Andries Jonker im Interview: "Louis ist der Richtige für den Job"

Nino Duit
29. März 202210:47
SPOXgetty
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Andries Jonker begleitete den alten und neuen niederländischen Nationaltrainer Louis van Gaal jahrelang als Co-Trainer, arbeitete mit ihm gemeinsam unter anderem für den FC Barcelona und den FC Bayern. Im Interview mit SPOX und Goal lässt der 58-Jährige seine Zeit mit van Gaal revue passieren.

Außerdem berichtet Jonker von Andres Iniestas Plastiksack, weinenden Wolfsburgerinnen und einer Wette zwischen Hermann Gerland und Uli Hoeneß.

Am Dienstagabend um 20.45 Uhr (LIVETICKER) empfängt van Gaal mit der niederländischen Nationalmannschaft in Amsterdam Deutschland.

Dieses Interview erschien erstmals am 17. August 2021.

Herr Jonker, Ihr langjähriger Chef Louis van Gaal ist zum dritten Mal niederländischer Nationaltrainer. Waren Sie von der Entscheidung überrascht?

Andries Jonker: Nein, das hat mich nicht überrascht. Holland war seit 2012 abgesehen von dieser EM nur bei einem großen Turnier vertreten, bei der WM 2014 in Brasilien unter Louis van Gaal. Das sagt zwei Sachen über unseren Fußball aus: Holland ist seit knapp zehn Jahren nicht mehr Spitze und wir haben nur einen Trainer, über dessen Fußball-Kompetenz es keine Diskussion gibt. Das ist Louis van Gaal. Es gibt zwar viele Diskussionen über seinen Charakter, aber das hat nichts mit Fußball zu tun. Wenn es um Fußball geht, sind alle mit ihm einverstanden. Louis ist der richtige für den Job.

Hat er Sie gefragt, ob Sie wieder sein Co-Trainer werden wollen?

Jonker: Nein und damit hatte ich auch nicht gerechnet. Ich war seit unserer Zeit beim FC Bayern nicht mehr sein Co-Trainer. Bei der WM 2014 war ich Teil seines achtköpfigen Analyse-Teams, obwohl ich zeitgleich im Klubfußball tätig war. In jenem Sommer bin ich von Wolfsburg zu Arsenal gewechselt. Zum Glück waren beide Klubs mit der Tätigkeit einverstanden. Als Louis die Nationalmannschaft nach der WM verließ, hat er mit Danny Blind vereinbart, dass er sein Co-Trainer wird, sollte sich noch einmal die Möglichkeit ergeben. So ist es jetzt auch gekommen.

Wie verhält sich van Gaal auf der Trainerbank?

Jonker: Louis sitzt immer ganz ruhig da und schaut sich genau an, was passiert. An die Seitenlinie geht er nur in Ausnahmesituationen. Seiner Meinung nach kann er die Spieler während eines Spiels in einem vollen Stadion nicht erreichen. Dafür tauscht er sich auf der Bank viel mit seinen Assistenten aus. Louis hat mich immer gefragt, was ich sehe, was ich denke und was ich vorschlagen würde.

Haben Sie einen Moment in Erinnerung, bei dem er an der Seitenlinie trotzdem emotional geworden ist?

Jonker: Da fällt mir sein berühmter Karate-Tritt beim Champions-League-Finale 1995 zwischen Ajax und dem AC Milan ein, wobei ich damals noch nicht sein Co-Trainer war. Das Video wird in Holland bis heute oft gezeigt, weil man Louis selten so ausrasten sieht. Er war überhaupt nicht einverstanden mit dem Schiedsrichter und musste das rauslassen. Normalerweise kritisiert er den Schiedsrichter oder den vierten Offiziellen während eines Spiels nicht. Louis ist der Meinung, dass das eher einen negativen Einfluss auf dessen Entscheidungen hat.

Wie kann man sich van Gaals Halbzeit-Ansprachen vorstellen?

Jonker: Auch da ist er ruhig, obwohl er sehr laut spricht. Louis rastet nie aus, schimpft oder flucht auch nie. Er sagt den Spielern nicht, dass sie kämpfen sollen. Das ist seiner Meinung nach eine Grundvoraussetzung. Bei seinen Ansprachen geht es immer nur um Fußballinhalte. Dabei sind seine Ansagen sehr klar und verständlich, danach haben die Spieler nie Nachfragen. Jeder weiß, was von ihm erwartet wird.

Gibt es eine Ansprache, mit der Sie van Gaal überrascht hat?

