechte auf Lebenszeit an die durchaus finanzstarke Agentur IMX Talent. Bereits 2009 gab seine Familie 40 Prozent der Transferrechte an eine Investorengruppe ab. Der Goldjunge aus Santos ist zweifellos auch ein Goldesel. Finanziell dürfte er mittlerweile sogar Werbe-Ikonen wie David Beckham oder Cristiano Ronaldo überholt haben. Und das, obwohl er noch nie in Europa gespielt hat.
Gründe für den Hype in Brasilien
"Die immense Vermarktbarkeit und der riesige Hype um Neymar sind in der Tat ein außergewöhnliches Phänomen", sagt Kai Birras, Marketingchef der Spieleragentur SportsTotal, für die er unter anderem die Nationalspieler Mario Götze, Toni Kroos und Benedikt Höwedes betreut. Neben den sportlichen Erfolgen und einer geschickten Vermarktung kommen dabei mehrere Faktoren glücklich zusammen und potenzieren sich gegenseitig, glaubt Birras: "Brasiliens Wirtschaft boomt gewaltig, alles fokussiert sich jetzt schon auf die Weltmeisterschaft 2014, und Neymar hat im Moment fast eine Monopolstellung auf dem Markt. Außer ihm gibt es in der Nationalmannschaft keine wirklich schillernden Stars mehr. Er ist der Mann, der den Titel holen soll. Entsprechend wird er auch gepusht. Und natürlich spricht er auch eine bestimmte jugendliche Zielgruppe besonders an."
Diese Zielgruppe sorgt auch dafür, dass Neymar selbst in Deutschland bereits als Superstar gilt und eine beachtliche Anhängerschaft hinter sich hat. Die meisten dieser Fans freilich interessieren sich weder für die brasilianische Liga oder den FC Santos, noch haben sie die Möglichkeit, ihr Idol regelmäßig im Fernsehen oder gar im Stadion zu sehen. Ihr Leitmedium besteht aus kurzen Videosequenzen: Zusammenschnitte von Highlights, Werbeauftritten und privaten Aufnahmen. Und davon gibt es mehr als genug.
Alles Zufall? Neymar als virales Phänomen
Die Suche nach Neymar ergibt alleine auf Youtube satte 46.000 Treffer. Und damit mehr als bei Bastian Schweinsteiger, Mesut Özil und Lukas Podolski zusammen. Rein statistisch betrachtet müsste jeder einzelne Ballkontakt aus Neymars Profikarriere in mindestens fünf Videoclips dokumentiert sein.
"Wenn man sich diese Zahlen vor Augen führt, muss man sich natürlich die Frage stellen, ob das purer Zufall sein kann", sagt Marco Feuchter, Geschäftsführer von GoViral in München. Die internationale Agentur hat sich auf virales Marketing spezialisiert und war unter anderem für die Verbreitung des Videoclips verantwortlich, in dem sich Franck Ribery und Luca Toni im leeren Bayernstadion ein Wettschießen liefern, bis der Hausmeister das Licht abdreht.
Und auch Feuchter hat sich mit dem Phänomen Neymar beschäftigt: "Sicher könnte ein Typ wie er auch aufgrund seiner Ausstrahlung zum Selbstläufer auf Youtube werden. Aber Tatsache ist auch, dass viele große Firmen ganz bewusst mit sogenannten Multiplikatoren in Kontakt treten. Sie kooperieren mit wichtigen Bloggern, Facebook-Größen und Twitter-Koryphäen. Wenn die ein Video posten, sorgen ihre riesigen Netzwerke dafür, dass sich ein Clip ungeheuer schnell im Netz ausbreiten kann."
Hauptsponsor und Gerüchte helfen
Einer steckt den anderen an, wie bei einem Virus, das ist die Idee. Gerade Nike, Hauptsponsor von Neymar, hat in der Vergangenheit auf diese Weise schon häufiger große Marketingerfolge erzielt. Dass der Sponsor dabei nicht explizit genannt wird, ist durchaus Kalkül. Das Markenlogo kommt ganz "natürlich" und wie von selbst ins Bild. Zumal bei Neymar, der sich gerne und ausgiebig beim Torjubel auf die Brust klopft.
"Als weiteren viralen Effekt kann man auch die vielen Transfernews um Neymar deuten", erklärt Feuchter weiter: "Einer setzt ein Gerücht in die Welt, die anderen Medien greifen es auf und der Schneeball kommt ins Rollen. Auch das steigert die Bekanntheit und den Marktwert eines Spielers." Weil es in Europa kaum eine nennenswerte sportliche Berichterstattung über die brasilianische Liga gibt, waren solche Transfermeldungen im Grunde auch die einzige Plattform, auf der Neymar in offiziellen Medien überhaupt stattfinden konnte.
Inwiefern Vereine oder Berater entsprechende Meldungen selbst streuen, lässt sich kaum belegen. Fakt ist aber, dass sowohl der FC Santos als auch Neymar immer wieder die Gerüchte kommentieren und bestätigen und damit - bewusst oder unbewusst - die Druckerpressen am Laufen halten.
