Jetzt aber: Zeit für Verklärung

Mit seinem begeisternden Spiel gewann Becker unzählige Fans
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Auweia, jetzt ist Boris Becker 50 Jahre alt, dabei hat er doch erst gestern Wimbledon gewonnen, für immer 17-jährig und mit rosa Pausbacken. Viel Zeit ist vergangen, muss auch SPOX-Redakteur Oliver Wittenburg zugeben.

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Doch der Zauber des Sommers 1985 ist geblieben.

Ivan Lendl.

Der Beginn mag merkwürdig anmuten. Ist er auch, aber so war es nun mal.

Lendl hat mich für Tennis begeistert, und der Tatort hieß nicht Church Road, London, sondern Roland Garros, Paris. Ich war mit knapp zehn Jahren zum Fußball gekommen und mit zwölf zum Tennis. Am 10. Juni 1984 wünschte ich mir nichts mehr, als dass Lendl gewinnen möge, gewinnen gegen den unverschämt übermächtigen und unverschämt überheblichen John McEnroe.

Zwei Sätze lang hatte Großmaul McEnroe seinen Gegner am Nasenring durch die Arena gezogen, dann kippte das Spiel auf wundersame Weise und der lange belächelte Lendl triumphierte nach über vier Stunden unter dem Jubel der vorwiegend französischen Fans im Stadion, und meinem vor dem heimischen Fernseher.

Boris Becker spielt - und alle schauen zu

13 Monate später saß ich natürlich auch vor der Kiste. Dazu meine Mutter, die anders als ich "diesen Boris Becker" nicht wirklich verehrte, und mein kleiner Bruder, der da saß und zuguckte, weil ich zuguckte - und weil jeder zuguckte, was wir zwar nicht wussten, aber doch vermuteten.

In der Hand hielt ich einen Tennisschläger. Keinen echten, denn Tennis spielte damals kein Mensch. Zumindest kein Mensch in dem Ort, in dem ich aufwuchs. Wer nicht Fußball spielte, und Fußball spielten eigentlich alle, war im Schützenverein und/oder Blasorchester.

Mein Tennisschläger war schwarz und aus Plastik, wurde ausschließlich im Zweierpack und mit gelben Schaumstoffbällen verkauft.

Die Bälle in Wimbledon waren weiß. In der Theorie waren auch Beckers Klamotten weiß, doch warf er sich in den Dreck, was die wenigsten Tennisspieler taten, und jagte dann etwas derangiert, aber mit einer unnachahmlichen Besessenheit und Leidenschaft über den Platz.

Becker faszinierte mich, nahm mich ein. Ich fühlte mich ihm nah. Er war 17, ich schon 13. Das ist kein großer Unterschied. Kein Vergleich mit seinem knorrigen Gegner. Kevin Curren, 27 Jahre, aus Südafrika. Er hätte auch vom Mond kommen können. Ich guckte nur auf Becker. Mein Bruder guckte auf mich. Meine Mutter machte etwas Konversation. Mit wem eigentlich? Da war doch nur Boris. Wimbledon. Der letzte Aufschlag.

Über 30 Jahre ist das her und wenn ich an Boris Becker denke, dann denke ich immer zuerst und mit sehr warmen Gefühlen an jenen Sommer 1985 zurück. Der Beginn des Booms, des totalen Wahnsinns, dem auch ich mich nicht entziehen konnte, der mich aber irritierte und befremdete. Mich interessierte der Tennisspieler Becker. Oder präziser: der Tennis spielende Boris Becker. Und wie er spielte ...

Einen Monat nach Wimbledon verfolgte ich gebannt, wie er mit Amerikas Wunderkind Aaron Krickstein am Hamburger Rothenbaum den Platz abzog. Von links nach rechts, von rechts nach links, ganz nach Belieben. In Kricksteins Haut hätte ich nicht stecken mögen.

Und wenige Wochen danach wartete ich elektrisiert, wie offenbar der gesamte Rest der Welt, sehnsüchtig auf das Spiel aller Spiele: Becker gegen McEnroe. So hätte damals das Viertelfinale bei den US Open gelautet, zu dem es aber nicht kam.

Becker verlor eine Runde zuvor gegen einen faden, semmelblonden Schweden namens Joakim Nyström, der ihn mit einer Art Tennis-Catenaccio zum Wahnsinn trieb.

Becker spielte gruselig, grimassierte schauerlich, schimpfte, spuckte, wünschte sich selbst zum Teufel.

Es war faszinierend. Nicht weniger faszinierend als sein Wunder von Wimbledon, nicht weniger eindrücklich als sein Fabelspiel in Hamburg gegen Amerikas größtes Tennistalent.

Boris Becker und seine zwei Gesichter

Daran denke ich, wenn ich heute an Boris Becker denke. An einen mit fast schon entrückter Hingabe Tennis spielenden Jungen, der mich komplett in seinen Bann zog. Auf dem Platz war Becker im einen Moment unzerstörbar, der dominanteste, seine Gegner vernichtende, Spieler aller Zeiten - und kurz darauf ein verletzlicher, sich selbst bemitleidender und vor unbändiger Wut auf seine eigene Unvollkommenheit schier platzender kleiner Junge.

Er war 17, ich war 13 in diesem Sommer. Ich verstand ihn. Was ich nicht verstand, war der ganze Wirbel um ihn rum, abseits des Tennisplatzes. War das wirklich wichtig? Ihm ging es genauso, glaube ich. Er wollte nicht sein, was alle in ihm sahen. Wie hätte er auch? Er wollte nicht mitspielen, darin war er nicht gut. Ist es nie gewesen. Er wollte nur spielen.

Nach der Siegerehrung konnte es mir nicht schnell genug gehen, die Kiste auszuschalten und raus in den Hof zu kommen. Ein paar Bälle schlagen. Ein bisschen Becker spielen.

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