Jonker: Ja, nach dem 5:1-Sieg gegen Spanien bei der WM 2014. Normalerweise legt Louis bei seinen Ansprachen den Fokus auf mögliche Verbesserungen. Nach diesem Spiel ging es aber nur um die positiven Aspekte. Das hat mich sehr überrascht. Ich habe ein paar Stunden darüber nachgedacht und dann seinen Punkt verstanden: Bei einem Turnier hat man innerhalb weniger Tage viele Spiele. Da gibt es keine Zeit, die Mannschaft Schritt für Schritt zu verbessern. Obwohl diese Ansprache seiner eigenen Philosophie widersprochen hat, hat sie in dem Moment Sinn ergeben.

Erstmals waren Sie in der Saison 2002/03 beim FC Barcelona van Gaals Co-Trainer. Wie ist die Zusammenarbeit zustande gekommen?

Jonker: Ich habe Anfang der 1990er Jahre meine Trainerausbildung gemacht und im Zuge dessen 1993 ein Jahr lang bei Ajax unter Louis hospitiert. Laut Ausbildungsvorgabe musste ich einmal pro Woche beim Klub vor Ort sein. Louis meinte aber, dass das bei ihm nur unter Louis-van-Gaal-Bedingungen geht. Das bedeutete, dass ich dreimal in der Woche und bei jedem einzelnen Heimspiel anwesend sein musste. Da habe ich mir gedacht, dass ich auch jeden Tag kommen kann. In jenem Jahr haben wir uns sehr gut kennengelernt. Für mich war es intensiv, weil ich nebenbei auch noch die Kurse im Verband belegen musste.

Können Sie sich an das erste Treffen mit ihm erinnern?

Jonker: Ganz genau sogar. Im alten Ajax-Stadion De Meer gab es ein kleines Vorstandszimmer, in dem die Klub-Mitarbeiter immer gemeinsam Kaffee getrunken haben. Als ich vor Beginn meiner Hospitanz dort war, ist Louis reingekommen und sofort auf mich zugegangen. Er gab mir die Hand und sagte: "Guten Morgen, ich bin Louis van Gaal." Ich antwortete: "Das weiß ich. Ich bin Andries Jonker." Daraufhin meinte er: "Das weiß ich auch." Dann haben wir uns kurz unterhalten und dabei habe ich festgestellt, dass er schon alles über mich und meine Tätigkeiten wusste. Das war ein schönes Gefühl.

Hat er Sie während Ihrer einjährigen Hospitanz aktiv eingebunden?

Jonker: Am Morgen nach jedem Heimspiel hat mich Louis in seine Trainerkabine eingeladen und mich gefragt, was ich über das vorangegangene Spiel denke. Damals gab es noch keine Handys, ich war nach dem Spiel zu spät zu Hause, um die öffentliche Meinung zu hören, und am nächsten Tag zu früh bei ihm, um davor die Zeitung lesen zu können. Ich hatte also keine andere Wahl als genau das zu sagen, was ich denke - positiv oder negativ. So habe ich mir seinen Respekt erarbeitet.

Wie ging es nach dem gemeinsamen Jahr bei Ajax weiter?

Jonker: Als er 2000 Nationaltrainer wurde, hat er mich in den Verband geholt. Gemeinsam haben wir uns ein Konzept für die Entwicklung des holländischen Fußballs ausgedacht. Da ging es nicht nur um die Spitze, sondern um das ganze Land. Ich hatte verschiedene Aufgaben, habe mich zeitweise um die Frauenmannschaft, die U15, die U21 und das Scouting gekümmert. Weil sich die Nationalmannschaft aber nicht für die WM 2002 qualifizierte, verließ Louis den Verband. Ich bin zunächst geblieben. Bei seinem Abschied hat er mir versprochen, dass er mich kontaktiert, sobald er einen neuen Job hat. So ist es auch gekommen, als er Trainer von Barcelona wurde. Mir hat die Arbeit beim Verband zwar Spaß gemacht, Barcelona sagt man aber nicht ab.