Seite 2: Wechsel nach Europa? Der Sponsor entscheidet mit
So war es für den jungen Angreifer mit 19 noch "ein Traum, für den FC Chelsea zu spielen", wenig später berichtete Alvaro de Oliveira von den Verhandlungen in Madrid. Mittlerweile jedoch scheint festzustehen, dass Neymar nach der WM 2014 zum FC Barcelona wechselt. Der Radiosender "Cadena SER" berichtete sogar von einem Vorvertrag und einer Garantiesumme von 14,5 Millionen Euro, die Barca bereits als Anzahlung an den FC Santos überwiesen haben soll.
Insider glauben, dass auch bei diesem Deal Nike die Finger mit im Spiel hatte. Weil Messi und Xavi mit Adidas spielen, fehlt dem offiziellen Ausrüster der Katalanen ein Superstar als Testimonial, der auch die richtigen Schuhe trägt. Fest steht, dass Sandro Rossell, Präsident des FC Barcelona, früher selbst in der Marketingabteilung von Nike gearbeitet hat und über exzellente Verbindungen nach Brasilien verfügt. Unter anderem war er entscheidend an den Verhandlungen beteiligt, die Nike zum Trikotsponsor der Nationalmannschaft machten. Der Vertrag als Ausrüster des FC Barcelona indes läuft 2013 aus. Und Neymar wäre für beide Seiten Grund genug, ihn zu verlängern. Denn aus Vermarktungssicht ist er ein absoluter Selbstgänger. Und die Zielgruppe, die er gesondert anspricht, wächst und wird immer mehr zu einem Wirtschaftsfaktor.
Die Zielgruppe: Mit Ohrringen und Markenklamotten
Es handelt sich dabei in der Regel um männliche Jugendliche mit extravaganten Frisuren, trainierten Körpern, Brillant-Ohrringen und Markenklamotten. "Das Phänomen ist in der Jugendkultur relativ neu", erklärt Philipp Ikrath, Leiter des Instituts für Jugendkulturforschung in Hamburg: "Die Szene ist in eher bildungsfernen Milieus entstanden und grenzt sich durch das übertrieben protzige Auftreten sowohl noch oben gegen das klassische Bürgertum als auch nach unten gegen die ganz Abgehängten und Ausgeschlossenen der Gesellschaft ab. Für die Konsumindustrie ist die Gruppe deshalb so interessant, weil ihre Mitglieder zwar nicht reich sind - das, was sie haben, aber stecken sie komplett in Kleidung, Life-Style-Produkte und Unterhaltungselektronik."
Es passt ins Bild: Die drei größten Sponsoren von Neymar produzieren Turnschuhe, Aufputsch-Brause und Elektrogeräte. Und als Werbeträger hat er wenig Konkurrenz, denn die angesprochene Zielgruppe ist in der Film- und Musikbranche noch unterrepräsentiert. "Sportler sind die wichtigsten Leitbilder der Szene", sagt Ikrath: "Hier findet sie Körperkult, ein konservatives Rollenverständnis und überhebliche Posen. Mario Balotelli etwa dient typischerweise als Identifikationsfigur, in der Bundesliga entspricht zum Beispiel Marko Arnautovic dem Schema. Zum Habitus gehören dabei auch bewusste Regelverstöße - auch wenn sie keinerlei ideologische oder politische Deckung haben."
Wer ist wichtiger: Star oder Trainer?
Dass ein Irokesenschnitt nicht mehr viel politischer ist als rasierte Männerbeine, weiß man spätestens seit David Beckham. "Und auch diese scheinbar rebellischen Gesten sind keiner höheren Instanz mehr verpflichtet als dem eigenen Ego", erklärt Ikrath und verweist wieder auf Arnautovic: "Als er sich im Sommer von einer Verkehrskontrolle unnötig behelligt fühlte, raunte er dem Polizisten entgegen: "Ich bin etwas Höheres als Du! Ich verdiene so viel, ich kann Dein Leben kaufen!'"
Auch Neymar hat in seiner noch jungen Akte schon ein beachtliches Repertoire an kleineren und größeren Eskapaden angesammelt. Für Aufsehen sorgte vor allem eine Szene im September 2010. Während eines Ligaspiels gegen Atlético Goianiense wurde Neymar im Strafraum elfmeterreif gefoult. Doch weil er zuvor im Pokalfinale einen wichtigen Strafstoß verschossen hatte, benannte Trainer Dorival Junior nun einen anderen Spieler als Schützen.
Noch auf dem Platz legte sich der damals 18-jährige Neymar daraufhin mit Kapitän Edu Dracena an, drehte dem Trainer demonstrativ den Rücken zu und musste schließlich sogar vom Linienrichter beruhigt werden. Anders als Arnautovic aber hat Neymar offenbar die deutlich längeren Hebel. Der Vorfall endete damit, dass Dorival Junior vom Vorstand verlangte, Neymar für zwei Wochen zu suspendieren. Doch der Vorstand entschied anders - und feuerte stattdessen den Trainer.
Neymar im Steckbrief