Andries Jonkers Karrierestationen

ZeitraumKlubPosition
1997 bis 2000FC VolendamCo-Trainer, dann Cheftrainer
2000 bis 2002Niederländischer Verbandverschiedene Positionen
2002 bis 2003FC BarcelonaCo-Trainer
2004 bis 2006MVV MaastrichtCheftrainer
2006 bis 2009Willem II TilburgCo-Trainer, dann Cheftrainer
2009 bis 2011FC Bayern MünchenCo-Trainer, dann Interimstrainer
2011 bis 2012FC Bayern München IICheftrainer
2012 bis 2014VfL WolfsburgCo-Trainer
2014 bis 2017FC ArsenalNachwuchs-Leiter
2017VfL WolfsburgCheftrainer
seit 2019SC TelstarCheftrainer

Neben den niederländischen Trainern standen bei Barcelona damals auch zahlreiche niederländische Spieler unter Vertrag: Frank De Boer, Michael Reiziger, Philipe Cocu, Marc Overmars, Patrick Kluivert. Gab es eine Grüppchenbildung?

Jonker: Louis hat mir empfohlen, schon vor meiner Ankunft Spanisch-Unterricht zu nehmen. Am ersten Trainingstag habe ich erfahren, warum: Im Kreis der Mannschaft wurde ausschließlich Spanisch gesprochen, kein Wort Englisch und schon gar nicht Holländisch. Es gab damals keine Grüppchenbildung

Wie eng war Ihr Verhältnis zu van Gaal?

Jonker: Louis kümmert sich sehr intensiv um seinen Staff und hilft immer sofort. Schon vor meiner Ankunft hat er eine Schule rausgesucht, an die meine Kinder gehen können. Privat haben wir aber kaum etwas gemeinsam unternommen. Ich würde auch nicht sagen, dass wir Freunde sind oder waren. Aber wenn wir uns treffen, sind wir sofort vertraut.

Andres Iniesta hat während Ihrer Zeit im Klub sein Debüt für Barcelona gefeiert. Wie haben Sie ihn in Erinnerung?

Jonker: Ich weiß noch genau, als ich Andres während der Vorbereitung zum ersten Mal gesehen habe. Er war ganz klein und dünn, blass, hatte lange Haare und ist mit einem Plastiksack in die Kabine reinmarschiert. Im ersten Moment habe ich mich gefragt, was dieser kleine Junge da will. Dann sind alle Stars aufgestanden und haben für ihn applaudiert. Ich habe gefragt, was los ist, und sie haben gesagt, dass er mit Spanien die U19-EM gewonnen habe und zum besten Spieler des Turniers gewählt worden sei. Jetzt sollte er bei den Profis mittrainieren. Ich habe ihn mir noch einmal angeschaut und gedacht, dass das niemals funktionieren würde. Das habe ich dann auch zu Louis gesagt. Er war ebenfalls skeptisch, wollte ihm aber eine Chance geben, weil ihn alle für ein Riesentalent gehalten haben. Nach fünf Minuten Passübungen haben Louis und ich uns angeschaut und uns gesagt: Der kann mithalten.

Haben Sie im Laufe Ihrer Trainerkarriere jemals etwas Vergleichbares erlebt?

Jonker: Ja, bei David Alaba. Als er zu den Profis gekommen ist, war er wie Andres 17 Jahre alt. Wir haben ihn auf Empfehlung von Hermann Gerland ins Winter-Trainingslager nach Katar mitgenommen. Beim ersten Trainingsspiel hat er den Ball aus 30 Metern ins Kreuzeck gehämmert. Daraufhin haben ihn alle einige Sekunden lang angeschaut, dann war er akzeptiert. Ein paar Wochen später debütierte er bei einem Champions-League-Spiel gegen die Fiorentina.

Was hat Iniesta und Alaba abgesehen vom fußballerischen Talent ausgezeichnet?

Jonker: Beide waren stabil im Kopf, nie verletzt, nie krank, nie gestresst, immer voll da, immer professionell und ehrgeizig. Alaba kam so oft zu mir und hat gefragt: "Andries, kann ich noch was machen? Können wir noch was machen, damit ich noch besser werde?"

Zwischen Ihrem Abschied aus Barcelona 2003 und dem Dienstantritt beim FC Bayern 2009 haben Sie nicht mit van Gaal zusammengearbeitet. Warum?

Jonker: Louis hat danach bei Ajax das Amt des technischen Direktors übernommen und mir direkt gesagt, dass er für mich niemanden wegschicken kann. Als er 2005 Trainer von AZ Alkmaar wurde, wollte er mich wieder als Co-Trainer holen. Da war ich aber bei MVV Maastricht, wo es mir gut gefallen hat. Später ging ich zu Willem II Tilburg. Beim Angebot des FC Bayern konnte ich genau wie damals bei Barcelona nicht absagen.

Van Gaals Amtszeit gilt beim FC Bayern in Sachen Spielkultur als Beginn der Moderne.

Jonker: Louis hat genau das gemacht, was er bei all seinen anderen Klubs auch gemacht hat. Er hat ein System spielen lassen, das bei eigenem Ballbesitz auf eine Raumvergrößerung durch schnelle, genaue Pässe ausgelegt ist. Bei Ballverlust sollte der Ball so schnell wie möglich zurückgewonnen werden. Die Spieler mussten sich erst daran gewöhnen, dass sie nicht nur gewinnen, sondern auch schönen Fußball spielen müssen. Irgendwann hat es funktioniert und wir haben fast jedes Spiel gewonnen. Jupp Heynckes meinte später zu mir, dass er Louis' Ansatz einfach weitergeführt hat. Und alle darauffolgenden Trainer haben das auch gemacht. Das ist schön zu sehen. Von Seiten des FC Bayern spüre ich bis heute große Dankbarkeit für unsere Arbeit. Wir haben ein anderes, ein schöneres Bayern geschaffen.

Während Ihrer Zeit beim FC Bayern schafften Holger Badstuber und Thomas Müller den Durchbruch.

Jonker: Vor der Saison haben sich Louis, Hermann Gerland und ich zusammengesetzt. Louis hat den Namen von jedem Spieler der Reservemannschaft vorgelesen, Hermann hat zu jedem etwas gesagt und ich habe mitgeschrieben. Irgendwann ist Louis bei Müller angekommen und Hermann sagte: "Er wird Nationalspieler." Louis wollte wissen, warum. Hermann meinte: "Weil er immer trifft - egal, wo er spielt." Dann hat er erzählt, dass er mit Uli Hoeneß eine Wette darüber laufen hatte, dass Müller Nationalspieler wird. Bei dieser Wette ging es nicht um zehn Euro, da ging es um einiges mehr. Bei Badstuber meinte Hermann wieder, dass er Nationalspieler wird. Louis hat wieder gefragt warum und Hermann meinte: "Weil er jeden Pass an den Mann bringt." Daraufhin hat Louis gefragt, ob er wegen Badstuber auch eine Wette mit Hoeneß laufen habe - und ja, das hatte er.

Andries Jonker und Louis van Gaal führten den FC Bayern 2010 zum Double.imago images

Wie eng war Ihr Verhältnis zu Uli Hoeneß?

Jonker: Bis zur Winterpause war er als Manager immer dabei, in der Rückrunde ist er als Präsident etwas auf Distanz zur Mannschaft und zum Trainerteam gegangen. Für mich war seine Anwesenheit am Anfang wichtig, weil er viel über die deutsche Gesellschaft und den deutschen Fußball weiß. Ich habe bei ihm oft nachgefragt, warum die Dinge hier so laufen, wie sie laufen.

Haben Sie ein Beispiel?

Jonker: Einmal habe ich Uli gefragt, warum er immer die besten Spieler der Bundesliga-Rivalen kauft, damals zum Beispiel Mario Gomez vom VfB Stuttgart. Er meinte, dass Bayern in solchen Fällen nicht verhandle, sondern immer das zahle, was der andere deutsche Verein wolle. Der jeweilige Klub würde das Geld dann in einen guten Ersatz und den Rest in die eigene Jugendarbeit stecken, was wiederum Bayern helfen würde, wenn der nächste gute Spieler von dem jeweiligen Klub geholt werde. Das fand ich eine schöne Erklärung.

Wie haben Sie die Zusammenarbeit zwischen den Alphatieren Hoeneß und van Gaal erlebt?

Jonker: Prinzipiell gehört der FC Bayern dem FC Bayern. Die Verantwortlichen sind es gewohnt, die Kontrolle über alles zu haben. Dann kam auf einmal ein ausländischer Trainer, der auch alles bestimmen wollte. Natürlich war die Zusammenarbeit manchmal schwierig, natürlich sind Uli und Louis manchmal aneinandergeraten.

Haben Sie eine konkrete Szene im Kopf?

Jonker: Kurz nach seiner Ankunft kritisierte Louis, dass der Rasen nicht kurz genug gemäht sei. Er sagte: "Der muss kürzer werden." Daraufhin sind Uli und Kalle richtig böse auf ihn geworden. Sie meinten, dass noch kein Trainer jemals von Ihnen verlangt hätte, dass der Rasen kürzer sein sollte. Louis ist aber stur geblieben. Am Ende haben Sie den Rasen doch schneiden lassen.

Im Laufe der Saison 2009/10 spielte sich die Mannschaft in einen Rausch und holte beinahe das Triple. Wie viel von Ihren Ideen haben Sie in dem Fußball gesehen?

Jonker: Das kommt für die Öffentlichkeit vielleicht überraschend, aber ich habe schon einige meiner Ideen gesehen. Louis will die Meinungen von allen Mitarbeitern hören. Wenn man ihn mit Argumenten überzeugt, dann übernimmt er die Ideen seiner Assistenten - sowohl während der Trainingswoche, als auch während den Spielen.

Welche Idee von Ihnen wurde umgesetzt?

Jonker: Der damalige Kader war eigentlich auf ein 4-4-2 ausgelegt, Bastian Schweinsteiger dabei auf der rechten Außenbahn eingeplant. Während eines Testspiels haben wir ihn aber links auf der Doppelsechs getestet. Ich fand, dass er die Bälle dort mit seinem Körper gut abgedeckt und das Spiel mit seinen Pässen gut verlagert hat. Ich habe Louis darauf hingewiesen und ihn gefragt, ob wir das nicht längerfristiger testen sollten. Deshalb haben wir auf ein 4-3-3-System umgestellt, das wir die restliche Saison beibehalten haben: Müller auf der Zehn, dahinter Schweinsteiger und van Bommel. Es war ein schönes Gefühl, dass diese Idee umgesetzt wurde und so gut funktioniert hat. So oder so ähnlich lief es bei vielen Sachen.

Haben sich bei Ihnen mal Spieler über van Gaal beschwert?

Jonker: In der erfolgreichen Saison 2009/10 hatten wir eine kleine Gruppe von Spielern, die selten zum Einsatz gekommen sind und am Tag nach den Spielen immer mit Hermann und mir trainieren mussten: Pranjic, Braafheid, Altintop, Gomez, Ottl, Klose. Die Jungs haben richtig gut gearbeitet und sich nie beschwert. Louis hat vor der Mannschaft oft gesagt, wie wichtig diese Jungs für den Erfolg sind. Bei Ausfällen musste er auf sie vertrauen.

Weil Franck Ribery gesperrt fehlte, spielte im Champions-League-Finale beispielsweise Hamit Altintop. Welche Erinnerungen haben Sie an das 0:2 gegen Inter Mailand?

Jonker: Die haben genau so gespielt und die Tore genau so geschossen, wie wir es erwartet hatten. Es tut sehr weh, dass wir das nicht verhindern konnten. Wir waren die beste Mannschaft in Europa. Von zehn Spielen gegen Inter hätten wir mindestens sieben gewonnen.

In der darauffolgenden Saison ist die Mannschaft eingebrochen.

Jonker: Das kam nicht überraschend. Die Jungs hatten eine erfolgreiche Saison, dann eine WM gespielt und keine richtige Vorbereitung. Sie waren in keiner guten Verfassung, wirklich müde im Kopf und müde im Körper. Im Winter ging es wieder, aber da war es schon zu spät.

Im April wurde van Gaal entlassen, Sie übernahmen das Traineramt interimistisch. Wie lief die Kommunikation ab?

Jonker: Einige Minuten nach Louis' Entlassung wurde ich gefragt, ob ich die Mannschaft bis zum Saisonende übernehmen möchte. Ich habe Louis gefragt und er hat mir empfohlen, das Angebot anzunehmen. Dann habe ich mit den Kapitänen Basti (Schweinsteiger, Anm. d. Red.) und Philipp (Lahm, Anm. d. Red.) gesprochen. Sie meinten, dass ich die beste Lösung sei. Erst als das alles geklärt war, habe ich zugesagt. Ansonsten hätte ich es nicht gemacht.

Wie eng war in den darauffolgenden Tagen Ihr Kontakt mit van Gaal?

Jonker: Am Anfang haben wir viel miteinander gesprochen. Ich habe ihm erklärt, was ich vorhabe, und ihn um seine Meinung gefragt. Letztlich habe ich es aber auf meine Art gemacht, meine eigenen Entscheidungen getroffen.

Zum Zeitpunkt des Trainerwechsels war die Champions-League-Qualifikation in Gefahr, die Ihnen letztlich doch noch gelungen ist. Wie sind Sie die Aufgabe angegangen?

Jonker: Als erstes habe ich die Medienabteilung gebeten, ob sie einen schönen Film von unseren Erfolgen in der Vorsaison machen könnte. Den habe ich den Jungs gezeigt und sie dann gefragt, ob sie wieder gegen Manchester United spielen wollen oder lieber gegen Slovan Liberec. Daraufhin haben sie alles gegeben.

Wie kamen Sie ausgerechnet auf Slovan Liberec?

Jonker: Ich habe einem Verein gesucht, der keinen großen Namen hat, bei dem du aber schon vorher weißt, dass es trotzdem kein einfaches Spiel wird. Da ist mir als erstes Slovan Liberec eingefallen.

Duelle mit Slovan Liberec wurden vermieden. Statt die Profis in der Champions League, trainierte Sie aber anschließend ein Jahr lang die Reserve. Dann wurden Sie Co-Trainer von Felix Magath beim VfL Wolfsburg. Wie kam diese Tätigkeit zustande?

Jonker: Laut Felix müssen teure Profis schon Fußball spielen können und in dieser Hinsicht nicht mehr trainiert werden. Seine Grundannahme ist aber, dass Fußballer faul und mental schwach sind. Deshalb ging es ihm persönlich eigentlich nur darum, die Spieler mental und körperlich vorzubereiten. Als er mich angerufen hat, meinte er, dass es in seinem Staff niemanden gäbe, der sich mit den Spielern gut versteht und sie fußballerisch besser macht. Er habe gehört, dass auf mich beides zutrifft. Deshalb wollte er mich haben.

Andries Jonker mit Louis van Gaal und Hermann Gerland im August 2009.getty

Inwiefern hat sich die Zusammenarbeit mit Magath und van Gaal unterschieden?

Jonker: Sie verfolgen gänzlich unterschiedliche Philosophien. Bei Louis wusste ich Wochen im voraus genau, was an jedem Tag zu tun ist. Bei Felix musste ich jeden Tag nachfragen: Was machen wir morgen? Damit wollte er erreichen, dass jeder jeden Tag aufmerksam ist. In der Trainingsarbeit liegt der Fokus bei Louis im fußballerischen und bei Felix im physischen und mentalen Bereich

Nach Magaths Abschied arbeiteten Sie auch unter Lorenz-Günther Köstner und Dieter Hecking als Co-Trainer in Wolfsburg. Dann wechselten Sie in den Nachwuchsbereich des FC Arsenal, ehe Sie 2017 für ein halbes Jahr als Cheftrainer nach Wolfsburg zurückkehrten. Wie kam es dazu?

Jonker: Es waren noch viele Spieler von meiner ersten Zeit im Klub da. Sie sind offenbar zu den Bossen gegangen und haben gesagt, dass ich die perfekte Lösung als neuer Trainer wäre.

Sie übernahmen die Mannschaft auf Platz 14 und führten Sie über die Relegation zum Klassenerhalt.

Jonker: Wir hatten eine talentierte Truppe, leider hat aber keiner außer Mario Gomez Tore geschossen. Viele haben im Kopf um Europa gespielt, obwohl es nur gegen den Abstieg ging. Entscheidend für den Klassenerhalt waren letztlich kämpferische Typen wie Wollscheid, Guilavogui, Knoche, Gomez, Luiz Gustavo oder Benaglio.

Welche Erinnerungen haben Sie an die Relegation gegen den Rivalen Eintracht Braunschweig?

Jonker: Ich habe mich sehr über die Aggression in der Gegend gewundert. Damit hatte ich nicht gerechnet. Bei einem Training sind einige Frauen aufgetaucht, die ich noch nie gesehen hatte und die eigentlich nichts mit Fußball zu tun hatten. Sie haben mir erzählt, dass die Stimmung in ihrem Büro wegen des drohenden Abstiegs sehr angespannt ist, dass sie von Kollegen provoziert wurden und es fast zu einer Schlägerei gekommen ist. Deshalb haben sie von mir verlangt, dass ich einen Sieg verspreche. Ich habe gesagt, dass ich das gerne tun würde, aber nicht könne, weil es ein Spiel ist. Dann haben die Frauen angefangen zu weinen. In diesem Moment habe ich gespürt, wie wichtig es für die Stadt Wolfsburg war, diese Spiele zu überleben.

Im restlichen Deutschland werden gerne Witze über die vermeintliche Trostlosigkeit der Stadt Wolfsburg gemacht.

Jonker: Leute, die so etwas sagen, sind sehr verwöhnt. Es gibt in Wolfsburg alles, was man braucht - und viel schlechtere Orte auf der Welt.